So what?
Prolog, 20. März
Der Tag, an dem Moshraf starb, hätte sein Glückstag werden sollen. Zum ersten Mal durfte der Enkel den Großvater während des Abendgebets vertreten. Stolz zog er den Karren die Straße entlang. Der süße Duft der Datteln versetzte ihn in eine entrückte Hochstimmung. Moshraf war viel zu sehr mit seiner neuen Rolle beschäftigt, als dass ihm in dem lang gezogenen Lichtstreif, den die untergehende Sonne über die Stadt warf, ein silberner Fleck aufgefallen wäre. Ein Pünktchen erst nur, ein Punkt dann, der sich zum Körper auswuchs, zum wütenden Flugdrachen. Das Himmelswesen flog wie an einer Schnur gezogen über den Häusergipfeln des Stadtrand ein, senkte sich erst zwei Straßenzüge entfernt, hielt auf das Restaurant auf der gegenüber liegenden Straßenseite zu, stieß gegen seine Fassade und explodierte. Das letzte, was Moshrafs staunenden Augen erblickten, war eine gleißende, orangefarbene Fontäne, die gefräßig auf ihn zuraste. Hätte Moshraf Druckwelle und Steinhagel überlebt, die dem Aufschlag folgten, wäre er erstaunt gewesen zu sehen, wie sich Sekunden später ein zweiter, weit schwererer Flugkörper präzise in den gerade erst entstandenen Trichter bohrte und eine Detonation verursachte, die seinen Vorgänger wie einen Knallfrosch erscheinen ließ. Sie ebnete das Gebäude bis auf die Grundmauern ein und hinterließ ein qualmendes Gewirr von verbogenen Stahlträgern und Mauerresten.
Keiner der Gesuchten hatte sich im Haus aufgehalten. Weil überhaupt kein Mensch darin gewesen war. Und das lag auf der Hand, denn während das Restaurant seit Wochen geschlossen hatte, war das Obergeschoss bereits seit Jahren mit Brettern vernagelt und folglich unbewohnt. Moshraf hätte es den anderen sagen können. Aber welcher Geheimdienst befragte einen Achtjährigen?
Unter den Trümmern begraben lag ein verkohltes Bündel aus Fleisch, Knochen und Kleidungsresten. Die Befreiung hatte begonnen.
Freitag, 21. November
Als Lilo die Augen aufmachte, hatte sie Mühe sich zu orientieren. Alles war schwarz, nur ein fader, grünlicher Schimmer drang aus der offenen Cockpittür in den Frachtraum. Benommen setzte sie das Puzzle zusammen. Transall. Hilfsgüter. Fotoreportage. Das gleichmäßige Brummen der Rolls-Royce-Triebwerke hatte sie schon kurz nach dem Start einnicken lassen. Kein Wunder, denn sie war fix und fertig gewesen, als endlich alle Formalitäten erledigt waren und sie den NATO-Flughafen bei Kopenhagen erreicht hatte. Nicht zu vergessen ihr Marathonauftritt in Gerds Büro. Stundenlang hatte sie auf ihn eingequatscht, bis aus dem Bedenkenträger ein Auftraggeber geworden war. Um als Frau allein in ein Kriegsgebiet geschickt zu werden, bedurfte es guter Argumente. Lilo verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. Zum Glück ging es hier ja nur darum, die Lieferung von 3 Tonnen medizinischer Ausrüstung zu dokumentieren. Hinfliegen, Bilder von Weißkitteln und matt lächelnden Patienten schießen, zurückfliegen. Vor Ort immer schön am Händchen von Uncle Sam. So what?
Wie in Kriegsgebieten üblich, verkürzte der Pilot den Landeanflug drastisch, indem er die Maschine sehr spät, dann aber mit Macht nach unten drückte. Während Lilo ihre Fototasche umklammerte, drohte ihr Magen zu revoltieren. Prompt drehte sich der Copilot zu ihr um und grinste sie herausfordernd an. Lilo steckte sich einen Kaugummi in den Mund und hielt seinem Blick stand.
Keine fünf Minuten, nachdem die Maschine auf der Landebahn des gespenstisch verdunkelten Flughafens aufgesetzt hatte, befanden sich die Kisten und Kartons aus dem Bauch der Transall auf einem Pritschenwagen. Auf der ausgestorbenen Zufahrtstraße rasten sie in die Stadt.
Im Keller des Palestine, der zum Senderaum und zur Notunterkunft umfunktioniert worden war, traf Lilo die üblichen Verdächtigen. Bruno, den durchgeknallten Bretonen mit seinem schauderhaft genäselten Englisch. George von NBC, der bei jedem Einsatz eine Bibel mitführte und nun gerade einen Live-Kommentar in seine Heimat sendete, für den er sich bildschirmfüllend im Jackett präsentierte, unterhalb des Bildausschnitts jedoch eine abstruse Jogginghose und weiße Ringelsocken ohne Schuhe trug. Und natürlich Francis aus Durban, den rasenden Reporter in Sachen Not und Elend. Als er Lilo bemerkte, hielt er ihr fröhlich eine angebrochene Whiskyflasche entgegen. „Willkommen im Männergesangverein!“ Lilo nahm einen Schluck, ging nach kurzem Smalltalk mit ihren Kollegen jedoch auf ihr Zimmer. Francis riet ihr im Keller zu übernachten. „Ich bin seit einer Woche hier, und es kracht fast jede Nacht irgendwo in der Nähe“, warnte er sie. Doch Lilo verspürte kein Verlangen nach kaltem Männerschweiß und rechnete sich in ihrem Zimmer bessere Chancen auf ein paar Stunden Schlaf aus. Außerdem hatte sie sich wie die meisten einen bequemen Fatalismus zueigen gemacht. „Wen es erwischen soll, den erwischt es“, lautete die nüchterne Devise. Risiken mussten abgewogen werden, jeden Tag aufs neue, Vorsicht war lebensnotwendig, bot aber keine Garantie. Verdammt, letzten Endes war es ein Roulettespiel. Christian war vor der Stadt ums Leben gekommen, als er sich gegen das offenkundige Risiko und für die vermeintliche Sicherheit entschieden hatte. Sogar hier im Hotel hatten am 8. April zwei Kollegen, Taras und Josè, mit dem Leben dafür bezahlen müssen, dass sie auf den Balkon getreten waren und dort ihre Teleobjektive aufgebaut hatten: Die anrückenden Panzerfahrer hatten sie nach eigenen Angaben für feindliche Granatwerfer gehalten.
Im achten Stock angekommen, trat Lilo in ihr Zimmer. Sie rückte den Schreibtisch vom Fenster ab, nahm das Bettzeug von der Matratze und richtete sich unter dem Tisch ihr Nachtlager ein. Dann verteilte sie ihr Handgepäck nebeneinander auf der Matratze, legte die Fototasche in Kopfhöhe ab und breitete über der so entstandenen Figur eine Wolldecke aus. Natürlich wusste sie, dass ihr albernes Täuschungsmanöver nächtliche Eindringlinge im besten Fall eine Zehntelsekunde ablenken würde. Aber es half ihr wie immer beim Einschlafen.
Das mit dem Eselskarren hätte dem Jungen gefallen, dachte der grauhaarige Mann bitter, als er vor der Absperrung Halt machte. Dieses Mal beförderte er keine Datteln. Seine Fracht bestand aus mit Lumpen und Planen verdeckten Röhren, wirren Drähten, einer Autobatterie und einem Wecker. Die Männer hatten ihm genau erklärt, was zu tun war.
Samstag, 22. November
Beim ersten Einschlag klirrte es gewaltig. Lilo fuhr aus dem Schlaf hoch und stieß im Dunkeln mit dem Kopf gegen die Tischplatte. Gleichzeitig rummste es erneut, dieses Mal heftiger, gleich über ihr, und das ganze Gebäude zitterte wie von einer Riesenfaust durchgeschüttelt. Einen Sekundenbruchteil hatte Lilo die groteske Vorstellung, mit ihrem Kopfstoß die Erschütterungen selbst ausgelöst zu haben.
Totenstille. Dann Schreie, Fluche. Lilo schaltete ihre Maglite an und richtete sie auf ihre Armbanduhr. Um die Zeiger erkennen zu können, musste sie die Glasabdeckung von Staub befreien. Fünf Uhr. Draußen im Gang herrschte mit einmal hektischer Betrieb. Türen wurden geöffnet und zugeschlagen. Heisere Männerstimmen ertönten. Lilo rappelte sich auf, ging zur Tür und betätigte den Lichtschalter. Das kurze Flackern der Deckenlampe ließ sie aufschauen. Ungläubig betrachtete sie die in einem Krater aus Putz und Mörtel baumelnde Glühbirne. Aus der Decke hatte sich ein bratpfannengroßes Stück Mauerwerk gelöst, dessen gezackte Bruchstücke in dem schmalen Pfad zwischen Bett und improvisiertem Nachtlager gelandet waren. Instinktiv inspizierte sie ihre Ausrüstung. Intakt.
Jemand klopfte an die Tür.
„Madam, die Direktion entschuldigt sich in aller Form für die Unannehmlichkeiten, die Ihnen durch die Flatulenz eines Gastes im neunten Stock entstanden sein könnten!“ Francis grinste sie durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür an. Dabei wedelte er erneut mit der Whiskyflasche vor ihr herum. Anscheinend war er mit ihr zu Bett gegangen. Sein zerknittertes Gesicht ließ allerdings Zweifel daran aufkommen, ob er überhaupt geschlafen hatte. Etwas in Lilos Gesichtsausdruck ließ ihn innehalten. Er schaute an ihr vorbei und ließ seinen Blick von der Decke zum Fußboden gleiten. „Uups.“
Francis nahm einen kräftigen Schluck. Dann schaute er sie an. Sein Tonfall änderte sich schlagartig. „Mein Vater hat immer gesagt, ich soll mir einen anständigen Job in Durban suchen“, sagte er leise. „>Wer ständig in die Weltgeschichte fährt um Scheiße zu fotografieren, kommt selbst mit Scheiße im Kopf zurück<“, hat mein alter Herr immer gesagt.“ Er legte eine Pause ein. „Mein Dad ist nie aus Südafrika raus. Bodenständiger Typ. Hat sein ganzes Leben malocht. Zwei Wochen nach der Pensionierung hat er den Löffel abgegeben. Einfach so. Herzstillstand, umgefallen, tot. So viel zum Thema anständiger Job.“
Die Lobby war ein Bienenstock. Hotelangestellte rannten hin und her, um Anweisungen auszuführen. Zwei von ihnen begleiteten einen blutüberströmten, offenkundig vom Glasregen verletzten Mann aus dem Gebäude hinaus zu einem dort wartenden Krankenwagen. Vor dem Eingang hatten zwei Sherman-Panzer Stellung bezogen. Unter den Ausländern im Empfangsbereich herrschte eine merkwürdig aufgekratzte Stimmung. Der Anblick stacheliger Männerbeine in karierten Schlafanzughosen führte Lilo einen Augenblick in Versuchung, eine Aufnahme zu machen. Sie verwarf den Gedanken so rasch wie er gekommen war. Sie war hier, um einen Job zu erledigen. Jemand hatte ihr Hotel ins Visier genommen, damit aber keinen nennenswerten Erfolg gehabt. So what?
„Der Arsch eines Esels hat uns den Arsch gerettet!“ Francis, Bruno und ein weiterer Bildjournalist kamen von draußen in die Lobby gestürmt. Im Schutz einer Militärpatrouille hatten sie den zusammengebastelten Granatwerfer inspiziert. „Er befand sich auf einem Eselskarren mit insgesamt acht Geschossen“, berichtete Bruno. „Die beiden Raketen haben den Esel am Hintern versengt, der hat vor Schmerzen den Karren umgeworfen, und da sind die anderen sechs nicht mehr losgegangen.“ „Leute, trinken wir auf den Arsch des Esels!“ George hob den Zahnputzbecher, den er aus seinem Zimmer mitgebracht hatte. „Auf unseren Glücksesel!“, stimmte ein elegant gekleideter Mann mit bleichem Gesicht ein, der sich einen Diplomatenkoffer ans Handgelenk gekettet hatte. Schlafen wollte jetzt niemand mehr.
Kurz nach acht traf ihre Eskorte ein; sie bestand aus zwei Humvees und dem Lastwagen selbst. Die Fahrzeuge hielten vor dem Eingang des Hotels, die Motoren blieben eingeschaltet, ohne dass jemand ausgestiegen wäre. Man hörte das Fiepen von Funkgeräten. Endlich beugte sich ein Soldat in voller Montur und tiefschwarzer Sonnenbrille von der Ladefläche des mit grünen Planen verhangenen Lastwagens zu Lilo herab und streckte eine Hand aus, um sie hochzuziehen. „Let’s go for the show, Lady.“ Lilo setzte sich ihm gegenüber auf eine Kiste mit Antibiotika. Francis schaute ihr vom Hoteleingang aus hinterher und formte zum Abschied zwei Finger der rechten Hand zum Peace-Zeichen. Als sich die Wagen in Bewegung setzten, reichte ihr der junge Soldat Helm und Weste. „You’d better put your gear on, lady.“ Lilo atmete tief durch. Hinfahren, knipsen, zurückfliegen. So what?
Kurz vor einer breiten Straßenkreuzung hielt der Konvoi abrupt an. Funkgeräte plärrten. Das dumpfe Geräusch schwerer Stiefel ertönte. Waffen wurden entsichert. Jemand, offenbar der Befehlshaber, bellte Anweisungen. Instinktiv schaute Lilo den Jungen an, der Kaugummi kauend vor ihr saß und selbst im Halbdunkel der Plane die Sonnenbrille nicht abgenommen hatte.
„We’re gonna check a house over there“, erklärte ihr Gegenüber. „We’ve got information of gunshots“, fügte er hinzu und sprang aus dem Wagen.
Ohne zu überlegen nahm Lilo ihre Kamera und stieg ebenfalls aus. Ihre Augen benötigten einen Moment, um sich an das Tageslicht zu gewöhnen. Die Straße war menschenleer. Mit der Maschinenpistole im Anschlag überquerten die Soldaten die Kreuzung und hielten auf ein Gebäude zu. Ihr Begleiter, der die Nachhut des Trupps bildete, wandte sich Lilo kurz zu und raunte: „Just stay behind lady, okay?“
Es war das falsche Haus. Auf halbem Weg über die Kreuzung brach die Hölle aus. Aber nicht von vorn, sondern von hinten. Maschinenpistolen ratterten los. Kugeln zischten an ihnen vorbei. Lilo sah noch, wie die Soldaten vor ihr herumwirbelten und das Feuer erwiderten, so dass sie genau in der Schusslinie stand. Dann verspürte sie Schläge auf Brust und Rippen, so heftig, dass sie nach hinten umknickte und ihr Gleichgewicht verlor. Sie schrie auf, ließ die Kamera los und fiel, und um sie herum ging die Welt unter.
Und da war er wieder, der Geruch von Heu, ihr Vater, der seiner vierjährigen Tochter beschwörend etwas zurief, das sie nicht verstand, ihre Brüder, die unten in der Scheune mit weit aufgerissenen Augen zu ihr hochsahen, wie sich die Pyramide der hoch gestapelten Ballen verschob und neigte und kippte und stürzte und sie mitnahm auf einen Flug, der nicht enden wollte, so wenig wie ihr Schreien, ihre Angst, ihre Tränen.
Lilo schlug hart mit dem Rücken auf, rollte sich dann instinktiv auf den Bauch und blieb so, auf den staubigen Asphalt gepresst, reglos liegen. Ihre Rippen schmerzten, als hätten sie einen Stiefeltritt abbekommen. Aber sie lebte. Weil sie die verdammte Weste anhatte. Und weil der Krieg jetzt einen Meter über ihr tobte.
Ihr Helm war verrutscht und schränkte ihr ohnehin begrenztes Sichtfeld weiter ein. Millimeterweise drehte sie den Kopf, um einen Blick auf das zu bekommen, was um sie herum vorging.
Keine zwei Meter neben ihr lag der junge GI aus dem Lastwagen. Die Sonnenbrille hatte er verloren, und seine Augen waren auf Lilo gerichtet. Dann sagte er etwas in ihre Richtung. Der wütende Schusswechsel hielt fast ununterbrochen an, und nur weil gerade eine kleine Pause entstanden war, in der seine Kameraden sich Kommandos zubrüllten, drangen Wortfetzen zu ihr herüber. „Jesus Christ“, hörte sie. „Gotta get the hell out of here.“ Und: „Jesus Christ. Don’t let me die like this.“
Dann begann er sich aufzurichten.
Lilo verkrampfte sich am ganzen Körper. Sie wollte ihn anschreien, doch ihre Kehle war völlig trocken, so dass ihr nur ein heiserer Laut über die Lippen kam. „Don’t!“, krächzte sie. „Stay put!“ Er hatte noch nicht einmal eine gebückte Position erreicht, als ihn eine neuerliche Salve traf und umriss.
Wieder lag er neben ihr, näher noch als zuvor, und wieder schaute er sie mit seinen glänzenden, blauen Augen an. Die Kugel war zwischen dem Kragen seiner Kevlarweste und dem Helmrand eingetreten. Es war jedoch nicht der Anblick der Wunde oder des ausströmenden Bluts, der sich in Lilos Gehirn einbrannte. Es war die Verzweiflung im Blick des Jungen, die Einsamkeit, die Ohnmacht.
Er öffnete die Lippen und hauchte ihr fast unhörbar noch etwas zu. Dann starb er. Und schaute sie weiter an.
Panik kam in ihr auf. Mit aller Macht zwang sie sich dazu reglos zu verharren, während über ihr Tausende Kugeln die Luft zerschnitten. Warum, warum, warum war sie diesen Weg gegangen? Mit achtzehn hatte sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten und technische Zeichnerin werden wollen. Mit zwanzig Werbegrafikerin. Mit fünfundzwanzig Modephotographin. Alles hatte sie nach einer Zeit gelangweilt. Und nun lag sie viele Tausend Kilometer von zu Hause auf der Straße und erwartete ... die Strafe?
Ihr Vater, jetzt alt und schon von der Krankheit gezeichnet, schaute sie müde an. Etwas Vorwurfsvolles lag in seinem Blick. Oder bildete sie sich das ein? Sie sah Gerd, wie er in seiner Bildagentur am Imac saß, daneben der rosarote Plüschesel, den seine Tochter Carla ihm geschenkt hatte. Er würde es sich nie verzeihen, ihrem Drängen nachgegeben und sie losgeschickt zu haben. Und dann lag sie neben Hans-Georg, nackt, strich ihm über das Haar, ließ ihre Nase über seinen Nacken gleiten und wunderte sich über sich selbst, dass sie einen Mann, den sie erst vor zwei Wochen über eine Kontaktanzeige kennen gelernt hatte, so schnell ins Bett verfrachtet hatte. Als hätte sie geahnt, dass es ein einmaliges Erlebnis bleiben würde. Zumindest diese Entscheidung bereute sie nicht.
Sie hörte es quietschen und rasseln. Das Funkgerät des Toten an ihrer Seite begann zu plärren. Lilo verstand kein Wort, verstand erst, als das Rasseln der Ketten verebbte und die Geschütze der Panzer ihre Ladung auf das Haus spuckten, aus dem gefeuert worden war, immer wieder, und erst damit aufhörten, als kein Haus mehr dort stand.
Stimmen näherten sich ihr, unterdrückte Schreie. Lilo lauschte. Als sie sicher war, die Sprache ihrer Begleiter zu vernehmen, richtete sie sich auf, quälend langsam. Sie sah zwei Soldaten über sich. Die beiden sanken neben ihrem Kameraden auf die Knie und legte ihre Waffen ab. Sie weinten.
Der Rest war Trance, war ein Film, den sie mehr anschaute, als dass sie an ihm beteiligt gewesen wäre. Die Übergabe der Hilfsgüter an zwei Ärzte mit rot verschmierten Kitteln, amputierte, notdürftig bandagierte Kinder, die tapfer-traurig in die Kamera lächelten, schmuddelige Patientenzimmer, in denen kein einziger männlicher Erwachsener zu sehen war, der Heimflug, ihre SMS „Ich hasse es, wenn man auf mich schießt!“ an Gerd, der sie im Flughafengebäude erwartete, erst verlegen anschaute, dann unbeholfen knuffte und schließlich so fest an sich drückte, dass sie aufschrie, worauf er erschrocken seinen Griff löste und sie beide lachen mussten und sich an die Bar setzten und viel zu viel Wodka tranken und sie unendlich froh war, dass er ihr keine Fragen stellte und sie mit dem Taxi in die Agentur fuhren und dabei Nachrichten hörten und als die Meldung kam der Fahrer einen Musiksender suchte und dabei genervt erklärte, er könne es nicht mehr hören und um manche Länder solle man einfach einen Scheißzaun bauen. So what?