- Beitritt
- 31.10.2003
- Beiträge
- 1.543
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 33
Sohle 6; Teufe 522 Meter
Worterklärung:
Anker: lange Metallstange, zum Abstützen von Stollendecken
Firste: Stollendecke
Mundloch: Stolleneingang an der Erdoberfläche
Teufe: Tiefenmaß von einem gegebenen Punkt an der Erdoberfläche bis zum Stollenboden
(die) Wetter: Luftgemisch unter Tage; frische Wetter = atembare Luft; matte Wetter = Luft mit wenig bis gar keinem Sauerstoff; schlagende Wetter = Luft mit hohem Methananteil, sehr große Explosionsgefahr
Sohle 6; Teufe 522 Meter
„SCHLAGWETTER!“
Gerd lässt den Anker fallen und schlägt die Arme in den Nacken.
Dunkelheit.
*
Ein stetiges Fiepen dringt durch seinen Kopf. Leise, qualvoll.
Staub hat sich auf seine Zunge gelegt, wird zu einem zähen Brei. Gerd versucht auszuspucken. Träge Luft dringt in seine Lungen, als er unter Schmerzen einatmet.
Das Pfeifen in seinem Kopf wird lauter, Gedankenfetzen schwirren umher, nicht greifbar.
Was war passiert? Wieder hustet er staubigen Schleim.
Seine Wange liegt auf kaltem Fels. Er versucht die Augen zu öffnen, doch es ist nicht möglich. Gerd spürt, wie die Augäpfel unter den geschlossenen Lidern zucken. Irgendetwas muss sie verklebt haben. Sein Herz rast, er spürt es in seinem Hals.
Die Muskeln martern seine Knochen mit jeder kleinen Bewegung. Wo ist er?
Der rechte Arm schmerzt besonders; er liegt unter seinem kräftigen Oberkörper begraben. Vorsichtig zieht er ihn hervor. Das Pfeifen um ihn herum - in ihm drin - wird schriller. Er wischt über seine Augen, reibt den verkrusteten Kohlestaub von den Lidern. Jetzt lassen sie sich öffnen.
Dunkelheit umgibt ihn; nichts als Dunkelheit. Gerd spürt, wie seine Atmung schneller wird. Was ist das? Warum kann er nichts sehen? Sein Herz hämmert gegen den Brustkorb, die Schläge übertragen sich auf den kühlen Fels unter ihm. Die Schwärze scheint ihn erdrücken zu wollen, dringt von allen Seiten auf ihn ein, umschließt ihn wie eine dickflüssige Schicht. Eine Schicht, die ihm die Luft zu rauben scheint. Gerd atmet schneller.
„Hallo?“ Seine Stimme klingt dumpf; fremd, ohne Hall. Die Augen brennen.
Gerd tastet über den Boden. Er fühlt winzige Steinsplitter, eingebettet in pulvrigem Staub. Dann spürte er Metall unter seinen Fingern. Der Anker! Was hatte er mit dem Anker gemacht? Gerds Erinnerungen bahnen sich einen Weg zu seinem Verstand. Der Anker. Gerd war gerade dabei gewesen die Firste des Stollens abzustützen. Dann der Schrei: Schlagwetter.
Es muss eine Explosion gegeben haben. Gerd saugt die Luft ein. Sie ist relativ frisch; staubig, aber frisch. Atembar. Ungewöhnlich nach einer Schlagwetterexplosion, denn so eine Detonation reißt gewöhnlich den Sauerstoff aus der Luft wie ein trockener Schwamm das Wasser aus einem Glas.
Erich – war es Erich? – hatte Schlagwetterwarnung gegeben. Und wer diese Warnung hört, ist so gut wie tot.
Das Pfeifen wird unerträglich. Gerds Kopf steht kurz vorm Bersten.
Wie viel Kumpel hatten je eine Explosion unter Tage überlebt? Gerd war seit seinem sechzehnten Lebensjahr Hauer; er war Tag für Tag in den Stollen eingefahren, hatte Tag für Tag den Staub geschluckt. „An das Husten wirst du dich gewöhnen müssen.“ Die Stimme eines Kumpel dröhnt in seinem Schädel. Er hatte von Unglücken gehört, hatte heulende Witwen am Rande des Mundlochs stehen sehen. „Er hat alles für die Firma getan.“ Wieder diese Stimme. „Es tut mir leid um ihren Mann.“ Niemand hatte eine Explosion überlebt. Zumindest nicht in ihrem unmittelbaren Wirkungsbereich. Und in dem musste sich Gerd befunden haben, wenn er Erichs Warnschrei gehört hatte.
Gerd versucht sich aufzurichten. Sein Knie schmerzt, schlimmer als seine Lunge, schlimmer als sein gesamter Körper. Irgendetwas stimmt mit seinem Knie nicht. Er dreht das Bein vorsichtig zur Seite. Die Schmerzwellen überschwemmen seinen Oberschenkel, branden in der Leiste. Gerd zittert. Seine Hand gleitet nach unten, berührt das Bein. Die dicke Hose ist oberhalb des Knies eingerissen, Gerd fühlt ein tiefes Loch. Weiter möchte er nicht gehen, er will nicht wissen, was da an seinem Knie ist. Hauptsache, er lebt noch.
Er stemmt seine Hände auf den harten Boden und drückt sich nach oben, doch noch bevor die Arme gestreckt sind, stößt sein Rücken gegen Fels. Gerds Atmung wird schneller. Die Firste war eingestürzt; nein, nicht ganz. Sie hatte sich ... abgesenkt.
Aber wie ist so was möglich? Er hatte die lockeren Gesteinsschichten über ihren Köpfen entdeckt, als sie diesen Stollenteil das erste Mal betreten hatten. Wie konnte es also sein, dass diese Firste sich lediglich abgesenkt hatte? Bei einer festen Gesteinsplatte kann so etwas passieren, wenn sie seitlich durch Bruch abgestützt wird. Aber diese Firste war alles andere als eine feste Platte gewesen.
Gerds Schädel kreischt. Das schrille Pfeifen ist allgegenwärtig, es macht ihn wahnsinnig. Ob der Druck der Explosion ihn taub gemacht hat?
Gerd kneift die Augen zusammen. „Hallo?“ Dumpf.
„Gib mir den Anker, Erich.“
„Was hast du vor?“ Erich stand dicht hinter ihm. Sie befanden sich in dem Blindstollen, den sie vor gut zwei Stunden entdeckt hatten.
„Sieh dir die Firste an“, murmelte Gerd, der seinen Blick zur Decke gerichtet hatte.
Erich blickte ebenfalls nach oben. „Scheiße.“
Handbreite Risse zogen sich durch den Fels. Gerd steckte einen Finger hinein. „Schick die Kumpel hier raus und bring mir den Anker. Ohne Stütze geht hier keiner mehr rein.“
Er befindet sich in diesem Blindstollen, die Explosion hatte außerhalb stattgefunden. Allein deshalb lebte er noch. Und der Stollen war eingestürzt, daher auch diese unerträgliche Dunkelheit.
Sein Rücken bebt. Etwa eine Elle Platz ist noch zwischen ihm und der Decke verblieben. Ein beklemmendes Gefühl breitet sich in seiner Brust aus. Gerd ist eigentlich kein Typ, dem Enge etwas ausmacht; er war in Stollen vorgedrungen, die so niedrig waren, dass er sich nur auf allen Vieren fortbewegen konnte. Und er hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht; es gab ihm ein Gefühl der Freiheit, trotz der Enge. Aber dieses hier ...
Wie lange würde die Firste noch wie ein Damoklesschwert über ihm verweilen? Aber vielleicht würde die frische Wetter ja auch bald in eine matte umschlagen, dann hätte sich eh alles erledigt. Seine Lungen würden die tote Luft einsaugen, würden versuchen, gegen das Kohlenmonoxyd anzukämpfen. Ob es weh tut?
Gerd starrt in die Schwärze vor seinen Augen. Das beklemmende Gefühl breitet sich stärker aus, umschließt seinen Körper. Gerd will das nicht, er will diesem Druck entfliehen, diesem schwellenden Druck, der ihm die Luft zu rauben scheint; der sich in seinem Brustkorb ausbreitet, um danach metastasenartig jeden Muskel zu befallen. Er atmet flacher – schneller. Schweiß entsteht auf seiner Stirn, rinnt an den Schläfen hinab. Er brennt in den Augen. Warum war hier, verdammt noch mal, kein Licht? Nur ein winziger Schein, der dieses Gefühl des Erstickens von ihm nehmen könnte. Das Knie schreit, und für einen winzigen Augenblick ist Gerd dankbar für diese Ablenkung.
„Hier ist der Anker, Gerd.“ Erich sprach leise. Wenn die Firste so porös war, wie sie aussah, konnte sie durch die leichteste Vibration zum Einsturz gebracht werden.
Gerd versuchte, weiter in den Stollen hineinzublicken. Die gähnende Schwärze, die sich ihm in etwa zwei Metern Entfernung entgegenstreckte, wurde nur mühsam von dem sanften Licht der Öllampe zurückgehalten.
„Dieser Stollen ist auf keinem Grubenriss verzeichnet“, flüsterte Erich.
Gerd nickte stumm.
Als sie den Gang zufällig entdeckt hatten, hatte Gerd zunächst vermutet, sie wären auf eine natürliche Höhle gestoßen, doch die Wände wiesen eindeutig Spuren von Grubenwerkzeugen auf. Dieser Stollen war menschlichen Ursprungs.
„Was meinst du, wer ihn gemacht hat?“ Erich berührte die glatte Wand.
„Keine Ahnung“, murmelte Gerd. „Wo sind die anderen?“ Er nahm die lange Metallstange aus Erichs Händen, ohne dabei den Blick von der Dunkelheit zu lösen.
„Sie warten draußen. Ich habe Paul beauftragt, oben Bescheid zu sagen. Mensch, Gerd, vielleicht haben wir hier was Bedeutendes entdeckt. Und das an deinem letzten Arbeitstag.“
Erich? Es kann nicht Erich gewesen sein, der die Warnmeldung gerufen hatte. Er hatte sich mit ihm zusammen in diesem Stollen befunden.
Gerd versucht, seine schnelle Atmung zu kontrollieren. Nicht nachdenken, nur ruhiger werden. Es ist schwer, denn sein rasendes Herz verlangt nach Sauerstoff. Er stößt hörbar die Luft aus, langsam, gleichmäßig. Nach einer Weile zieht sich das beklemmende Gefühl zurück. Lauernd, in einen versteckten Winkel seines Körpers, jederzeit bereit, wieder hervorzuspringen. Gerd kann die Decke über sich nicht sehen, doch er spürt mit jedem Atemzug ihre Anwesenheit. Spürt, dass sie nur wenige Zentimeter über seinem Rücken auf ihn hinabstarrt.
„Erich? Bist du hier?“ Seine dumpfe Stimme wird von dem Pfeifen in seinen Ohren übertönt. Gerd streckt den Arm weiter aus, ertastet die seitliche Wand des Stollens. Verfluchte Dunkelheit!
Er erinnert sich, dass der Stollen nicht sehr breit gewesen ist, und ein Griff zur anderen Seite bestätigt dieses. Keine Chance, sich zu drehen. Lediglich vor oder zurück. Wo hatte Erich gestanden? Gerds Kopf beginnt zu schmerzen; ein schlagendes Pochen entsteht an seinen Schläfen. Stakkatoartig vermischt es sich mit diesem Pfeifen in seinem Kopf. Er schließt die Augen.
„Na dann sage ich ein letztes Mal ´Glück auf!´, mein Schatz.“ Elsbeth drückte ihm einen sanften Kuss auf den Mund. „Du wirst sehen, das Rentnerdasein hat auch seine guten Seiten.“
„Es ist schon ein komisches Gefühl“, sagte er leise, ohne den Blick von ihren Augen abzuwenden. Wie schön sie doch noch immer war.
„Wir werden viel unternehmen“, sagte sie. „Ich habe schon mit den Kindern gesprochen. Sie freuen sich, wenn wir sie mal wieder besuchen.“
„Noch“, sagte er und küsste ihre Lippen, die von winzigen Falten umsäumt waren. „Aber warte einmal ab, wenn wir unsere Freizeit richtig ausnutzen und jedes Wochenende bei ihnen vor der Tür stehen.“
Sie lächelte. Und es war dieses Lächeln, das ihn jeden Tag mit Freude an den Abend denken ließ. Und obwohl ihm seine Arbeit immer sehr viel bedeutet hatte, so freute er sich doch jedes Mal, wenn er wieder dieses Lächeln sehen durfte.
„Danke, dass es dich gibt.“ Noch einmal küsste er sie.
„Ich danke dir, dass es dich gibt“, sagte sie.
Gerd spürt die Tränen, die sich an seiner Nasenspitze sammeln. Er schüttelt den Kopf. Keine Melancholie, nicht jetzt. Im Moment ist die Situation wichtig, in der er sich befindet.
Die Entscheidung, ob er vor oder zurück kriechen muss. Erich hatte neben ihm gestanden, mit dem Rücken zum Ausgang. Also zurück. Sofern sich sein Orientierungssinn nicht täuscht und er mit dem Kopf in Richtung des Stolleninnern liegt.
Gerd drückt sich mit den Händen nach hinten, spürt, wie sich sein Hemd langsam aus der Hose schiebt. Kalter Fels berührt seinen Bauch. Ein Druck entsteht in seiner Blase.
Sein Knie beschwert sich lautstark, als er mit ihm über den Boden schleift, verstärkt den Druck in seinem Becken. Lichtblitze zucken vor seinen Augen; Gerd will schreien. Übelkeit breitet sich in seinem Magen aus. Er presst die Kiefer zusammen, saugt zischend die Luft durch die Zähne. Vorsichtig dreht er das rechte Bein, stützt es mit der Stiefelspitze ab. Auf keinen Fall mehr den Boden berühren … Noch eine Berührung und er würde sich auf der Stelle übergeben.
Er hebt den Kopf etwas an und stößt gegen die Firste. „Scheiße.“ Die tote Stimme in seinem Innern vermischt sich mit dem verschlungenen Hämmern und Pfeifen in seinem Schädel. Hitze steigt in ihm auf, versucht, die vom Boden kommende Kälte zurückzustoßen.
Weiter.
Sein rechtes Bein schwebt über dem Boden, der schlagende Schmerz in dem Knie lässt die Muskeln zittern. Ein Wimmern dringt über seine Lippen, doch Gerd vernimmt es nur in seinem Kopf.
Nach einer unendlichen Weile trifft sein Fuß auf Widerstand. Gerd erstarrt. Was ist das? Durch den dicken Stiefel hindurch kann er nicht spüren, ob es sich um etwas Festes oder Weiches handelt; Stein oder Erich?
„Erich?“ Nur das Pfeifen antwortet. „Kannst du mich hören?“
Doch selbst wenn es Erich wäre und er würde antworten, konnte er ihn überhaupt verstehen?
Gerd drückt den Fuß fester gegen den Widerstand. Er gibt etwas nach; nein, Fels fühlt sich eindeutig anders an.
„Erich! Ich kann dich leider nicht hören. Spürst du meinen Fuß? Wenn ja, dann drück dagegen.“
Gerd wartet, hält die Luft für einen Moment an, doch er spürt nichts als den toten Widerstand an seinem Stiefel. Das Hämmern in seinem Schädel nimmt beängstigende Ausmaße an. Gerd drückt die Hände gegen die Schläfen, massiert sie.
Er muss wieder nach vorn, weiter in den Stollen hinein. Vielleicht ist die Firste nur hier heruntergekommen. Vielleicht kann er sich weiter hinten aufrichten, und dann vorwärts zu diesem Widerstand – zu Erich – zurück kriechen.
„Was meinst du, wie weit es da rein geht?“, flüsterte Erich.
„Das werden wir feststellen, wenn ich das hier abgestützt habe. Du solltest besser zu den anderen gehen.“
Gerd sah, wie ihn Erich angrinste. Erich war drei Monate und sechs Tage jünger als er. Gerd konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie damals, gerade der Kindheit entsprungen, gemeinsam zum ersten Mal in den Stollen gefahren waren. Damals hatte es nur eine Sohle gegeben; Teufe 88 Meter. Erich und er hatten bei jeder weiteren Sohle mitgeholfen. Und jetzt waren sie bei Sohle Sechs, 522 Meter unter der Erdoberfläche. Der Schacht war weiter abgeteuft worden, und demnächst stand Nummer Sieben an.
„Das hier ist unser Letzter“, hatte Erich einmal gesagt. „Ich darf zwar noch drei Monate und sechs Tage länger als du, aber ich will Sieben nicht mehr sehen. Und das werde ich auch nicht.“
Erich hatte trotzig geguckt, wie ein kleines Kind, und Gerd hatte gelacht und gesagt: „Wir werden von oben drauf anstoßen.“
Jetzt blickte Gerd wieder in dieses alte, von Kohlenstaub bedeckte Gesicht. Und wieder erkannte er den kleinen, trotzigen Erich, der daraus hervorgrinste. „Du denkst nicht wirklich“, sagte dieser, „dass ich dich hier allein lasse, oder? Ich gönne dir zwar den Ruhm dieser Entdeckung, aber du sollst nicht auch noch als Märtyrer in die Geschichte eingehen. Wenn das verdammte Ding runter kommt, dann will ich dabei sein.“
Gerd sah ihn an. „Wenn wir da hinten den Schatz der Nibelungen finden, werde ich dir sowieso vorher den Schädel einschlagen. Oder denkst du, ich teile?“
Sie hatten gelacht; gelacht, wie so oft in ihrem täglichen Zusammensein. Und dann war der Ruf Schlagwetter ertönt.
Langsam lässt das Pochen in seinen Schläfen nach, und das Pfeifen gewinnt wieder die Oberhand. Gerds Mund ist trocken. Er versucht etwas Speichel zu sammeln, doch der Staub hat sich auf seine Mundschleimhäute gelegt, wie ein dünner Filzteppich.
Er greift nach vorn, will die Beine seitlich anwinkeln und stößt mit dem Knie gegen den Fels. Die Explosion scheint sein Bein zu zerreißen. Gerd beißt in den dicken Ärmel seiner Jacke. Tränen steigen ihm in die Augen. Tränen der Verzweifelung und der Hilflosigkeit und des Schmerzes. Es dauert viele Hammerschläge in seinem Knie bis der Schmerz etwas abschwächt. Und jeder Schlag wird begleitet von Gerds wimmerndem Keuchen in den Jackenärmel.
Langsam tasten seine Finger über den Fels, finden Halt und ziehen den Körper vorwärts. Sein heißer Atem verlässt stoßweise die Lungen, wirbelt den Staub vor seinem Gesicht auf. Immer weiter schiebt er sich nach vorn.
Nach einer unendlichen Weile stoßen seine Kuppen gegen Stein. Gerd keucht. Vor ihm befindet sich eine Wand. Das Ende des Stollens? Kein Nibelungenschatz. Der Stollen ist vielleicht maximal zehn Meter lang. Gerd flucht. Aber zumindest hatte dieser ominöse Gang ihnen das Leben gerettet. Jetzt musste er nur noch hoch genug sein, damit ... Er hebt die Hand über den Kopf, langsam, hoffend; und augenblicklich wird die winzige Flamme der Zuversicht erstickt. Knapp über seinem Kopf spürt er die rissige Firste.
Gerd schreit. Er schreit so laut, dass ihm der Hals schmerzt. Er schreit, wie er noch niemals zuvor in seinem Leben geschrieen hat, doch es klingt so dumpf, als befände er sich in einem mit zähem Schleim gefüllten Becken. „EEERICH ...!“
„Es ist ein Mädchen, Herr Hollbrink.“
Die Hebamme lächelte ihn an, doch Gerd wollte nur an ihr vorbei. Er spürte, wie seine Augen glasig wurden. Ein Mädchen.
„Herr Hollbrink, Sie müssen sich erst waschen“, rief ihm die Hebamme hinterher.
Gerd ließ die Tür zum Schlafzimmer sanft ins Schloss fallen. Und da lag sie, seine Elsbeth. Ihr Gesicht war weiß, das lange Haar hatte sich strähnig um die Haut gelegt. Sie lächelte.
Gerd spürte die Träne, die sich an seiner schwarzen Wange einen Weg in Richtung Kinn bahnte. Langsam ging er auf das Bett zu. Seine Frau schob die Decke ein wenig zur Seite und gab den Blick auf dieses kleine Wesen frei.
„Das ist Franziska“, sagte sie leise. „Franziska, darf ich dir deinen Vater vorstellen?“
Gerds Lippen bebten. Er sah sich auf den Schacht zustürmen, hörte Schuster rufen: „Gerd! Gerd! Es ist soweit!“; er sah seine Kumpel grinsen, einige applaudierten. Er sah ihre schwarzen Gesichter mit den weißen Augen, und er rannte.
„Hallo, Franziska.“ Mehr brachte er nicht hervor. Er wollte seine Tochter berühren, streckte seine zitternde Hand nach vorn, sah den Kohlestaub und zog sie zurück.
Elsbeth legte den Kopf zur Seite. „Du wirst noch öfter staubig sein, stolzer Vater.“
Und Gerd berührte diese winzige Hand, die beinahe unter seinem Finger verschwand.
Gerd reißt die Augen auf. Dunkelheit. Staub dringt in seine Nase. Sein Mund ist so trocken, wie die Luft über einem ausgedörrten Feld im Hochsommer.
Wie lange hatte er geschlafen? Hatte er überhaupt geschlafen? Irgendetwas hatte ihn geweckt; oder zumindest aus seinen Gedanken gerissen. War es das Pfeifen in seinem Kopf?
Er führt die rechte Hand an sein Ohr. Aber ... wo war die linke? Gerd kann seinen linken Arm nicht mehr spüren. Da ist es wieder, dieses Gefühl der Beklemmung. Schleichend legt es seine eiskalten Fühler um Gerds Brustkorb. Wo, zum Teufel, ist sein linker Arm?
Hektisch tastet der rechte über den Boden, fühlt einen leblosen Klumpen Fleisch. Gerd will aufschreien, bis er das kribbelnde Gefühl in seinen Fingerspitzen spürt. Jetzt merkt er auch, dass sein Kopf auf etwas Weichem liegt, und als sich das Kribbeln ebenfalls in seinem linken Arm ausbreitet, da weiß er, dass dieser nur eingeschlafen ist.
Gerd lacht, und dieses Lachen tut gut. Für einen winzigen Augenblick vergisst er, dass er unter Tonnen von Gestein begraben ist. Da ist keine Firste, die nur wenige Zentimeter über seinem Körper schwebt, da sind keine Wände, die ihn von allen Seiten zu erdrücken scheinen. Kein Erich, der vielleicht zerquetscht am Anfang des Stollens liegt.
Er massiert seinen linken Arm, spürt, wie das Leben in ihn zurückkehrt. Und Gerd lacht.
Ein Stöhnen dringt an seine Ohren. Er verstummt. Da ist es wieder; eindeutig ein Stöhnen.
„Erich?“ Oh mein Gott, er kann wieder hören. Seine Stimme klingt zwar immer noch dumpf, aber keinesfalls mehr so, als hätte man ihm zwei Kissen auf die Ohren gelegt, umwickelt mit einer dicken Wolldecke. Er muss sich irgendwie drehen.
Seine Arme fliegen zur Seite; keine Wand. Er kann tatsächlich keine Wand fühlen. Das heißt, hier hinten ist der Stollen zwar nicht höher, doch zumindest breiter.
„Erich! Ich bin hier. Kannst du mich hören?“
Gerd dreht seinen Körper, stößt mit den Stiefeln gegen Fels, robbt ein wenig nach vorne und dreht sich weiter. „Erich, halt durch, alter Junge.“ Sein Steiß schlägt gegen die Firste, aber der Schmerz ist ihm egal. Er hat es geschafft. Staub um ihn herum; Staub der sich brennend auf seine Netzhaut legt, auch das ist ihm egal.
Seine Hände greifen nach vorn, die Arme ziehen den Körper in diese Richtung. Wie weit war er vorhin gekrochen? „Erich! Hörst du mich?“
Er hustet zähen Schleim, niest, denkt an Elsbeth und an Franziska. An Franziska, die sie in den nächsten Tagen besuchen wollen. Und er kriecht. Staub und winzige Steine bahnen sich einen Weg durch seinen Hosenbund ins Innere, doch er robbt weiter. Er spürt, wie sich der Brei in seinem Schritt sammelt, spürt die Steinchen, die seine Haut aufreißen. Nur nicht mit dem Knie den Boden berühren. Und dann umfassen seine Finger eine ledrige Oberfläche. Ein Stiefel!
„Erich!“
Noch ein Stück. Es war kein Fels, Gerd hat es gewusst. Sein Fuß hatte vorhin keinen Fels berührt. Die Finger tasten weiter. Schnürsenkel, ein Hosenbein und dann ... Stein!
Seine Hand greift danach. Er ist nicht sonderlich groß, doch lässt er sich aus dieser Position nur schwer bewegen. Mühsam schiebt Gerd ihn zur Seite; noch einen. Immer weiter.
„Erich, hörst du mich?“ Der nächste Stein, dann eine Hand. Gerds Finger berühren Haut, kalte Haut. „Erich, ich bin es. Gerd!“ Er drückt die Hand.
„Wenn du mich hörst, dann bewege deine Finger.“
Ein sanfter Druck entsteht auf seiner Haut. „Oh mein Gott, du lebst.“
Gerd schiebt sich weiter vor, berührt den Arm. Er ist nass. Wieder ein Stöhnen, gedämpft, weit entfernt. Gerd atmet schneller; das Pfeifen in seinen Ohren wird wieder schärfer.
„Hast du Schmerzen, Erich?“ Er spürt, dass seine Stimme viel zu laut ist.
Dumpfe Geräusche dringen zu ihm herüber.
„Ich kann dich leider nicht verstehen, alter Freund. Drück meine Hand einmal für ein Ja und zweimal für ein Nein. Hast du das verstanden?“
Ein leichter Druck.
„Okay, dann noch einmal: Hast du Schmerzen?“
Zwei sanfte Berührungen.
Gerd lässt seinen Kopf auf den Boden sinken. „Sie werden uns hier raus holen, Erich. Halte durch.“ Ein Beben geht durch den Fels. „Sie werden uns finden …“
Gerd liegt auf dem Rücken. Er hatte sich – vor einer halben Ewigkeit? – umgedreht, doch seine Finger halten noch immer Erichs Hand. Sie ist kälter geworden. Vor ein paar Minuten ist Erich gestorben; kein Druck mehr.
Die Firste berührt sanft Gerds Nasenspitze. Er kann seinen heißen Atem spüren. Ein wenig riecht er muffig, aber vielleicht ist es auch nur die Luft hier unten. Matte Wetter entsteht; der Sauerstoff ist fast verbraucht.
Die Firste hatte sich gesenkt. Und sie wird sich weiter senken. Hoffentlich nicht zu langsam. Und hoffentlich ist die Wetter schneller ...
„Drei Monate und sechs Tage hättest du noch gehabt, mein Freund.“ Erichs tote Finger liegen in seiner Hand. „Und ich hätte es morgen geschafft.“
Der Fels würde sie hier unten festhalten. Einmal Hauer, immer Hauer. Gerd grinst. Sein rechtes Bein fühlt sich taub an, die Zehen lassen sich nicht mehr bewegen. Kein Schmerz mehr. Gerd ist froh darüber. Er greift in seine Gesäßtasche, holt das alte Schwarz-Weiß-Foto hervor. Zwei Personen lächeln ihn an, Elsbeth und Franziska. Er kennt das Foto in- und auswendig; seit Franziskas viertem Geburtstag hat es ihn begleitet. Ein letzter Lichtblick in dieser Dunkelheit.
Wieder pressen sich Tränen durch seine geschlossenen Lider. Er öffnet die Augen, blickt auf das Foto, das er nicht sehen kann.
„Elsbeth? Oh, meine Elsbeth, ich sehe dich dort oben am Eingang des Schachtes stehen. Zwischen all den anderen Frauen. Mit diesem winzigen Funken Hoffnung in deinem Herzen. Doch ich befürchte, dass du jetzt allein unsere Tochter besuchen musst.“
Ein Ächzen geht durch den Stollen. Die Luft ist dick. Gerd muss den Kopf zur Seite drehen. Die Firste berührt nun seinen Brustkorb, wenn er einatmet. Und er muss kräftig einatmen. Und trotzdem hat er das Gefühl, seine Lunge wird nur zu einem Bruchteil gefüllt. Es beginnt zu stechen. Sein Herz rast.
„Ich habe keine Angst vorm Sterben, Elsbeth. Ich habe Angst vor dem, was du durchmachst.“
Wieder rückt die Firste knirschend ein Stück näher, verhindert das kräftige Einatmen. Gerd hustet.
„Franziska, mein Baby, du musst dich jetzt … um … deine Mutter kümmern.“
Der Druck auf den Brustkorb wird stärker, schmerzhafter.
„Franziska wird … auf dich … aufpassen, Elsbeth. Sie ist eine liebe Tochter. Und du wirst eine … liebe Oma werden. Das weiß ich … Elsbeth.“
Staub rieselt herab. Gerd schließt die Augen.