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Sommer, nachmittags
Ich sitze in der Sonne und lese Stephen Hawking. Eine Amsel verteidigt ihr Revier mit lautem Geschäpper, gegenüber tritt eine Frau ans Fenster. „Himmelherrgott, verfluchte Scheiße“, tönt es herüber wie erwartet. Jeden Tag tritt sie ans Fenster, raucht und flucht so laut, dass jeder es hört. Tourette Syndrom, mutmaßt die Nachbarin.
Unten streckt ein Mann Sträucher nieder. Nach einem Sirren fallen die Äste, die Heckenschere schwingt er über seinem Kopf wie ein Samurai. „Samson!“ ruft er seinen Hund. Das gelbe, nackte Tier ist zum Zaun gerannt und tobt vor der Frau am Fenster, die mit steifer Hand eine Zigarette an den Mund hält und daran saugt.
Meine Schläfen pochen. Ich grüble über den Irrsinn, der über mich kam, und wie alles geworden ist. Mein Blick richtet sich nun auf Dinge, die tiefer liegen. Was habe ich noch? Meine Freiheit, meine Träume - erledigt. Leute starren mich an. Ich habe Angst bekommen vor ihnen, vor dem Weiterleben, vor dem anders sein. Am liebsten möchte ich diese Räume hier nicht mehr verlassen, bis ich tot bin, und das kann von mir aus bald sein. Von mir lebt eh nur noch die Hälfte.
Auf dieses Leben wurde ich vorbereitet. Alles nur eine Frage der Übung, ich kann sogar wieder Strümpfe anziehn. Meist versuche ich zu schlafen, hab wenig Lust, irgendetwas zu tun. Die Lähmung ist nicht nur körperlich. Lohnt sich dieses Leben noch? Martha hielt dagegen: Lohnt es sich noch, wenn man ohne Arbeit ist? Keine Kinder bekommt? Mit Glatze? Sie redet auf mich ein, dass Einschnitte im Leben Zeit brauchen, und wer bleibe verschont? Pubertät, Wechseljahre, Pensionierung, Scheidung, Gefängnis oder Krankheit - nach einiger Zeit seien die meisten wieder gefestigt, das Leben forme sich jeden Tag neu. Sie besucht mich jetzt häufig, eine Verpflichtung bin ich wohl geworden.
Wenigstens die Pumpe schweigt heute. Sie wälzt sonst das Wasser des Schwimmbeckens hinter den Sträuchern. Nur selten sieht man den Mann darin baden, die Pumpe aber lärmt jeden Tag. Als ginge es nicht um den Spaß im Wasser, sondern darum, es sauber zu halten. Gibt es ein Pumpensyndrom?
Ein Kind ruft etwas von der Straße, ich lehne mich über das Geländer, so weit es geht. Martha steht unten mit dem Mädchen, sie nesteln in dem Korb herum, den ich im letzten Jahr vom Urlaub mitbrachte. Irgendwo im Süden Europas entdeckte ich ihn bei einem Wanderausflug, der dunkle Mann fällt mir ein. Das Stück Pappe, um seine Knie gebunden, und wie er sich nur mit der Kraft seiner Arme bäuchlings vorwärts schob, die Beine hinter sich herziehend. Ich war erschrocken damals, er sah zu mir hoch auf eine Art, als erkenne er mich. Gleich darauf war er davon geschlängelt wie eine Eidechse. Auf einem Stück Pappe. Zu mir dagegen gehört jetzt ein fahrbarer Sitz. Mein Gefährte für immer, seine Technik bestimmt mein Leben, Metall mit Polstersitz als Teil meines Körpers, meine Beine hängen darin wie fremd.
Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, ich höre das Mädchen im Flur, sie findet mich gleich. Klettert auf meinen Schoß, was ich spüre und doch nicht spüre, Kinderaugen vor meinem Gesicht:
„Du, ich muss dir was sagen.“
Martha kommt zu uns auf den Balkon, lacht, hält Blumen in der Hand, „schau was ich habe für dich, sind sie nicht schön?“
Kleine hellrote Rosen, ich halte sie unter die Nase des Kindes, wir versinken beide darin und in ihrem Duft.
„Was willst du mir sagen?“ raune ich in die Blüten hinein.
„Weißt,“ wispert es daraus zurück, „in der Elefantengruppe, da ist ein neuer Junge, der Noah. Und wenn wir groß sind, dann heiraten wir. Kommst du, wenn wir Hochzeit machen?“
Ich lasse den Strauß sinken. Lege ihn vorsichtig auf den Tisch, das Mädchen schaut mich an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und ziehe sie daher an mich, ihr weiches Haar bedeckt meine Hand. Sie hält still, wartet auf Antwort, am Fingerring spielend, ihr kleines Gesicht liegt auf meiner Schulter. Die Heckenschere liegt unten verpackt am Weg, der Mann plaudert mit der Frau am Fenster, Frieden herrscht wieder im Garten. Ein Rotkehlchen landet nicht weit von der Vogeltränke.
„Ach“, sage ich schließlich, „das ist noch lange hin“.
Das Mädchen rührt sich nicht.
„Willst du da sein, wenn ich Braut bin?“ fragt sie leise.
Ich tätschle den Rücken des Kindes und versuche nicht zu weinen. Werde ich da sein, wenn Evi „Hochzeit macht“? Und all die anderen Ereignisse in ihrem Leben, werde ich sie begleiten? Ich möchte mein gewohntes Leben nicht verlassen. Aber das hier anzunehmen und mit allem nicht nur körperlich fertig zu werden, sondern auch mit der Seele: das ist der schwierige Teil.
“Himmelherrgott, verfluchte Scheiße“, tönt es von gegenüber.
Auch andere hatten ihre Träume. Sicher. Aber viele Rollstuhlfahrer finden Arbeit, gehen in Konzerte oder zum Fußball. Das Rotkehlchen wagt sich aus dem Rest der Sträucher heraus, trippelt vor und zurück. Es flattert mit den Flügeln, nimmt noch einmal Anlauf und erreicht das Steinbecken mit Wasser, die Augen überall.
Ich denke nach.
Dann löse ich Evi von mir und richte sie vor mir auf, schaue ihr in die Augen und sage:
„Ja, mein Herz. Ich will da sein.“