So nah und doch so fern
Ich sitze an deinem Bett, halte deine Hand und weiß nicht, wer du bist. Deine jungfräuliche Schönheit zieht mich an, der Kuss des Todes schreckt mich nicht ab. Deine Hände sind kalt, deine Augen sind geschlossen; ich weiß nicht welche Farbe deine Augen haben.
Man kennt mich hier, man weiß wer ich bin. Ich brauche keine Rechenschaft mehr ab zu legen, dich zu besuchen, bei dir zu sein. Meine Besuche bei dir sind zu meiner Routine geworden. Die Ärzte und Schwestern lächeln mir zu. Sie haben keine Hoffnung mehr für dich. Habe ich noch Hoffnung? Ich weiß es nicht. Dich zu besuchen, gehört zu mir wie das tägliche Atmen zum Leben.
Mein Praktikum hier im Krankenhaus liegt schon eineinhalb Jahre zurück. Jetzt bin ich kurz vor dem Abitur, sollte viel zu Hause lernen. Wie das Lernen, habe ich auch einen Großteil meines Alltags in dein Krankenzimmer verlegt. Mein Stundenplan ermöglicht es mir, dass ich den Nachmittag bis oft in die späten Abendstunden mit dir verbringen kann. Die üblichen Besuchszeiten gelten nicht mehr für mich. Ich gehöre wohl hier her wie jeder Arzt und jede Schwester.
Ich sitze an deinem Bett. Mache meine Hausaufgaben, diskutiere mit dir. Ich rede überhaupt sehr viel mit dir. Dabei sitze ich an deinem Bettrand, halte Deine Hand und versuche oft vergebens deine Frisur zurecht zu zupfen. Dir kann ich alles erzählen. Kein Widerspruch. Ich lese dir aus der Tageszeitung vor und oft gerne aus meinen unseren Büchern.
Es hat sich eine traute, aber einseitige Zweisamkeit entwickelt. Wenn ich jemals Freunde hatte, so bist du jetzt mein einziger. Meinen Alltag habe ich an deinen Bedürfnissen ausgerichtet.
Ich wurde auf dich aufmerksam, als du schon im Koma lagst. Mein Praktikum bestand leider oft darin Bettpfannen zu säubern. Ich kam in dein Zimmer, da lagst du noch mit anderen in einem Zimmer, und sammelte die Bettpfannen ein. Ich hatte mir als Praktikant vorgenommen, für jeden Patienten ein nettes Wort übrig zu haben. Als ich dich ansprechen wollte, sagte man mir, dass es zwecklos sei, du seiest wie tot. Ich sah dich an und sah einen schlafenden Prinzen. Vom ersten Augenblick spürte ich Zuneigung zu dir. Jetzt kannte ich dich. Von da an besuchte ich dich täglich. Erst saß ich nur an deinem Bett und schaute dich an. Später nahm ich auch deine Hand und fing an mit dir ganz selbstverständlich mich zu unterhalten. Den Ärzten und Schwestern fiel es positiv auf, dass sich jemand um dich kümmert. Mir fiel auf, dass dich außer mir keiner besuchte. Dein zuständiger Arzt erzählte mir, dass du ein unbekanntes Unfallopfer warst. Niemand hätte sich nach dir erkundigt, keiner hat auf die Aufrufe in Radio und Fernsehen reagiert. Man wusste auch deiner Namen nicht, denn du hattest keine Papiere bei dir. Ich fing an mir Namen für dich aus zu denken.
Nach meinem Praktikum besuchte ich dich weiter, es wurde wohlwollend vom Krankenhauspersonal aufgenommen. Nach und nach wurde alles dich betreffende an mich heran getragen. Ich wurde deine einzige Bezugsperson. Später erreichte ich auch, dass du ein Einzelzimmer bekamst. Das richtete ich dir liebevoll ein
Nun sind seit unserer ersten Begegnung eineinhalb Jahre vergangen und ich bin dir so nah und doch so fern… .