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So schön wie die Schwarzbunte
Nach Monaten sehen Kathrin und ich uns wieder. Die Zeit kratzt nie an unserer Vertrautheit, und das tut so gut.
Wir setzen uns mit einem dampfenden Kaffee an den eichenen, alten Küchentisch mit der großen Fuge, aus der ich bei längeren Diskussionen entweder mit einem Streichholz oder dem zurechtgebogenen Draht eines Sektkorkenverschlusses die Brotkrümel herauskratze.
Bevor wir uns gegenseitig das, was unser Herz und Gemüt bewegt, erzählen können, taucht Marcel auf.
„Hey Isa, schön, dich zu sehen“, strahlt er mich mit seiner frischen Herzlichkeit an und nimmt mich mit seinen vierzehn Jahren ohne pubertäres Geplänkel warm in seine Arme. Mittlerweile ist Kathrins Sohn einen halben Kopf größer als ich. Ich wuschele in seinem langen, festen Haar.
„Marcel, dein Haar sieht gut aus, überhaupt: Du siehst gut aus! Und so viel Mann bist du geworden!“ lache ich ihn an.
Wieder einmal ziehe ich den Hut vor meiner Freundin, die trotz steinigem Weg als Alleinerziehende dabei ist, Marcel und seine Schwester, zwei prächtige liebenswerte Menschen, so auf das Leben vorzubereiten. Wenn ich diese Kinder erlebe, wünsche ich mir, dass meine auch ähnlich wach und selbstbewusst werden.
Marcel macht es sich auf der Eckbank gemütlich, sieht mich offen an und fragt: „Und, Isa, wie lebst du so?“
Ich höre Marcel sprechen, sehe aber Thomas vor mir. Das ist neu und irritiert mich.
Ich wende mich Kathrin zu, die mich wissend ansieht: „Du siehst Thomas?“
Ich nicke und lächle.
„Gell, Isa, du warst mal mit Thomas zusammen, hat mir Mama erst jetzt mal erzählt...wie war er denn so?“
Marcel hat seinen Onkel nie kennengelernt.
„Er war so charmant wie du. Aber leider hatten wir beide den gleichen Dickkopf, da gab es oft Zoff“, erzähle ich ihm von der Zeit mit Thomas.
„Er war genauso umwerfend lieb wie taktlos. Den Gipfel seiner Unverschämtheit erlebte ich einmal auf einer Weide mit Schwarzbunten. Da sagte er zu mir: Die da hinten, die ist genauso schön wie du. Hat der Stoffel mich tatsächlich mit einer Kuh verglichen!“
Wir drei sitzen am Küchentisch und lachen; Kathrin und ich sentimental über eine der derben Zoten unseres geliebten Thomas, die ihn manchmal so unausstehlich machten und Marcel über den Vergleich.
„Wahrscheinlich hatte sie einen guten Bau und ein großes Euter“, mutmaßt Marcel fachmännisch.
„Beim Euter war sie sicher besser“, grinse ich.
„Oh...so habe ich das nicht gemeint“, entschuldigt sich Marcel lächelnd und mir wird immer mehr bewusst, wie ähnlich die zwei sich sind. „Und wieso habt ihr euch getrennt?“
„Das hört sich jetzt vielleicht hart an für dich und nimmt dir einige Vorstellungen, was Liebe und das ganze Tralala betrifft: Aber ich wollte keine Bäuerin werden. Ich kannte das Geschäft schon genügend durch unsere Obstplantage und die Reben...da gab es oft genug zu tun von Mai bis Oktober: Keinen freien Tag vor lauter Arbeit. Wenn dann noch Milchvieh dazukommt...nein, das wollte ich einfach nicht. Dazu war die Liebe nicht groß oder stark genug.“
Kathrin hat sich rauchend in ihren Stuhl zurückgelehnt und hört interessiert unserer Unterhaltung zu.
„Die Drachenfliegerei war auch so ein Ding. Da war ich immer Taxi, fuhr ihn den Blauen hoch, er segelte ewig bei guter Thermik in der Gegend rum und ich konnte wieder zum Landeplatz runterfahren, um ihn irgendwann abzuholen, ich blöde Kuh.“
„Isa“, warf Marcel grinsend ein, „jetzt vergleichst du dich ja auch mit Kühen“.
Wir mußten wieder lachen.
„Als ich ihm damals sagte, dass ich nicht mit ihm alt werden will, war es für uns beide klar, dass wir trotzdem unser Leben lang Freunde sein und auf irgend eine Art füreinander da sein werden.“
Nach einer kurzen Pause erzählte ich weiter: „Er raste mit Risiko durch sein Leben. Mit ihm Auto zu fahren war eine nervenaufreibende Sache. Einmal mussten wir deine Mama vom Freiburger Bahnhof abholen und wollten noch auf ein Konzert. Eigentlich braucht man ja ungefähr eine knappe halbe Stunde dahin. Er schaffte es in achtzehn Minuten. Frag’ nicht, wie ich in dem Auto saß.“
Wir sind kurz still.
„Das war auch der Grund mit dem Autounfall, aber das weißt du ja“, setze ich nach.
Kathrin war mit Marcel im achten Monat schwanger, als Thomas gegen einen Baum gefahren und sofort tot war. Marcel kam drei Wochen später auf die Welt und schrie die ersten zwei Lebensjahre nur dann nicht, wenn er Kathrin spüren konnte.
„Als ich von seinem Tod hörte“, fuhr ich fort, „kam ich mir verraten vor. Wir wollten doch unser Leben lang immer irgendwie etwas miteinander zu tun haben. Dann haut der Kerl einfach ab. Für immer - ich war sogar wütend auf ihn. Aber er ist da. Auch nach Jahren. Ich hatte letztens nachts wieder so eine Szene, bei der ich das gespürt habe. Da fuhr ich spät heim, ab durch die Wälder und Wiesen nach Hause. Plötzlich denke ich ohne bestimmten Grund an ihn. Wisst ihr, ich hatte vorher keine Gedanken an ihn, es war nichts, was mich direkt an ihn erinnert hätte, er war einfach da, als wenn er neben mir sitzen würde.“
„Und dann?“, fragt mich Kathrin gespannt.
„Ich fuhr recht schnell, weil es eine gut ausgebaute Strecke war. Er war plötzlich so nah, so intensiv bei mir, dass ich einfach abgebremst habe. Sekunden später rannten drei Rehe in Sichtweite vor mir über die Straße.“
„Er passt auf dich auf“, resümiert Marcel, „sicher dein Leben lang.“
„Ja, vielleicht, das wirst du ja mitbekommen“, lächle ich ihn an.
„Marcel, ich habe einige Briefe von ihm, die suche mal raus und falls ich jugendfreie finde, gebe ich sie dir zum Lesen.“
„Falls sie nicht jugendfrei sind, bekomme ich sie dann mit achtzehn?“
„Nein, denn das, was da zu lesen ist, musst du selber erleben.“
Er küsst mich auf die Wange und sagt mir, dass er eher was anderes arbeiten würde, als seine Freundin zu verlieren.
Kathrin und ich sehen uns an und lassen ihm noch diese Illusion.