Soave Fisch und Fotoalbum
Es ist schwierig, in einem Alter, in dem die Kinder längst hätten flügge sein können, wenn man welche hätte, einen Mann kennenzulernen. Nicht einmal eine langjährige Ehe habe ich als gescheitert vorzuweisen. Keine Ehe, keine Kinder. Aber mit beiden Beinen fest im Berufsleben und unabhängig. Das schreckt jeden Mitvierziger ab, sofern er seriös ist.
Wo sollte man da ( rein theoretisch!) ansetzen bei Männern, die das alles thematisieren möchten, wenn sie auf der Suche nach einem neuen Unglück in Cafes und Kneipen auftauchen und sofort an der Theke Platz nehmen, um zu demonstrieren: ich bin solo, an einem Tisch würde ich nur in Begleitung Platz nehmen.
Seitdem ich in Vellmar lebe, gehe ich sowieso kaum noch aus, nicht weil es dort keine Kneipen gäbe, aber ich ziehe es vor, abends durch den Ahnepark zu laufen oder mit dem Rad durch die Felder zu fahren.
Ich weiß nicht, warum meine Freundin Katja mir seit Jahren einredet, ich solle mich endlich bemühen, bevor es zu spät ist. Was heißt schon, zu spät? Bisher habe ich einfach keine Zeit gehabt. Das heißt nicht, dass ich Männer grundsätzlich verschmäht hätte, aber spätestens nach dem dritten Blumenstrauß schien es mir angebracht, ein Verhältnis zu beenden.
Nach dem dritten Blumenstrauß wird es eng. Und Karrierefrau war für mich kein Schimpfwort.
Du hast Angst vor Männern, behauptet Katja, aber das stimmt nicht. Ich habe Angst einen Mann bemuttern zu müssen, wie Katja es macht. Das liegt mir nicht, ich habe nicht einmal ein Patenkind. Aber es gibt ja auch andere Männer. Leider verstecken sie sich und sitzen nur selten im Cafe´.
Warum denke ich das jetzt alles? Vielleicht, weil mir der Mann gefällt, der neben mir mit zwei sicheren Handbewegungen den Verschluss der Einkaufswagenkette am Herkulesmarkt löst, während ich in meiner Tasche vergeblich ein passendes Eurostück suche. Da musste doch irgendwo auch dieser Plastikchip sein...
Nein, es stimmt nicht, der Mann neben mir kann mir gar nicht gefallen, ich habe nicht einmal sein Gesicht gesehen. Es sind seine Hände, die mir gefallen, schlanke, feingliedrige Finger mit gepflegten Nägeln, die die optimale Länge haben. Und er ist groß.
Das ist wichtig. Ich meine beides, die Hände und die Größe. Die meisten Männer sind kleiner als ich. Für mich ist das tatsächlich ein Problem.
Der Mann zieht seinen Einkaufswagen aus der Blechschlange. Er trägt einen Kaschmirmantel. Gut geschnitten, etwas heller als die graumelierten Haare. Nun geht er und ich werde sein Gesicht nicht sehen wenn ich ihm nicht nachlaufe, sei es auch ohne Einkaufswagen.
Nein, dazu werde ich mich nicht hinreißen lassen. Das wäre ja lächerlich.
Trotzdem, einen leisen Fluch kann ich nicht unterdrücken, aber das ist nur, weil ich weder Chip noch das Eurostück finden kann.
Ich habe mir schon vor Jahren angewöhnt, auf französisch zu fluchen, das ist nicht so drastisch und für deutsche Ohren erträglich. Wenn man sich Mühe gibt, kann man sogar recht melodiös fluchen.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Das Gesicht stimmt auch. Es sieht mich fragend an und dann lächelt es auch noch.
„Haben Sie zufällig einen Plastikchip übrig?“
„Nein, aber einen Euro.“
Der Mann reicht mir das Geldstück und ich bemerke, dass er keinen Ehering trägt. Trotzdem, solche Männer sind verheiratet oder haben eine Ehe hinter sich. Also vergiss es und erledige deinen monatlichen Großeinkauf.
„Ich kann Ihnen wechseln...“Der Mann dreht mir den Rücken zu und verschwindet im Supermarkt.
Dann eben nicht.
Ich nehme mir Zeit bei der Auswahl von Käse, Obst und Gemüse, der Rest ist reine Routine. Am Weinregal bin ich unsicher. Trocken ist klar, aber welche Sorte? Und brauche ich überhaupt Wein? Nein, ich erwarte zur Zeit keinen Besuch. Trotzdem, nun bin ich einmal hier.
Ich greife etwas unsicher nach einem französischen Rotwein mittlerer Preisklasse.
„Wenn Sie sich etwas Gutes antun wollen, dann nehmen Sie den hier.“ Das ist die Stimme von vorhin. Ich drehe mich um und schaue in dunkelbraune Augen. Was soll ich sagen?
Ich versuche zu lächeln, aber bestimmt gucke ich blöd.
Der Mann setzt sich eine Brille auf und studiert die Etiketten sämtlicher Flaschen im oberen Regal. Dabei hält er mir einen Vortrag über Anbaugebiete im südlichen Europa.
„Ich will Sie nicht aufhalten...“
„Sie halten mich nicht auf.“
„Aber Sie geben sich Mühe und ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt einen Wein einkaufen will.“ Dummerweise erkläre ich auch noch, dass ich keinen Anlass habe, welchen zu trinken.
Der Mann schaut mich an und scheint für eine Sekunde zu überlegen.
„Haben Sie es eilig?“
Wenn es überhaupt kluge Fragen gibt, dann war es eine davon.
Sage ich ja, dann weiß er, dass er keine Chance hat, seinen Vortrag zu verlängern. Sage ich nein, dann weiß er zwar nicht unbedingt, dass ich berufstätig bin, aber er weiß zumindest, dass ich keine Familie habe mit der ich jetzt zu Mittag essen muss.
Er aber auch nicht, also geschieden.
Ich sage trotzdem nein.
„Am Rathausplatz gibt es ein nettes Lokal, da können Sie mal vorkosten und dann können Sie sich ja immer noch entscheiden. Ich lade Sie ein.“
Halbes Stündchen hat er gesagt, aber nun sitzen wir bereits über eine Stunde hier, haben ein Glas Wein verkostet und sind bei der zweiten Tasse Kaffee angelangt.
Der Mann heißt Paul, ist Lehrer, unterrichtet Deutsch und Geschichte in der Oberstufe und hat James Joyce im Original gelesen. Ich erzähle ihm von meinem Job in der Bank und dass ich Joyce nur in der Übersetzung kenne. So weit sind wir gekommen.
„Wollschläger, guter Übersetzer.“
Ich beeile mich beizupflichten und berichte von einer Lesung mit Wollschläger, die ich im letzten Jahr besucht habe. Pauls Augen leuchten hinter einem viel zu dunklen Brillengestell. Schreckliches Teil. Der einzige Fehler, den ich bis jetzt bemerkt habe, aber der wäre leicht zu korrigieren.
Jetzt erklingt die Stimme von Frank Sinatra im Hintergrund. Paul bemerkt, dass ich leicht zusammenzucke und sagt sofort: „Scheußlich, nicht wahr?“ Ich kann nur nicken, denn ich stelle mir Pauls Gesicht mit einem leichten Brillengestell vor, es wäre perfekt.
„Was halten Sie davon, wenn wir jetzt gehen und unser Gespräch in etwas angenehmerer Atmosphäre fortsetzen?“
Was meint er damit?
Er koche gern, verrät mir Paul und dann fragt er mich, ob ich Fisch mag.
Für Fisch lasse ich alles liegen und stehen.
„Freitag gegen halb acht?“
Ich muss jetzt ein wenig zögern, das gehört zum Spiel, aber nicht allzu lange.
„Freitag gegen halb acht.“
Paul erhebt sich und reicht mir seine Visitenkarte, dabei streift er meine Hand. Er wohnt in Vellmar West, also kaum zwanzig Minuten von meiner Wohnung in Niedervellmar entfernt.
Wie soll ich es aushalten bis Freitag gegen halb acht?
Nur nicht zu Hause nach Feierabend herumsitzen. Drei Kinoabende in Kassel sind angesagt und dann ein Einkauf im Modehaus Döring.
Nein, neue Klamotten werde ich nicht kaufen, das wäre übertrieben, aber Dessous in creme wären angemessen. Die müssen jungfräulich sein. Nur für alle Fälle.
Jetzt noch einen Sprung in die Süßwarenabteilung vom tegut, um Eurostücke aus Edelschokolade zu kaufen. Schließlich habe ich Schulden.
Paul ist ganz gerührt über meinen genialen Einfall, ihm den geliehenen Euro auf diese Art zurückzugeben. Er bittet mich in eine gediegene Neubauwohnung mit Blick auf den Herkules und nimmt mir den Mantel ab. Ich bemerke, dass er meine Beine abtaxiert, aber es stört mich nicht, die Strümpfe sitzen perfekt, das habe ich mehrmals überprüft.
Es riecht ein wenig nach Fisch, aber nicht unangenehm, sondern lecker. Paul führt mich in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit einer Kombination von antiken Schränken und Regalen und einer modernen Sitzgarnitur ausgestattet ist. Ich habe es gewusst, der Mann hat Geschmack. An den Wänden hängen Ölgemälde und Radierungen in geschickter Anordnung.
Paul führt mich zu einem schweren Eichentisch, der auf einem warmroten Teppich steht.
Also keine Kinder, ganz sicher nicht, denn Kinder kleckern.
Während Paul Wein eingießt, lasse ich meinen Blick zur angrenzenden Küche schweifen. Komplette Einrichtung in antrazit mit Marmorarbeitsplatten.
Langsam beschleicht mich ein Unbehagen. Für einen allein lebenden Mann ist das hier alles viel zu groß.
Paul achtet nicht auf mich, zündet die Kerzen auf dem Tisch an und fragt, ob Sati als Musikuntermalung beim Essen recht sei. Natürlich ist mir das recht.
„Ich habe einen Soave zum Fisch ausgewählt, Martina, das ist dir doch auch recht? Entschuldigung, ich hab jetzt einfach du gesagt.“
Paul macht ein verlegenes Gesicht und ich finde ihn einfach entzückend, wie er da sitzt in seinen hellen Jeans und dem blauen Rollkragenpullover.
„Ist schon gut“, gebe ich zurück und hebe mein Glas.
Paul beim Essen zuzusehen ist eine Wonne. Das liegt daran, dass er seine Hände schön bewegt, besser gesagt, auch daran. Hände sind wichtig, weil man sie in einer Partnerschaft ständig vor Augen hat.
Der Fisch ist köstlich und zum Nachtisch holt Paul eine Vanillecreme mit Mandeln aus der Küche.
„Hast du die auch selbst gekocht?“ Ich kann es kaum glauben, als Paul heftig nickt.
„Als Junggeselle habe ich nicht so oft Lust zu kochen. Lohnt sich kaum. Aber wenn ich schon koche, dann richtig.“
So, nun ist es heraus, aber ganz beruhigt bin ich noch nicht.
„Du bist immer Junggeselle gewesen?“
Paul zuckt mit den Achseln. „Hat leider immer nicht so ganz geklappt mit den Damen.“
Ich atme durch und verrate, dass es mir ähnlich geht, was die Herren betrifft.
Urplötzlich schießt mir ein neuer Gedanke durch den Kopf. Was ist, wenn Paul sowohl als auch...?
„Bei den Herren hab ich es noch nie versucht“, lacht Paul und schon ist der Gedanke verflogen.
Paul räumt das Geschirr ab und bringt die Weingläser zum Sofatisch.
Was kommt als nächstes? Nicht die uralte Geschichte mit den Briefmarken, das ist klar.
Paul wird mir ein Gedicht vorlesen, oder eine Passage aus Paul Austers neuem Roman.
Irgend etwas in der Art.
Ich drapiere mich aufs Sofa wie eine Reklame von Dior.
Paul hält ein ungewöhnliches Buchformat in der Hand und setzt sich neben mich.
„Was ist das für ein Buch?“ will ich wissen.
„Ein Fotoalbum, möchtest du es ansehen?“
„Wenn es keine Pornos enthält“, lache ich unbefangen.
„Wenn dich mein Babypopo nicht abschreckt“, lacht Paul zurück.
Ich sehe mir die Fotos an.
Paul als Säugling im Körbchen, als Kleinkind mit der Rassel in der Hand, als Kommunionkind mit einem blonden Engel an der Seite, Paul mit seinen Eltern bei der Einschulung.
Ich will umblättern, da erklärt mir Paul überflüssigerweise, dass die Dame auf dem EinschulungsFoto seine Mutter ist.
Höflicherweise betrachte ich sie genauer und stelle fest, dass sie eine attraktive Dame ist.
Erst jetzt blättert Paul um.
Der erste Urlaub am Edersee, Paul in Badehose.
„Du hast dünne Beine“, bemerke ich.
Paul tippt auf eine von zwei Frauen, die unter einem Schirm sitzen und das Badevergnügen der Kinder überwachen.
„Das ist meine Mutter“, erklärt er wieder.
„Interessanter Sonnenhut“, kommentiere ich nur und sehe mir das nächste Foto an, Paul mit einem Hund vor einem herrschaftlichen Haus.
„Habt ihr dort gewohnt?“
„Ja.“
Das klingt irgendwie unwillig.
„Schau mal hier, da ist meine Mutter vierzig geworden, sieht sie nicht phantastisch aus?“
„Bis auf diesen drolligen Kapotthut, schon.“
Paul findet das offensichtlich nicht lustig.
„Sie war eine wunderbare Frau“, schwärmt er und schlägt die nächste Seite auf.
„Hier kommt ihre Figur so richtig zur Geltung.“ Mutter mit Sohn vor einer riesigen Eiche im alten Ahnepark, bei bester Beleuchtung aufgenommen.
Kein Kommentar meinerseits.
Paul mustert mich kurz, dann sagt er doch tatsächlich:
„Weißt du, dass du ihr ein wenig ähnelst?“ Er richtet den Blick wieder auf das Foto.
Gleich reicht es, denke ich.
Paul lässt sich nicht beirren und erzählt zu einem weiteren Mutterfoto von deren hausfraulichen Qualität und Disziplin und dass es solche Frauen kaum noch gibt, aber ...
Ich habe genug. Ich stehe auf, nehme meine Handtasche, eile zur Flurgarderobe und reiße den Mantel vom Haken.
Einen Augenblick lang bin ich mir nicht einmal sicher, ob Paul meinen Abgang bemerkt hat.