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Sommer auf dem River Medina
„Good morning, Jürgen!“, rief Pam, kam an meine Koje und stellte mir eine Tasse heißen Tee mit etwas Milch und Zucker und einem Keks ans Bett. Ich war noch benommen. Mühsam kam ich hoch, griff die Tasse, nahm einen Schluck, schob sie auf dem Kopfkissen etwas weg, nickte vor Müdigkeit wieder ein, der Tee verschüttete auf dem Kopfkissen. Ich wachte wieder auf, trank den Rest. Durch ein Bulleye schien die Morgensonne in die Kajüte. Mövengekreisch drang herein, dazu der Lärm von Außenbordmotoren. Nach einer Weile stand ich auf und wusch mich in dem kleinen Waschbecken. Eine Pumpe lief und förderte das Wasser für den Tag von einem tiefliegenden Tank in einen höher gelegenen, damit es von dort zu den Wasserhähnen laufen konnte. Oben im Salon war der Frühstückstisch reich gedeckt, ham and eggs, sausages, porridge- very british. Müde nahm ich meinen Platz ein und aß Brot mit Marmelade. Dann ließ ich mich zu bacon and eggs überreden. Heiß und fettig, und das morgens!
Alan rührte den braunen Zucker in seinen Kaffee. Er blinzelte mir zu. „Tomorrow is Cowes Week“, sagte er. Das bedeutete Aktion, mit dem Boot auf den Solent fahren, Regatten beobachten, viele Bekannte treffen, Abends im dunkelblauen Blazer zum Club fahren, wo auch Prinz Philipp sein würde. Eine aufregende Zeit. Und ich würde einen Tag mitkommen: „You may join us, if you like“.
„How is Robert?“, fragte ich Alan.
„Oh, Robert is fine“, antwortete er. Bei meinem letzten Besuch ging Robert noch zur Schule. „Robert is visiting a technical high school. He will become an engineer“, führte Alan aus. “And how are you doing? Is your school okay?” Natürlich war mit meiner Schule alles okay. Sollte ich ihm erzählen, was ich von meinen Lehrern hielt? Eigentlich war das sowieso für jeden dasselbe. „How are your parents?“, wollte Alan wissen. „Are they well?“ Ich wußte nicht recht; die Frage traf mich unvorbereitet. „Are they not well?“, setzte Alan nach. Natürlich gehört es sich, zu sagen, daß es allen gut geht und daß sie herzlich grüßen lassen. „So they are not well, they are not bad, how are they?“, fragte Alan.
“They are still existing”, antwortete ich schließlich. Alan fuhr zurück:
„Hey Pam!“, rief er laut, damit Pam es unten in der Kombüse hören konnte, „Jürgens parents are n‘t well, are n‘t bad, they're just still existing. That’s like us, is n’t it?“
„Oh Alan“, spielte Pam Empörung. Der warf mir einen warmen, herzlichen Blick zu.
Pam und Alan bewirteten Feriengäste auf dem Motorboot. Nach einem wohl nicht befriedigenden Berufsleben in einer Bank hatten sie die René Philippe, ein altes französisches Motorboot, gekauft und zunächst mit zwei Kindern darauf gelebt. Zwei weitere waren auf dem Schiff zur Welt gekommen und hier aufgewachsen. Es gab Kojen für 12 Feriengäste. Das Boot lag an Moorings, fest verankerten Bojen, im River Medina auf der Isle of Wight im Süden Englands. Neben dem Boot lagen etwa zehn Segeljollen eben falls an Bojen vertäut, die den Gästen zur Verfügung standen.
Nach dem Frühstück suchte ich mir ein Boot aus und segelte ein paar Stunden. Dafür mußte ich in ein Dinghy steigen, zu einer Jolle rudern und das Dinghy an der Boje festmachen. Man konnte für die Fahrt auch den Außenbordmotor starten. „Seagull - the best outboard motor of the world“ stand im Kreis herum auf der offenen Schwungscheibe, die offen rotierte, wenn der Motor lief. Dann konnte man den Schriftzug auch nicht mehr lesen, wozu brauchte man auch die Botschaft, wenn man fahren konnte. Meist jedoch konnte ich den Schriftzug lesen, in immer neuen Positionen wand er sich beschwörend vor mir, wenn ich verzweifelt versuchte, den Motor anzuwerfen. Daher ruderte ich oft. In der Jolle mußte ich nur die Segel setzen und die Leine loswerfen. Der Fluß war ruhig, die Luft warm. Die Segler auf den vielen Booten grüßten. Die meisten lebten hier auf ihrem Boot, jeden Morgen sah ich sie beim frühstücken, putzen, klönen. Zweimal kenterte ich; da der Fluß ziemlich flach war ließ sich eine kleine Jolle schnell wieder flott machen. Jedesmal kam Alan mit dem größeren Motorboot, das für solche besonderen Einsätze neben der René Philippe lag, wir richteten die Jolle wieder auf, einer mußte sie am Mast aufrecht halten, ich bekam einen Eimer und mußte das Wasser auspützen, bis die Jolle leer war und wieder stabil im Wasser lag.-
Alan unterwies mich manchmal im Segeln. Da mit den Jollen alles sehr einfach war, war eigentlich nicht viel zu zeigen. Dafür vermittelte er Philosophie: „Nothing with sailing is perfect“, lernten wir, und: „sailing means to move a boat by the wind as fast as possible“. Dazu natürlich die Namen aller Teile am Boot, die kannte ich schon, aber jetzt war alles neu: statt Vorsegel, Großsegel und Schoten hieß es jetzt jibsail, mainsail und sheets, aus Bug und Heck wurden bow und stern, aus dem Schwert ein centerboard. So viele Teile hat eine kleine Jolle zum Glück nicht; auf einem Rahsegler wäre mehr zu lernen gewesen. Die Knoten kannte ich schon alle; ich lernte nur die neuen Namen, aber spleißen konnte ich noch nicht. Stundenlang übte ich Augen und Rückspleiße an kleinen Tauen und fertigte mir dann eine kleine Bootsleine mit Schäkeln an beiden Enden.
Einmal sollte Alan eine Jolle an eine Familie mit vier Kindern vermieten, deren Oberhaupt er nicht viel seglerisches Können zutraute. Er wählte die „Seagull“, einen schweren langsamen Kahn, den man eigentlich überhaupt nicht umkippen konnte. Mit ihr waren wir schon einmal bei schwerem Wetter hinaus auf den Solent gesegelt, der hier einige Kilometer breit war; dafür war sie gut. Nachdem Alan das Boot übergeben hatte und wieder zurückgekommen war, dauerte es kaum eine viertel Stunde, da sah einer von uns mit dem Fernglas, daß die Familie mit der „Seagull“ gekentert war. Wir waren sehr aufgeregt und erwarteten, nun alle in großer Eile hinzufahren und zu helfen. Alan nahm das Fernglas, sah seelenruhig hindurch und meinte: „There is still a minute for a cup of tea.“ Ob den Leuten nichts passieren könne? „They are okay.“ Ob sie in die Fahrrinne treiben könnten? „They are on a lee shore.“ Er setzte sich und trank seinen Tee. Dann zogen wir Ölzeug an und fuhren los. Als erstes wurde die Familie an Land gebracht; dann das Boot mit Eimern ausgepützt, wobei es von einem längseits festgehalten werden mußte; danach schleppten wir die „Seagull“ zurück.
Mittags zauberte Pam aus ihrer klitzekleinen Küche von ungefähr eineinhalb Quadratmetern ein Menü mit mehren Gängen für zehn Personen. Nachmittags servierte sie frischen Kuchen. Alles sehr schmackhaft - very continental.
Am Sonntag mußten Alan und Pam zu Pams Eltern fahren. „Alan! Are You ready?“ rief Pam aus ihrer Kajüte. Sie hatte ihren jüngsten Sohn fertig angezogen. Er trug eine hellblau gestreifte kurze Hose mit Hosenträgern, ein weißes Hemd, einen Kinderschlips, weiße Socken und glänzende rote Schuhe. Sein blondes Haar war ordentlich gescheitelt. Ihr zweitjüngster war auch fein ausstaffiert. Pam hatte sich gekleidet, als ginge sie in das Theater.
„Yes, I am!“, antwortete Alan aus dem Maschinenraum. Er hatte gerade das Stromaggregat abgestellt. Alan blieb, wie er immer war: Motorenöl auf der blauen Arbeitshose, schwarze Fingernägel, ungekämmt. Wir stiegen nacheinander in das größte Beiboot, das längseits lag. Es hatte eine kleine offene Spritzhaube am Bug und Sitzplätze für sechs Personen. Dazu einen Inbord-Dieselmotor, der problemlos ansprang. Dieses Boot war für besondere Anlässe vorbehalten, wie einen Regatta-Besuch draußen auf dem Solent, einer Fahrt zum Royal Yacht Club oder auch nur der abendlichen Fahrt zum Folly Inn, um Cider zu trinken und den Tag abzuschließen. Der Diesel brummte generös. Schnell waren wir am Steg, machten das Boot fest und gingen auf den Parkplatz am Gasthof zu. Wir zwängten uns in einen Austin Mini Kombi mit Hecktüren aus echtem Eichenholz, die wie Fachwerk wirkten, und fuhren über die schmale, von hohen Hecken gesäumte Landstraße zu einer alten, herrschaftlichen Villa.
Pams Eltern waren reich; ihr Vater war Londoner Bankier im Ruhestand. Wir wurden in einen Salon geführt, der auf mich wirkte wie eine alte Stube in einem Agatha Christie Film. Pams Vater fühlte sich unwohl und ließ sich entschuldigen, Pams Mutter, eine alte, hagere Frau mit spitzer Nase, so ganz das Gegenteil zur frischen, breiten und molligen Pam, hieß uns willkommen und wies mit der Hand auf die Sessel und das Sofa, die in unregelmäßigen Abständen und ohne Bezug zueinander im Raum verteilt waren. Wenn man die schweren Sessel nicht bewegen wollte, konnte man gar nicht anders als sich beim Hinsetzen von irgendeinem aus der Gruppe abzuwenden. Unsicher nahm ich nach den anderen Gästen Platz auf einem riesigen Plüschsessel, der frontal auf die Gastgeberin und das kleine Tischchen vor ihr gerichtet war. Es gab Tee, dazu stand auf dem Tisch vor der alten Dame ein Teller mit vier oder fünf kleinen Keksen.
Nach der Begrüßung und dem üblichen „nice to meet You“ richtete sich die Unterhaltung auf das Wetter und die Gesundheit. Dazwischen Sätze wie: „Would You please hand me the sugar, please, Darling?“, der Zucker wird von Pam drei Zentimeter auf dem Tisch in Richtung von Alans Schwiegermutter verrückt, „Thank You, Dear.“- Die Kinder standen auf und spielten im Hintergrund. Alan saß mit dem Rücken schräg zu Pam und ihrer Mutter und blickte ins Leere. Nach einer Weile des Schweigens und der Suche nach Themen kam die Rede auf das Bad im Obergeschoß. „The shower needs to be repaired“, stellte die Mutter in den Raum. Es ging eine Weile hin und her, wer denn die Dusche reparieren könnte. Dann näherte man sich einer Lösung: „Could Alan repair the shower?“, fragte Pams Mutter ihre Tochter mit Blick auf Alan. Pam drehte sich zu Alan: „Alan, will you repair the shower?“ Alan antwortete nicht. Alan war eingeschlafen.
Für eine Woche feierte man der Welt größte Segelveranstaltung, die Cowes Week. Der Fluß und alle freien Wasserflächen bei Cowes lagen voller Boote. Alan war das erste und einzige Mal gekämmt. Er hatte seinen Blazer angezogen und lud uns ein, mit einem Beiboot der René Philippe in das Spektakel zu fahren. Tausende waren da, zu Lande und zu Wasser, unter ihnen auch Prinz Philipp. Man konnte versuchen, etwas von den Regatten zu sehen, aber das wichtigste war es, in dieser Stimmung mittendrin zu sein.
Abends fuhren wir nach dem Essen mit dem Dinghy zur Gaststätte am Fluß.- Die hieß „Folly Inn“ und lag bei Whippingham; die Buchstaben „INN“ waren groß auf das Dach gepinselt worden, um den Seglern ihr Ziel von weitem kenntlich zu machen. Alle, die auf dem Fluß lebten, trafen sich abends im Folly. Drinnen drängten sich die vielen grauhaarigen Segler. Die meisten segelten nicht, sondern lebten auf ihren Booten, schliffen und lackierten ein bißchen, tranken Tee, klönten und warteten auf den Abend im Inn. Wenn ein Weltumsegler eingetroffen war, konnten sie abends im Folly durch dessen Erzählungen an der großen Welt des Segelns und den bestandenen Abenteuern teilhaben; das genügte. Wir mußten uns schon mühsam einen Weg an den Tresen bahnen. Der Wirt, sein Name war Murray Dixon, wirbelte und zapfte Bier und Cider. Er beherrschte seinen Job; er war so breit wie zwei und zapfte so schnell wie zwei. Mit einem breiten Gesicht und riesigem krausen Bart stand er da und strahlte Urgemütlichkeit aus; er war die Stimmung des Pubs und der Pub war er. Ich bestellte einen Pint Cider und suchte einen Ort, wo genug Raum war um das Glas zu heben und zu trinken. Die Leute standen dicht an dicht, redeten laut und gestikulierten. Ihre Stimmen waren rauh und die Aussprache fremd, nicht gerade Schulenglisch. Alan stellte mir einige vor. Mit dem Namen der Yacht, auf der jemand lebte, war er meist ausreichend beschrieben. Über einen flüsterte er mir zu: „He takes a bath every night!“- Tatsächlich ließ sich dieser Mann, ein ehemaliger Colonel, jeden Abend im Folly ein heißes Bad anrichten. Er kam pünktlich von seiner Yacht und setzte sich in die volle Wanne. Danach ging er glühend und frisch in die Gaststube. Jeder auf dem Fluß wußte das; kam jemand neu dazu, wurde es ihm sofort erzählt. Aber in England darf man ein bißchen verrückt sein.
Nachts gingen wir im Dunkeln den langen Holzsteg entlang zu unserem Boot. Alan ließ den Motor an und wir warfen die Festmacher los. Wir fuhren durch die Dunkelheit über den Fluß zurück zur René Philippe. Nur vereinzelt schien noch Licht aus den Kajüten der Boote, an denen wir entlang tuckerten. An der René Philippe angekommen, kletterten wir die außenbords hängende Leiter hoch, gingen durchs Dockhaus in den Salon und setzten uns auf die Bank. Wir tranken einen kleinen coffee with cream and brown sugar, den Pam uns gemacht hat. Die Deckenleuchte warf ihr spärliches Licht in den Raum, das von den Fenstern, dem lackierten Mahagoni und den vielen Messingbeschlägen zurückgeworfen wurde. Ich aß noch einen Cookie und trank einen zweiten Coffee. Danach ins Bett und tief geschlafen. Bis zum Wecken mit Tee…