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Sommer, nachmittags

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16.08.2009
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Sommer, nachmittags

Ich sitze in der Sonne und lese Stephen Hawking. Eine Amsel verteidigt ihr Revier mit lautem Geschäpper, gegenüber tritt eine Frau ans Fenster. „Himmelherrgott, verfluchte Scheiße“, tönt es herüber wie erwartet. Jeden Tag tritt sie ans Fenster, raucht und flucht so laut, dass jeder es hört. Tourette Syndrom, mutmaßt die Nachbarin.

Unten streckt ein Mann Sträucher nieder. Nach einem Sirren fallen die Äste, die Heckenschere schwingt er über seinem Kopf wie ein Samurai. „Samson!“ ruft er seinen Hund. Das gelbe, nackte Tier ist zum Zaun gerannt und tobt vor der Frau am Fenster, die mit steifer Hand eine Zigarette an den Mund hält und daran saugt.

Meine Schläfen pochen. Ich grüble über den Irrsinn, der über mich kam, und wie alles geworden ist. Mein Blick richtet sich nun auf Dinge, die tiefer liegen. Was habe ich noch? Meine Freiheit, meine Träume - erledigt. Leute starren mich an. Ich habe Angst bekommen vor ihnen, vor dem Weiterleben, vor dem anders sein. Am liebsten möchte ich diese Räume hier nicht mehr verlassen, bis ich tot bin, und das kann von mir aus bald sein. Von mir lebt eh nur noch die Hälfte.

Auf dieses Leben wurde ich vorbereitet. Alles nur eine Frage der Übung, ich kann sogar wieder Strümpfe anziehn. Meist versuche ich zu schlafen, hab wenig Lust, irgendetwas zu tun. Die Lähmung ist nicht nur körperlich. Lohnt sich dieses Leben noch? Martha hielt dagegen: Lohnt es sich noch, wenn man ohne Arbeit ist? Keine Kinder bekommt? Mit Glatze? Sie redet auf mich ein, dass Einschnitte im Leben Zeit brauchen, und wer bleibe verschont? Pubertät, Wechseljahre, Pensionierung, Scheidung, Gefängnis oder Krankheit - nach einiger Zeit seien die meisten wieder gefestigt, das Leben forme sich jeden Tag neu. Sie besucht mich jetzt häufig, eine Verpflichtung bin ich wohl geworden.

Wenigstens die Pumpe schweigt heute. Sie wälzt sonst das Wasser des Schwimmbeckens hinter den Sträuchern. Nur selten sieht man den Mann darin baden, die Pumpe aber lärmt jeden Tag. Als ginge es nicht um den Spaß im Wasser, sondern darum, es sauber zu halten. Gibt es ein Pumpensyndrom?

Ein Kind ruft etwas von der Straße, ich lehne mich über das Geländer, so weit es geht. Martha steht unten mit dem Mädchen, sie nesteln in dem Korb herum, den ich im letzten Jahr vom Urlaub mitbrachte. Irgendwo im Süden Europas entdeckte ich ihn bei einem Wanderausflug, der dunkle Mann fällt mir ein. Das Stück Pappe, um seine Knie gebunden, und wie er sich nur mit der Kraft seiner Arme bäuchlings vorwärts schob, die Beine hinter sich herziehend. Ich war erschrocken damals, er sah zu mir hoch auf eine Art, als erkenne er mich. Gleich darauf war er davon geschlängelt wie eine Eidechse. Auf einem Stück Pappe. Zu mir dagegen gehört jetzt ein fahrbarer Sitz. Mein Gefährte für immer, seine Technik bestimmt mein Leben, Metall mit Polstersitz als Teil meines Körpers, meine Beine hängen darin wie fremd.

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, ich höre das Mädchen im Flur, sie findet mich gleich. Klettert auf meinen Schoß, was ich spüre und doch nicht spüre, Kinderaugen vor meinem Gesicht:
„Du, ich muss dir was sagen.“
Martha kommt zu uns auf den Balkon, lacht, hält Blumen in der Hand, „schau was ich habe für dich, sind sie nicht schön?“

Kleine hellrote Rosen, ich halte sie unter die Nase des Kindes, wir versinken beide darin und in ihrem Duft.
„Was willst du mir sagen?“ raune ich in die Blüten hinein.
„Weißt,“ wispert es daraus zurück, „in der Elefantengruppe, da ist ein neuer Junge, der Noah. Und wenn wir groß sind, dann heiraten wir. Kommst du, wenn wir Hochzeit machen?“

Ich lasse den Strauß sinken. Lege ihn vorsichtig auf den Tisch, das Mädchen schaut mich an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und ziehe sie daher an mich, ihr weiches Haar bedeckt meine Hand. Sie hält still, wartet auf Antwort, am Fingerring spielend, ihr kleines Gesicht liegt auf meiner Schulter. Die Heckenschere liegt unten verpackt am Weg, der Mann plaudert mit der Frau am Fenster, Frieden herrscht wieder im Garten. Ein Rotkehlchen landet nicht weit von der Vogeltränke.

„Ach“, sage ich schließlich, „das ist noch lange hin“.
Das Mädchen rührt sich nicht.
„Willst du da sein, wenn ich Braut bin?“ fragt sie leise.
Ich tätschle den Rücken des Kindes und versuche nicht zu weinen. Werde ich da sein, wenn Evi „Hochzeit macht“? Und all die anderen Ereignisse in ihrem Leben, werde ich sie begleiten? Ich möchte mein gewohntes Leben nicht verlassen. Aber das hier anzunehmen und mit allem nicht nur körperlich fertig zu werden, sondern auch mit der Seele: das ist der schwierige Teil.
“Himmelherrgott, verfluchte Scheiße“, tönt es von gegenüber.
Auch andere hatten ihre Träume. Sicher. Aber viele Rollstuhlfahrer finden Arbeit, gehen in Konzerte oder zum Fußball. Das Rotkehlchen wagt sich aus dem Rest der Sträucher heraus, trippelt vor und zurück. Es flattert mit den Flügeln, nimmt noch einmal Anlauf und erreicht das Steinbecken mit Wasser, die Augen überall.
Ich denke nach.

Dann löse ich Evi von mir und richte sie vor mir auf, schaue ihr in die Augen und sage:
„Ja, mein Herz. Ich will da sein.“

 

Hallo Anhora,

herzlich willkommen hier!

Ein recht interessantes Erstlingswerk, deine Geschichte.
Eine Geschichte über einen Mann (oder ist es eine Frau?) der sich, auf Grund seiner Erkrankung an Lateralsklerose, nicht mehr unter die Menschen traut. Er sitzt in einem Rollstuhl auf seinem Balkon und erträgt schweigend die Marotten seiner Nachbarn. Es fehlt ihm jeglicher Antrieb, sich gegen die Belästigungen (z.B. laute Pumpe) aufzulehnen.
Er hat jedes Lebensziel und Lebensinteresse verloren. Dieses Bild hast du sorgfältig und ideenreich aufgebaut.
Marthas Besuche sieht er als Pflichterfüllung. All ihre klischeehaften Aufmunterungen helfen ihm nicht weiter.
Marthas Tochter bezeichnet er nur als "Mädchen". Das zeigt, auch sie interessiert ihn nicht.
Gegen Ende aber schafft es dieses Mädchen mit einer einfachen Frage, dass er seine Zukunft in einem neuen Licht sieht. Die Frage zeigt ihm, wie wichtig er in ihrem Leben ist und wie gern sie möchte, das er an ihrem Leben teilnimmt. Damit erreicht sie mehr, als Martha mit ihren Besuchen, Ratschlägen und Blumen.

Martha scheint eine Bekannte oder Nachbarin zu sein. Jedenfalls ist sie nicht seine Tochter, sonst wäre Marthas Tochter seine Enkelin und die von ihm gebrauchte Bezeichnung "Mädchen" doch etwas zu seltsam. Dieses Verhältnis solltest du im Text mit wenigen Worten klarstellen. Außerdem würde ich im letzten Absatz, wenn er über die Frage nachdenkt, dem Mädchen einen Namen geben. Er sollte sie (in seinen Gedanken) ab da nicht mehr (so unpersönlich) als Kind und Mädchen bezeichnen. Dadurch würde die Wende in seiner Einstellung zum Leben noch deutlicher werden.

Nun noch ein paar Details:

Jeden Tag tritt sie ans Fenster, raucht und flucht immer denselben Fluch so laut, dass jeder es hört. Tourette Syndrom, meint meine Nachbarin.
Das fett hervorgehobene würde ich streichen. Fluch=Wortwiederholung. Und immer den gleichen Fluch ausstoßen ist kein Merkmal für das Tourette-Syndrom.
+++
Leute starren mich an und sehen weg, sie sollen nicht schauen auf mich.
Würd ich streichen, es passt nicht zu "sie sollen nicht schauen auf mich". Weiterhin würd ich den Satz um basteln, so klingt er nicht gut.
+++
Es lebt eh nur noch die Hälfte.
... von mir.
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Alles nur eine Frage der Technik, ich kann sogar wieder Strümpfe anziehn.
"Übung" würd ich schreiben, zumal du "Technik" später in einem anderen Zusammenhang erwähnst, nämlich die Technik des Rollstuhls.
+++
Martha hielt dagegen: Lohnt es sich noch, wenn man ohne Arbeit ist? Keine Kinder bekommt? Mit Glatze? Sie besucht mich jetzt häufig, ich bin jetzt wohl eine Verpflichtung. Jedenfalls redete sie auf mich ein, dass Einschnitte im Leben Zeit brauchen, und wer bleibe verschont? Pubertät, Wechseljahre, Pensionierung, Scheidung, Gefängnis oder Krankheit - nach einiger Zeit seien die meisten wieder gefestigt, das Leben forme sich jeden Tag neu.
Der Satz passt da nicht so richtig hin. Ich würd den ans Ende setzen, so als Aufstöhnen. Zweimal "jetzt" solltest du vermeiden.
"Jedenfalls" kann gestrichen werden.
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Irgendwo im Süden Europas entdeckte ich ihn bei einem Wanderausflug
Zu ungenau. Mit seinem Gedächtnis ist doch alles in Ordnung, oder?
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Ich war erschrocken damals, er sah zu mir hoch auf eine Art, als erinnere ich ihn an etwas Fernes.
Was soll das sein? Gesundheit? Ich würd das anders ausdrücken.
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Technik, auf die ich keinen Einfluss habe, meine Beine hängen darin wie fremd, Metall mit Polstersitz als Teil meines Körpers.
Warum nicht? Er muss seinen Rollstuhl doch bewegen können.
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Martha kommt zu uns auf den Balkon, lacht, hält Blumen in der Hand, „schau was ich habe für dich, sind sie nicht schön?“ Kleine hellrote Rosen, ich halte sie unter die Nase des Kindes, wir versinken beide darin und in ihrem Duft.
Davor einen Zeilenumbruch. Martha hat ihre Rede beendet, dann handelt der Mann.
+++
Ich lasse den Strauß sinken. Lege ihn vorsichtig auf den Tisch, das Mädchen schaut mich an.
Vorschlag: Ich lasse den Strauß sinken und lege ihn vorsichtig auf den Tisch. Das Mädchen schaut mich an.
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Ich tätschle den Rücken des Kindes und versuche nicht zu weinen. Werde ich da sein, wenn sie „Hochzeit macht“? Und all die anderen Ereignisse in ihrem Leben, werde ich sie begleiten?
Ungefähr ab hier würd ich dem Mädchen einen Namen geben.
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Auch andere hatten ihre Träume. Sicher. Und viele Rollstuhlfahrer finden Arbeit, gehen in Konzerte oder zum Fußball.
Vorschlag: Auch andere hatten ihre Träume begraben. Sicher. Aber viele Rollstuhlfahrer finden Arbeit, gehen in Konzerte oder zum Fußball.
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So, das wars von meiner Seite. Wünsche Dir noch viel Spaß hier!

Gruß

Asterix

 

Hallo Asterix,

ganz herzlichen Dank für deine Anmerkungen! Ich hab mich wirklich gefreut, denn ich kann mir nicht recht vorstellen, wie meine Geschichte wirkt und du hast mir hilfreiche Tipps gegeben.

Nun hatte ich auch endlich Zeit, mich noch einmal intensiv mit dem Text zu beschäftigen und die Überarbeitung habe ich hochgeladen.

Ja, es könnte Muskellähmung sein wie bei Stephen Hawking, es könnte aber auch ein Unfall sein. Das will ich nicht eingrenzen, es geht in der Geschichte nur darum, was es mit diesem Menschen macht, im Rollstuhl leben zu müssen. Es könnte eine Frau sein oder Mann, auch das will ich offen lassen. Die Person könnte jung sein oder alt. Damit ich möglichst viele Leser anspreche, habe ich sozusagen ein paar leere Stellen eingebaut, die jeder selbst füllen kann.

"Martha scheint eine Bekannte oder Nachbarin zu sein."
Könnte auch die Tochter sein, die Schwester, eine Pflegerin oder sonstwer. Martha ist einfach jemand, der versucht beizustehn und zu helfen, wie hoffentlich die meisten Menschen in dieser Situation jemanden haben. Ich habe den Namen Martha gewählt, weil er "Herrin" bedeutet. (Und schön klingt!). Auch hier ein Hinweis, dass sich der/die Gelähmte schwach fühlt.

"Außerdem würde ich im letzten Absatz, wenn er über die Frage nachdenkt, dem Mädchen einen Namen geben."
Du hast Recht. Das Kind ist nicht irgendwer, sondern erinnert die Person daran, dass er noch etwas fühlt. Zwar nicht mit den Beinen, aber mit dem Herzen. Das hat einen Namen verdient!

"... flucht den selben Fluch ..."
Ach, ich fands so schön! Den Klang, meine ich. Aber eigentlich braucht mans nicht, ich habs rausgenommen. Das Tourette-Syndrom ließ ich drin, allerdings wird es zu einer Vermutung der Nachbarin. Ich brauche das, um am Ende der Geschichte darauf zurückzukommen, dass auch andere Menschen krank sind, angestarrt werden usw. Mir fiel keine andere Krankheit ein, die man von Balkon zu Balkon wahrnehmen kann, Tourette-Syndrom kennt warhscheinlich kaum jemand.

"Zweimal "jetzt" solltest du vermeiden."
Da liest man einen Text ständig durch und so einen Patzer übersieht man! jetzt ist er weg.

"Irgendwo im Süden Europas..
Zu ungenau. Mit seinem Gedächtnis ist doch alles in Ordnung, oder?"
Ich habs gelassen um zu zeigen, dass auch das nicht mehr wichtig ist. Da konnte er/sie ja noch gehen, was spielt es noch für eine Rolle, wo er früher war? Ich würde auch kein bestimmtes Urlaubsland nennen wollen, weil das m.E. ablenkt.

"Technik, auf die ich keinen Einfluss habe...
Warum nicht? Er muss seinen Rollstuhl doch bewegen können. "
Was ich sagen wollte: Er/sie muss das benutzen, was man ihm gibt. Einen Rollstuhl kann man bedienen, aber nicht konstruieren, wie man es braucht, jedenfalls kaum ein Betroffener. Dann fiel mir ein, wie viele Arten von Rollstühlen es wahrscheinlich gibt, und dass auch Gesunde mit unterschiedlich ausgestatteten Körpern zurecht kommen müssen, und habs rausgenommen.

"Vorschlag: Ich lasse den Strauß sinken und lege ihn vorsichtig auf den Tisch."
Ich habs in 2 Sätzen gelassen, weil ich damit ausdrücken will, dass mit der Person etwas vorgeht, was Zeit braucht. Da muss etwas verarbeitet werden. Ich lasse den Strauß sinken. Pause. Und lege ihn vorsichtig auf den Tisch. Pause. So meinte ich das. Liest es sich arg holprig?

Deine weiteren Anregungen habe ich alle umgesetzt, weil du Recht hattest.

"Wünsche Dir noch viel Spaß hier!"
Vielen Dank! Ich hab bereits Spaß gehabt beim Überarbeiten, danke nochmal für deine Mühe.

Anhora

 

Hallo Anhora!

Ja, es könnte Muskellähmung sein wie bei Stephen Hawking, es könnte aber auch ein Unfall sein. Das will ich nicht eingrenzen
Schade, ich dachte du hättest dir hier eine sehr schön subtile Möglichkeit ausgedacht, auf eine spezielle Krankheit hinzuweisen, ohne den Leser mit einem lateinischen Fachausdruck zu quälen!

Allgemein: Der Leser braucht schon ein paar Hinweise, damit seine Phantasie nicht in die falsche Richtung läuft oder ihn ein Zuviel an Offenheit nicht abschreckt.

Gruß

Asterix

 

Hallo Asterix,

es bleibt dem Leser ja selbst überlassen, ob er mit dem Hinweis auf Stephen Hawkins Muskellähmung asoziiert, oder einfach auf einen Menschen im Rollstuhl. Genau besehen könnte er auch auf eine Geschichte über Astrophysik erwarten! Das wird später aufgeklärt, es geht um die Lähmung eines Menschen, der offensichtlich noch nicht lange in den Rollstuhl gezwungen ist und der - wie du richtig interpretiert hast - deshalb aufgegeben hat und durch ein Kind erkennt, dass es trotzdem noch Dinge gibt in seinem Leben, für die es sich zu leben lohnt. Das wollte ich damit aussagen.

Ich wünsche dir noch einen schönen Sonntag!

Anhora

 

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