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So sinnlos
oder
Das Geheimnis der toten Bienen
Er verharrte nun schon seit etwa drei Stunden im Dunkeln, auf sein Opfer wartend. Er wusste nicht genau, auf was er wartete, aber wenn er es gefunden hatte, würde er es wissen. In seinen Händen befand sich ein Gewehr, dass sich seit acht Generationen in seiner Familie befand. Anfangs hielt er es für unnötig, es mit sich rumzutragen, aber inzwischen hatte er angefangen, die Zeichen zu deuten. Alles hatte ganz harmlos angefangen. Beinahe schon zu harmlos.
Er war wie jeden Morgen aufgestanden. Daran hätte er schon erkennen müssen, dass ihm etwas bevorstand; aber er tat es als Nichtigkeit ab. Er machte sich sein Frühstück und irgendwie war alles so wie immer. Aber trotzdem ignorierte er das Offensichtliche. Hätte er doch nur früher reagiert, dann müsste er sich jetzt nicht die halbe Nacht um die Ohren schlagen.
Als er sein Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, und die Haustür hinter sich schloss, schien die Sonne. Jetzt verfluchte er sich in Gedanken dafür, dass er nicht spätestens hier stutzig geworden war.
Während er arbeitete geschah nichts Ungewöhnliches. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er das zu diesem Zeitpunkt nicht unheimlich fand. Dann fiel ihm wieder ein, warum dem nicht so gewesen war: Als er bei seiner Arbeitsstelle ankam, hatte sich auf seinem Schreibtisch eine tote Biene befunden, deshalb war er auch so beruhigt gewesen.
Nach Feierabend begab er sich gen Heimat und dachte an nichts Schönes – bis er vor seiner Haustür angekommen war. Dort kam ihm wieder die Erinnerung an jenen Sommer, der schon viel zu lange her war. Er hatte sich endlich getraut, Natalie, das begehrteste Mädchen in der Klasse, zu fragen, ob sie mit ihm gehen wolle. Sie hatte ihn ausgelacht, vor der ganzen Klasse. Dass sie ihn abgewiesen hatte störte ihn nicht (er hatte sie sowieso nur gefragt, weil er eine Wette verloren hatte), nur die Schmach, vor der Klasse gedemütigt worden zu sein, brannte hart in seinem Herzen. Er nahm sich vor, Natalie umzubringen. Dass tat er nicht deshalb, weil er etwa dachte: ‚Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie keiner haben’, sondern weil er dachte: ‚Wenn sie mich abweist, weist sie jeden ab, und dass kann ich keinem Jungen antun, sie am Leben zu lassen, damit sie noch mehr Leute kränkt!’ So reifte also dieser Plan in ihm.
Aber dann passierte etwas, was ihn seinen Plan revidieren ließ:
Natalie kam zu ihm und entschuldigte sich dafür, dass sie ihn ausgelacht hatte; sie hatte nämlich gedacht, dass er sie nur verhohnepipeln wollte. Sie fragte:
„War es dir wirklich Ernst?“
„Nein, ich hatte nur eine Wette verloren, und musste dich deshalb fragen.“
Als er das gesagt hatte, hätte er sich am liebsten die Zunge rausgerissen, durch den Fleischwolf gedreht, die Überreste verbrannt und die Asche aus einem Flugzeug über dem Pazifik verteilt. Oder über den Atlantik.
„Was für eine Wette?“
„Wir haben gewettet, dass ich mich nicht traue, dir meine Liebe zu gestehen, und ich habe mich nicht getraut, also musste ich dich fragen, ob du mit mir gehen willst.“
„Das ist das Romantischste, was ich je gehört habe! Ich hätte ja auch schon vorher zugesagt, aber ich habe in der Klasse einen gewissen Ruf zu wahren und musste dich deshalb ablehnen. Aber jetzt sind wir alleine, du kannst mich gerne...“
„Ficken?“ Der Ozean war noch viel zu gut für seine Zunge.
„Das sowieso, aber ich meinte, mich gerne noch einmal fragen.“
„Was?“
„Ob ich deine Angetraute werden will.“
„Wieso solltest du das wollen? Oder wieso sollte ich das wollen?“
„Öh, null Ahnung? Du hast doch mit dem Scheiß angefangen. Und denk doch mal an die Vorteile: Du könntest mich legal ficken.“
„Oh, hallo, da kommt man doch ins Geschäft. Okay, willst du?“
„Was?“
„Meine Frau werden?“
„Bist du verrückt? Wir sind erst in der vierten Klasse!“
Moment mal! Sein Gedächtnis musste ihm einen Streich spielen. Aber warum sollte es? Es war doch sein eigenes. Jedenfalls erinnerte er sich daran, sich daran zu erinnern, dass er in der zehnten Klasse mit Natalie ausgegangen war. Um halb zwölf kamen sie vor seiner Haustür an. Die Grillen zirpten und der Mond schien.
„Das war der schönste Tag meines Lebens“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Sie sahen sich gegenseitig in die Augen. Na ja, weil es so dunkel war, riskierte er einen langen Blick auf ihre prallen, festen Brüste, von dem sie nichts mitbekam, weil sie sich auf seinen Schritt konzentrierte und sich fragte, wie viel sich dort befinden würde.
Plötzlich fühlten sich beide ertappt und schauten dem Anderen wieder in die Augen, beide froh darüber, dass der Andere nicht bemerkt zu haben schien, dass der eigene Blick woanders weilte. Dann spitzten sich ihre Lippen, ihre Köpfe bewegten sich aufeinander zu und...
„Ahhhhhhhhh!“
Sie fiel zu Boden.
Der herbeigerufene Notarzt würde später feststellen, dass sie an einem Herzinfarkt gestorben war.
Wieder einmal sah er seine These, dass das Leben unfair war, bestätigt. Wie konnte jemand mit solch perfekten Brüsten sterben, bevor er diese berühren konnte? Obwohl, bis der Notarzt eintreffen würde, war dazu ja noch genügend Zeit.
Als er gerade beim schönsten Antatschen war, öffnete Natalie ihre Augen.
„Natalie... Deine Brüste fühlen sich so komisch an!“
„Das kommt nur daher, dass sie echt sind.“ Dann schloss sie ihre Augen für immer.
Als er also vor seiner Haustür aus seinen Gedanken an damals aufschreckte, sah er auf dem Wegchen zwischen Straße und Haustür eine tote Biene. Er betrachtete sie misstrauisch. Sie war noch ziemlich jung. Das gelbe Fell war kaum mehr als ein Flaum. Er hob seine Aktentasche und hieb mehrere Male auf das Insekt ein, bis er sicher sein konnte, dass es sich nicht mehr regte.
Er schloss seine Haustür auf und trat ein. Dann rannte er in den Keller und lud sein Gewehr durch. Er schloss die Kellertür ab und wartete im Dunkeln. Er hatte nun schon drei Stunden gewartet. Er wusste nicht genau, auf was er wartete, aber wenn er es gefunden hatte, würde er es wissen.
Neben ihm lag eine tote Biene. Sie war noch ziemlich jung. Das gelbe Fell war kaum mehr als ein Flaum.
Tserk
17.04.2005, 17 Uhr 30 bis 18 Uhr 18