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Sommer, Sand, Sowjetliteratur

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11.07.2021
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Sommer, Sand, Sowjetliteratur

Der Suchscheinwerfer der Küstenwache gleitet über den Strand. Ich versuche mich in meinem Strandkorb so klein wie möglich zu machen, aber ich weiß, es wird mir nichts nützen. Bald werden sie kommen und mich verhaften und mir vorwerfen, dass ich über das Meer abhauen will.

Drei Monate darauf fiel die Mauer. Keiner hatte es jetzt mehr nötig, bei Nacht und Nebel mit dem Boot in den Westen zu rudern, denn endlich konnten alle, die es schon immer wollten, dieses geheimnisvolle weiße Schiff besteigen, das mich immer an den „Weißen Dampfer“ von Djingis Aitmatov erinnerte.

Früher haben meine Mutter und ich immer, wenn wir die Sommerferien in der großen Stadt mit Überseehafen und Werft verbrachten, ehrfurchtsvoll vom Strand aus dabei zugesehen, wie die Fähre nach Gedser, einer Stadt an der dänischen Küste, dabei war, ins offene Meer zu stechen, und in die ferne, unerreichbare Welt entschwand, aus der Bluejeans und die Rolling Stones kamen.

Das ist jetzt, im Sommer Neunundachtzig, schon ewig her. Das letzte Mal war ich vor acht Jahren hier.

Heute wollte ich eigentlich bloß hier übernachten. Seufzend stehe ich auf und gehe, am Alten Strom an den Fischerkähnen entlang, in Richtung Bahnhof. Wie immer stinkt es hier gewaltig.

Die S-Bahn fährt um diese Tageszeit nur noch in großen Abständen, aber ich habe Glück. Mit diesem Doppelstockzug mit den grünen Kunstlederbänken sind meine Mutter und ich hunderte Male an den Strand gefahren. Auf der Hinfahrt standen wir immer zusammengepresst wie Ölsardinen inmitten der Menschenmassen, die es ans Meer zog.

An einer Station in den Randbezirken steige ich aus. Ich bin die Einzige, die hier den Zug verlassen hat, und gehe die Treppe runter, die zu dem Tunnel führt, der die Hochhäusersiedlung mit dem Bahnsteig verbindet. Meine einsamen Schritte hallen dumpf durch die Unterführung.

Mir ist etwas mulmig. Als ich noch ein Kind war, ging im Barnstorfer Wald, in dem ich aber noch nie war, mal ein Vergewaltiger um. Eine Polizistin lief nachts durch dieses Gelände, als Lockvogel, und sie kriegten ihn. Ich malte mir immer aus, wie es gewesen wäre, wenn sie mich an ihrer Stelle da lang geschickt hätten: Es ist nachts. Du bist allein im Wald. Irgendwo lauert der Mörder. Was, wenn die anderen nicht schnell genug sind?

„Er soll erst fünfzehn sein, und sein Vater ist ein ganz hohes Tier.“, erzählte meiner Mutter unsere erste Zimmervermieterin, die am Kröpeliner Tor wohnte, mitten in der Stadt. Als hohe Tiere galten bei uns Leute wie Staatsanwälte, ein General oder ein Professor.

In dem Tunnel, durch den ich gerade gehe, hatte Dio, der hier aufwuchs, mit vierzehn einen Selbstmordversuch unternommen. Er zeigte mir eine Narbe an seiner Hand. Ich vermutete Liebeskummer. Da lag ich falsch. „Jemand hat Lügen über mich verbreitet, und keiner von meinen Kumpels wollte mehr was mit mir zu tun haben.“ Zum Glück fanden sie ihn, und die anderen entschuldigten sich, und nahmen ihn wieder auf in ihre Mitte.

Ich hatte seine Clique und Dio, den man sich von der Statur her so vorstellen muss, wie den gleichnamigen Sänger, der auch kein großer Mann war, in Berlin in der Straßenbahn kennengelernt. An mein Ohr drangen die Laute des vertrauten Heimatdialekts und ich fragte: „Seid ihr von der Küste?“ So kamen wir ins Gespräch. Sie waren zu einem Fußballspiel ihrer Mannschaft hier. „Kannst du uns für eine Nacht bei dir unterbringen?“

Die Jungs von der See, besuchten mich noch oft und brachten immer neue Landsleute mit. Sie stammten alle aus demselben Stadtbezirk in der großen Stadt mit Werft und Hafen, wo die meisten von ihnen auch arbeiteten, und in dem es nur hohe Neubaublocks gibt.

Einmal klopften zwei von ihnen an, als ich gerade zur Arbeit musste. Als ich abends wiederkam, saßen sie vor dem Fernseher. Es lief „Flucht in Ketten“. Ich gesellte mich zu ihnen, und wir drei Landsleute schauten zusammen einträchtig diesen Film. Wenn man am Schluss, wo aus der Ferne schon das Bellen der Hunde zu hören ist, sieht, wie Noah einen Gospel singt und dabei seinen weißen Freund in seinen Armen hält, dann haut mich das jedes Mal um.

„Meine Mutter war fünfmal verheiratet.“ erzählte Dio. Meist waren es Seemänner, die nie da waren, aber sehr gut verdienten. Seine Geschwister hatten alle einen anderen Vater. Seinen richtigen Vater kannte er zwar, im Gegensatz zu mir, aber nur als Kumpel aus der Kneipe. Ich, die alleine mit ihrer Mutter aufgewachsen war, beneidete Dio um seine bunte Familie.

„Mit vierzehn hatte ich meine erste Freundin.“ erzählte er mir.

Mein erster hieß Bernd Benschik. Seinen Namen weiß ich eigentlich nur dadurch, weil am schwarzen Brett im Studentenwohnheim in Biesdorf ein Zettel hing, auf dem stand, dass der Bauarbeiter Bernd B betrunken im Studentenwohnheim randaliert hat. Dort wohnten zu der Zeit auch Arbeiter von außerhalb zusammen mit den Studenten.

Er stammte aus der großen Stadt am Meer, in die ich früher immer in den Sommerferien gereist bin. Unsere ähnliche Mentalität war wohl auch der Grund für die unbewusste Anziehung, die zwischen uns bestand. Schon merkwürdig, dass mein erster ausgerechnet ein Landsmann von mir war, der mir hier in Berlin über den Weg gelaufen war.

Uns hatten sie während des FDJ Studentensommers dorthin für zwei Wochen umgesiedelt, da aus unserem Wohnheim in Lichtenberg in der Zeit ein Touristenhostel wurde.

Im Keller gab es einen Klub, wo wir uns über den Weg liefen.

Oben in meinem Zimmer hielt ich ihm eine Tüte Kirschen hin. „Was soll ich mit Kirschen?“ lehnte er meine Offerte ab, und ging lieber gleich zur Tagesordnung über. Seine Devise war: „Hier wird gerudert und nicht geschludert.“

Er fand es nicht normal, dass ich mit neunzehn noch Jungfrau war, und sah mich skeptisch an. Mädchen ohne Vater fangen wohl entweder zu früh oder zu spät mit der Liebe an.

Es lief auch nicht wirklich unkompliziert, so stellte ich mir eine Abtreibung ohne Narkose vor, und ich hatte erst mal für eine Weile die Nase voll vom Sex.

Ferien am Meer

„Heimat, Nie tauschte ich dich gegen leichtere Tage ein. So wie man die Mutter zum Tausche nicht gäbe drein. So wie man in der Liebe weiß um den sicheren Hort...“ Diese Worte der lettischen Dichterin Árija Elksne las ich in der „Sowjetliteratur, einem Magazin, das ich mir immer im Zeitungskiosk am Strand kaufte, wenn wir in den Sommerferien ans Meer fuhren

Mit meiner Liebe zu meiner mecklenburgischen Heimat war es nicht weit her. Ich träumte nur davon, mich aus dem Staub zu machen. „Du hast es ja auch getan.“ erwiderte mein Freund mir, als ich ihm davon erzählte. So hatte ich das noch nie gesehen.

Schon auf der Jugendweihefahrt wollte ich verschwinden. Dann hätte das damals noch gar nicht so große Berlin eine dreizehnjährige Neubürgerin gehabt.

Und mit meiner Mutter verstand ich mich auch nicht besonders. Und mit dem sicheren Hort in der Liebe ist es auch so eine Sache.

Wenn wir in den Sommerferien in die große Stadt am Meer fuhren und bei unserer Bekannten in dem Hochhaus übernachteten, lag ich immer in der gleißenden Sonne am Strand, langweilte mich grässlich und blätterte in dieser Zeitschrift namens „Sowjetliteratur“ mit Gedichten, Bildern und Geschichten. Sie wurde wohl am Kiosk nicht übermäßig nachgefragt, denn sie lag immer in der Auslage, und war meist schon ganz ausgebleicht von der Sonne.

Die Geschichten fingen immer so an: „Wohin gehen sie Afansi Afanasjewitsch?“ sagte sie zu dem weißhaarigen Mann. Neben ihm stand der dreibeinige Hund Petja und wedelte mit dem Schwanz.“

Ich wunderte mich, dass die Russen zu Eis immer Speiseeis sagten, Konfekt kiloweise kauften und Töpfe als Kasserollen bezeichneten. Das verwechselte ich immer mit Kasematten, was Knast bedeutet. Außerdem fachten sie ständig den Samowar an, kochten Buchweizengrütze und tranken Tee durch einen Zuckerwürfel. Und was ist eigentlich Zichorie?

Die Maler und auch die Dichter waren von der Moderne völlig unangekrankt, und schrieben noch so wie zu Tolstois Zeiten, Salinger, Hemingway oder Garcia Marquez hatten sie wohl noch nie in der Hand gehalten, und sie malten wie Ilja Repin, weshalb alles ein bisschen antiquiert wirkte. Wahrscheinlich ließ die Zensur nichts Schräges durch. Aber trotzdem waren manche Geschichten ganz gut. Zu der Zeit war ich ein Teenie, und natürlich interessierten mich am meisten die Liebesgeschichten. Ich hatte die Erwartung, dass das Leben, das vor mir liegt, eine einzige Liebe sein wird.

Besonders die eine Story ist mir in Erinnerung geblieben. Eine junge Frau kommt braungebrannt aus dem Urlaub. Auf dem Flughafen lernt sie einen Lehrer kennen. Eigentlich hatte sie sich, die in einem winzigen Dorf der riesigen Sowjetunion die Poststelle führt, schon damit abgefunden, sitzengeblieben zu sein.

Die beiden heiraten, und sie wird schwanger. Schüler spielen ihrem Mann einen Streich und erschrecken sie dabei so, dass sie ihr Kind verliert. Nach einer Weile erzählen die Leute im Dorf ihr, dass ihr Mann eine andere hat, und sagen ihr, wo die beiden sich treffen.

Sie geht da hin und sieht das Pärchen Arm in Arm. Nach der Scheidung trägt sie ihr Schicksal tapfer und hat sich damit abgefunden, nie mehr eine Familie zu gründen, weil es dort keine ledigen Männer gibt, und außerdem heiratet da sowieso keiner eine Frau über Dreißig, die außerdem noch geschieden ist. Das sollte es also mit der Liebe gewesen sein.

Ihre Geschichte hatte mich schwer erschüttert. Sie hatten einen mattgesetzt, und dann erwarteten sie auch noch von einem, dass man sowas gut fand.

Traurige Frauenschicksale schienen auf einen zu lauern. Frauenschicksale, die von der Gnade von Männern abzuhängen schienen. So stellte sich das der Autor dieser Story in der Sowjetliteratur, ein russischer Obermacho, jedenfalls vor. Das man immer gleich so am Arsch ist, wenn ein Mann einen verlässt. Was würden Emma Goldmann, Simone de Beavoir und Shulamit Firestone dazu sagen. Ich war damals erst sechzehn, glaubte an den Kommunismus und dachte naiv, dass sich mit der Erstürmung des Winterpalais auch die Situation für die Frauen entscheidend verbessert hätte.

Ich habe mal im Fernsehen eine Sendung über Mädchen gesehen, die einfach nichts mehr essen wollten. Keiner konnte sich erklären warum, auch ihre Mütter waren ratlos. Ich dagegen wusste es. Mir war klar, dass sie keine Frauen werden wollten, und mit Hungern die Entwicklung weiblicher Formen unterdrückten. Das war ihre Art der Rebellion.

Von dem Frauendasein versprachen sie sich nicht allzu viel Gutes. Sie sahen, auch am Beispiel ihrer Mütter, dass das Frauendasein Anpassung bedeutet.

Ich konnte sie verstehen. Auch mir erschien die Frauwerdung so, als wenn sie einen in ein enges Korsett einschnüren und die Bänder dabei nach und nach immer mehr zuziehen.

Hinter mir am Strand wurde gelacht. Ich schaue ärgerlich von meiner Sowjetliteratur auf und bemerke das Mädchen, das in einer Bude an der Strandpromenade Bratwürste verkauft und ihren Freund. Sie ist ein paar Jahre älter als ich. Die beiden laufen Hand in Hand ins Wasser und kugeln sich danach lachend im Sand. „So lässt man sich das Leben gefallen“, denke ich. Heute kann ich es ja zugeben: ich benutzte sogar einen Taschenspiegel, um dem interessanten Treiben zuzuschauen.

Irgendwo musste ich es ja lernen, aber natürlich haben sie nicht ... Ich kam aus einer matriarchalisch geführten Familie, in der keine Männer stattfanden. Auch die beste Freundin meiner Mutter war alleinerziehende Mutter, unsere beiden Rostocker Zimmervermieterinnen ebenfalls. Und mein Opa, den ich alle Jahre mal dabei erleben konnte, wie er mürrisch am Küchentisch saß und mit der Welt über eins war, riss es auch nicht raus.

In den Ferien schlief ich immer zwischen ihm und seiner zweiten Frau auf der Besucherritze, horchte misstrauisch auf ihre Atemzüge, während die Wanduhr schlug und bildete mir ein, dass ich morgens zwischen zwei Leichen aufwache. Das kam daher, weil sie über nichts anderes als über Krankheiten redeten. Aber der Sensenmann, den sie schon dicht auf ihren Fersen wähnten, ließ noch lange auf sich warten.

Meine Oma wurde 98 und mein Großvater 85. Warum hast du Opa geheiratet?“ fragte ich meine Oma. „Weil ich Witwe war und er ein Witwer, der eine Haushälterin brauchte, haben wir uns aus Vernunft zusammenschreiben lassen.“

Wenn ich mir die beiden so ansah, nahm ich mir vor, dass ich mich später von nichts anderem als von der reinen Leidenschaft leiten lassen würde.


Der Stadtbezirk, durch den ich in dieser Nacht, im letzten Sommer vor dem Fall der Mauer, laufe, ist mir vertraut. Hier war ich oft in den Ferien, da hier die Frau mit ihren beiden Töchtern wohnte, die uns immer ein Zimmer vermietete. Sie war vor ihrem Umzug in die Hochhaussiedlung, die Nachbarin unser ersten Wirtin am Kröpeliner Tor gewesen. Sie kam aus demselben Dorf wie wir, und meine Mutter und ich waren für sie ein Stück Heimat.

Betty und Marie, beide lieblich und sanftmütig und ein paar Jahre jünger als ich, waren meine Freundinnen, und ich nannte sie, bei denen ich schon dabei zugesehen hatte, wie sie als Babys auf dem Küchentisch ihrer Oma in der Wanne gebadet wurden, meine beiden Mädels. Ihre Großmutter war in unserem Dorf meine Kinderfrau gewesen. Ich liebte sie wie Schwestern.

Leider mussten sie bald nach unserer Ankunft immer für drei Wochen ins Betriebsferienlager und danach noch in ein anderes von der Schule, und zum Schluss waren noch zwei Wochen FDGB Heim mit ihrer Mutter dran. Die ganzen herrlichen acht Wochen Sommerferien waren verplant. Ihre Mutter hielt die Leinen kurz. Sie, die alleinerziehend war, wollte nichts falsch machen, und hatte Angst, dass Betty und Marie bei zu viel Freiheit in der großen Stadt auf die schiefe Bahn geraten, und zu früh mit der Liebe anfangen.

Misstrauisch beobachtete sie die Mädchen, die unten am Fuße der Hochhäuser mit Jungs zusammenstanden, oder die mit einem Ghettoblaster auf der Tischtennisplatte saßen, und die Beine baumeln ließen.

Vielleicht hat die Mutter von Betty und Marie mit der Kontrolle ein wenig übertrieben, denn es könnte der Grund dafür sein, dass die beiden jetzt weit entfernt von ihr und der großen Stadt an der Küste leben.

Ich brachte sie morgens immer zum Bus. Sie stiegen mit wenig begeisterten Gesichtern ein. Ich konnte sie verstehen, denn ich kannte Ferienlager. Drei Wochen mit ständigem Badeverbot, Magenknurren, Doppelstockbetten, Lungenhaschee, Mückenstichen und ätzender Langeweile lagen vor ihnen. Das Essen war meist so schlecht gewesen, dass wir uns abends, wenn wir im Bett lagen, immer gegenseitig sehnsüchtig etwas von knusprigen Eierkuchen und Schokoladenpudding vorgeschwärmt haben.

Trotz der Mühseligkeiten hatten diese Aufenthalte doch etwas Gutes für mich gehabt, denn im Schwimmlager wurde ich aufgeklärt, wie Kinder entstehen, von einem Mädchen, die im Doppelstockbett über mir schlief, und dessen Mutter damit unverklemmter umging als meine. Ihr Liebesleben war Dorfgespräch. Ich hätte nie vermutet, dass ein gewisser Körperteil, den ich schon öfter bei Jungs gesehen hatte, dabei Bedeutung hat. Meine Mutter, die mir auf meine Fragen etwas vorgelogen hatte, wollte sich bei dieser Frau beschweren, anstatt ihr dankbar zu sein.

Und mit zwölf, im Ferienlager auf dem Darß, wurde durch das Gerede der anderen, die alle aus der Großstadt waren, und mit ihren Erfahrungen angaben, mein Interesse für Zungenküsse geweckt. Kurz darauf konnte ich das mit eigenen Augen sehen. Es war in Leipzig, und wir kamen gerade von der Kleinmesse, einem Rummel. In dieser Stadt hatte meine Mutter studiert, und es zog sie immer wieder hierher.

Interessiert beobachtete ich einen Mann und eine Frau, die sich küssten.

Das Bild, wie die beiden engumschlungen an der Straßenbahnhaltestelle stehen, die Frau sich zu dem Mann hochreckt, und wie er sich zu ihr runterbeugte, werde ich nie vergessen. Und ich sah es mit eigenen Augen. Die Frau hatte dem Mann ihre Zunge in den Mund gesteckt. Eine Ahnung der Lust wehte mich an.

In meinem letzten Ferienlager, es war auch an der Ostsee, auf Rügen, und ich war mit fünfzehn die älteste, kletterten nachts immer ein paar Jungs in unsere Baracke. Eigentlich hatte fast jede einen Freund.

Das war harmloser, als es sich anhört. Ich glaube, da passierte nicht viel, obwohl, ich weiß es nicht. Es ging in erster Linie um Nähe. Sie kuschelten wohl nur, und es wurde nach dem kleinen Unterschied getastet. Bestimmt sind sie später gute Ehefrauen und Stützen der Gesellschaft geworden, und denken noch manchmal, wenn sie in ihrem Büro sitzen, oder vor einer Schulklasse stehen, denn Kinder ergreifen ja oft den Beruf ihrer Eltern, und das Ferienlager war von der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung, an unser Ferienlager der Liebe zurück.

Im Grunde waren wir alle brave Mädchen, was bleibt einem auch anderes übrig, wenn man mit dem Lehrer zusammen am Frühstückstisch sitzt. Da kann man es seinen Eltern nicht antun, dass einem vor dem Fahnenappell ein Tadel ausgesprochen wird, weil man in der großen Pause hinter dem Geräteschuppen geraucht hat.

Wenn wir abends in unseren Doppelstockbetten lagen, unterhielten wir uns über die Liebe, die ja noch vor uns lag. Die jüngste von uns, sie war dreizehn, und hatte die größte Klappe, behauptete sogar von sich, keine Jungfrau mehr zu sein. „Mein Freund ist achtzehn und Lehrling bei der Werft. Er hat mir gesagt, ich bin noch zu jung dafür.“ Aber sie setzte sich durch. Das Mädchen kam übrigens auch aus der Stadt am Meer, in der ich immer in den Sommerferien war.

„Kennt ihr den Film „Die letzte Vorstellung“?“ fragte sie. Sie, als Tochter eines Schuldirektors, durfte bestimmt bei sich zu Haus keine Westfernsehen kucken, obwohl man das in der großen Stadt am Meer empfangen konnte, und es alle in ihrer Klasse sahen. Aber vor kurzem war dieser amerikanische Film von Peter Bogdanovich an einem Sonnabendabend im ersten DDR Programm gelaufen, und hatte mich gründlich verstört. „Habt ihr auch gehört, wie das Bett geknarrt hat? wollte sie von uns wissen.

Ich sah die Frühreife ein paar Jahre später am Strand in ihrer Stadt wieder, da war sie siebzehn und hochschwanger, was mich auch nicht wunderte. Da hatte sie also rechtzeitig vorgesorgt, dass wir Fischköpfe nicht aussterben.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich verrückt nach Filmen bin?

Ohne Fernsehen hätte ich mir mein Leben gar nicht vorstellen können. Es war für mich, die auf dem Dorf aufwuchs, mein Auge in die Welt. Bevor meine Mutter einen Fernseher anschaffte, da war ich acht oder neun, verliebte ich mich immer in Schülerinnen von ihr. Ich wusste es nicht besser. Ich hatte kein Vorbild für eine Mann Frau Beziehung. Ich lernte die Liebe aus dem Fernseher.

Ich winkte Betty und Marie, die ins Ferienlager fuhren, hinterher. Der Abschied brach mir das Herz, denn ich würde meine beiden Lieblinge erst im nächsten Sommer wiedersehen.

Aber bestimmt trafen sie ja nach drei Wochen, den Kopf angefüllt mit neuem theoretischem? Wissen über Kusstechniken und die Funktion gewisser Körperteile, wieder in ihrer Heimat ein.

Ich liebte die beiden Mädchen und auch unsere Zimmervermieterin.

Die Mutter von Betty und Marie, die mehr eine Intellektuelle war, würde bestimmt nichts dagegen gehabt haben, wenn sie beruflich in eine künstlerische Richtung gegangen wären. Aber eine Karriere beim Film hätte ihnen nicht offen gestanden. Wie sollte das gehen? Bei ihnen wurde der Fernseher fast nie eingeschaltet, so dass ihr Wissen auf dem Gebiet der Filmkunst sich in Grenzen hielt. Warum ihre Mutter das verboten hatte, konnte ich nicht verstehen.

Unsere Zimmervermieterin, die Mutter von Betty und Marie, las viel und war sehr weltläufig. Ich hatte immer die Hoffnung, dass ich mit ihr, die mir in ihren Ansichten wesentlich moderner zu sein schien als die Frauen, die ich kannte, welche aber in dem kleinbürgerlich, konservativen Klima, dass bei uns auf dem Dorf herrschte, zurechtkommen mussten, über das reden könnte, was ich dachte.

In dieser Beziehung aber wurde ich enttäuscht. Im Gegenteil, mich beschlich eher das Gefühl, dass sie mich, in der sie vielleicht ein altkluges, verwöhntes Gör sah, insgeheim gar nicht mochte, und Angst hatte, dass ich Betty und Marie ungünstig beeinflusse.

Vielleicht sah sie in mir, die langsam anfing, die Blicke der Männer auf sich zu ziehen, auch die andere Frau. Ich machte damals denselben Fehler, den ich heute noch mache, indem ich Leute, in denen ich einen unabhängigen Geist spüre, überschätze und zu viel von ihnen erwarte.

Sie war eine Laborantin. „Die Leute haben doch selbst schuld, wenn sie eine Fischvergiftung bekommen. Warum sind sie zu geizig, und werfen ihn nicht weg, wenn er stinkt.“ Diese Worte von ihr, die immer die Proben von Vergiftungsopfern untersuchen musste, habe ich heute noch im Ohr, und mir wird jedes Mal mulmig zumute, wenn ich Fisch esse.

Außerdem war sie auch eine kluge Frau und Menschenkennerin, und ich hatte immer den Verdacht, dass sie mich durchschaute.

Das ich nicht das nette Mädchen, die brave Tochter und strebsame Schülerin war, als die ich mich gab, war ihr bestimmt schon aufgefallen. Sie sah in mir, die ein bisschen zu sehr nach Aufmerksamkeit und nach intellektuellen Reibungsflächen suchte, was Truman Capote in dem Alter bestimmt genauso ging, wohl schon die zukünftige Querulantin.

Obwohl sie auf der einen Seite einen intellektuellen Touch hatte, war sie auch andererseits wieder sehr konservativ. Zum Beispiel nahm sie ihrem Neffen übel, dass er als Student in Weimar in friedensbewegten Kreisen verkehrte, vielleicht nur weil er in eine Pastorentochter verliebt war, deshalb ins Visier der Stasi geriet, und zwangsexmatrikuliert wurde.

Dadurch wurde auch die restliche Familie überprüft, und Betty bekam keine Lehrstelle als Sekretärin bei der Seerederei. Man muss aber berücksichtigen, dass sie Ärger vermeiden wollte, da sie ihre Kinder allein großziehen musste.

Ihrem Neffen ist es noch richtig schlecht ergangen. Der Ärmste fiel in ein tiefes Loch. Er, der schon an seiner Diplomarbeit geschrieben hatte, bekam keine Arbeit, auch nicht als einfacher Handlanger. Er musste wieder zu seinen Eltern in die Kleinstadt in Mecklenburg zurückkehren, wo jeder ihn kannte.

Das Dilemma, in dem er sich befand, war, dass er in Wahrheit gar kein Umstürzler war, sondern nur ein paar Leute aus Künstlerkreisen kannte, und dort irgendwelchen IMs aufgefallen war, die ihrem Führungsoffizier etwas liefern mussten. Sie sahen ja in jedem einen Staatsfeind. Wenn er wirklich dazugehört hätte, wäre bestimmt eine Stelle als Hausmeister in der Kirche für ihn abgefallen.

Sein Vater, der LPG-Vorsitzender und Genosse war, verlor den Glauben an den Staat. „Eigentlich bleibt meinem Sohn ja nur noch, einen Ausreiseantrag zu stellen.“

Durch seine Beziehungen konnte er aber als Hilfsarbeiter auf dem Bau arbeiten.

Seine Situation stelle ich mir nicht einfach vor. Es könnte sein, dass er ein gefundenes Fressen für seine Arbeitskollegen darstellte.

Vielleicht nutzten die Jungs vom Bau die Gelegenheit sich über seine Person, an „denen da oben“ zu rächen, als deren Vertreter sie ihn, der mal studiert hatte, sahen. Da spielten wohl auch Schadenfreude über sein Pech eine Rolle, diffuse Neidgefühle lebten wieder auf, die sie früher immer gegenüber den Mitschülern hatten, die die Matheolympiaden gewannen, und ein Gespür für seine geistige Überlegenheit. Nach den klassenbewussten Arbeitern, die in DDR Romanen vorkamen, suchte man dort vergeblich.

Solche aufrechten Proletarierpersönlichkeiten, die so waren wie die, die mit Karl und Rosa zusammen beim Spartakusaufstand gekämpft hatten, und gegen die Freikorps in den Generalstreik traten, fand man in unseren sozialistischen Betrieben nicht.

Und jeglicher Glauben an die Menschheit wird ihm wohl geschwunden sein, als er nach der Wende seine Stasiakte lesen konnte und erfuhr, wer seine vermeintlichen Freunde und Freundinnen wirklich waren.

Sein Vater hatte durch diese Enttäuschung, denn er hatte an den Sozialismus geglaubt, sehr zu trinken angefangen, und wurde nicht alt. Eigentlich haben sie ihn auch auf dem Gewissen. Die Stasitypen sind nach der Wende viel zu gut weggekommen. Durch sie wurden viele Familien zerstört und Lebenswege abgeknickt. Heute sagen sie alle, sie haben keinem geschadet.


Vor einer Weile hatte unsere Zimmervermieterin einen Nervenzusammenbruch erlitten. „Marie hat mich morgens auf dem Küchenfußboden gefunden, von dem ich mich nicht mehr selbst erheben konnte.“ Nach ein paar Wochen in der Klinik in Gehlsheim ging es ihr besser. Ich denke heute, dass es damals entweder um Liebeskummer oder über Mobbing auf Arbeit ging.

Aus dem Ort, aus dem ich komme, war auch ein Mädchen in Gehlsheim gewesen. Sie hatte ständig versucht sich umzubringen, und sie mussten Scheren und Messer vor ihr verstecken. Das erste Mal war sie in Gehlsheim, als sie in der Pubertät war. Später erging es ihrer Schwester genauso. Als nach der Wende das Thema Missbrauch öffentlich gemacht wurde, denn früher war das kein Thema, kam mir ein Verdacht. Bei uns im Dorf wusste jeder, dass der Nachbar auf leisen Sohlen zur Nachbarin rüber geschlichen war, aber so etwas wollten die Leute nicht wahrhaben. Das war ihnen wohl zu ungeheuerlich.

Außerdem bemerkte unsere Zimmervermieterin, die tiefer sah als andere, dass es zwischen meiner Mutter, die sie mochte, da spielte wohl ein gewisses Solidaritätsgefühlt unter Alleinerziehenden eine Rolle, und mir nicht stimmte. Bestimmt gab sie mir die Schuld. Viele, die ihre aggressive, hysterische Seite nicht kannten, hielten meine Mutter für eine Heilige, die sich für ihr Kind aufopferte, und mich für undankbar, oder sie ahnten etwas, und wollten es nicht sehen, um nichts unternehmen zu müssen, was mir als wahrscheinlicher erscheint. Warum ich für die viele Prügel, die ich kassierte, auch noch dankbar sein sollte, erschloss sich mir nicht.

Ich hatte immer das Gefühl, meine Mutter wollte mich, die in ihren Augen ein Teil des Mannes war, der sie sitzengelassen hatte, zerstören, um sich an meinem Vater zu rächen, und hasste mich insgeheim. Vielleicht hat sie das auch irgendwie geschafft.

Eigentlich waren wir wie ein Ehepaar, das nicht zusammenpasste, und für das es besser gewesen wäre, sich zu trennen. Aber als Mutter und Tochter waren wir auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet. Tatsächlich verstanden wir uns erst besser, als ich weit weg in Berlin war.

Das häusliche Drama mit meiner Mutter und mir ist vielleicht gar nicht deshalb entstanden, weil mein Vater bei seiner Familie blieb, sondern dadurch, dass er sich dazu entschlossen hatte, den Kontakt zu seiner ehemaligen Geliebten völlig abzubrechen, und womit er den blanken Horror auslöste, weil sie sich dafür an mir rächen wollte. Die letzte Postkarte, die ich fand, hatte er geschrieben, als ich sechs Jahre alt war.


Zurück in den Sommer vor der Wende, zwanzig Jahre nach dem Woodstockfesival.

Zwischen den Hochhäusern laufen keine Menschen mehr. Ich drücke die Klinke einer Eingangstür runter, und sie ist zum Glück nicht abgeschlossen. Ich nehme zwei Fußmatten, lege sie auf den Treppenabsatz, rolle mich darauf zusammen und erwarte den nächsten Morgen.

Nachdem eine Beziehung in die Brüche gegangen war, hatte ich mich spontan im Vorwendesommer in Berlin, wo ich inzwischen lebe, an die Straße gestellt und bin einfach ins Blaue getrampt. Insgesamt sind es wohl drei Wochen gewesen. Was mir mehr zu schaffen machte als mein gebrochenes Herz, war die Demütigung, verlassen worden zu sein. Was machte ich falsch? Was stimmte nicht mit mir? Woher kam bloß diese verhängnisvolle Anziehungskraft auf Leute, die es nicht gut mit mir meinten? Scheinbar war ich in einer Zeitschleife gefangen, wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“.

Alle, denen ich begegnete, tippten sofort auf Liebeskummer. Übernachtet habe ich meist im Freien oder in Hauseingängen. Vielleicht war ich im Grunde nichts weiter als eine Kleinbürgerin, die ausflippte, und deren Weltbild ins Wanken geriet, als sie bei der Suche nach dem kleinen Glück scheiterte.

Den, wegen dem ich nicht mehr weiter machen konnte wie bisher, und in meinen Grundfesten erschüttert war, so dass ich alles Bisherige in Frage stellte, traf ich auf einem Konzert in einer Kleinstadt bei Berlin. Wir spielten mal wieder Woodstock auf der grünen Wiese. Wir wollten es anders machen als unsere Alten, ich dachte an meinen Vater, den ich nicht kannte, und waren auf der Suche nach echten Gefühlen.

Eigentlich wollte ich nichts von ihm und versuchte ihn abzuschütteln. Vielleicht spielen da ererbte Überlebensinstinkte eine Rolle. Ich hätte darauf hören sollen. Aber er blieb hartnäckig.

Mich störte, dass er mich ansah, als wenn ich eine Nutte wäre. Sein Blick war genauso notgeil, wie der Blick, mit dem der Freier, der im Hotel auf sie wartet, Jane Fonda ansah, die in „Klute“ eine Edelprostituierte spielt. „Hallo, ich bin Bree. … Na was haben sie sich denn so gedacht mit uns beiden? … Das Finanzielle erledige ich gern vorher…Für´n Fünfziger bist du gut dabei. Wenn du Sonderwünsche hast, wird´s ein bisschen teurer.“ Man sieht, wie der Mann ihr was ins Ohr flüstert. Sie: „Also das macht dann nen Hunderter.“

Er hielt mich wohl für so was Ähnliches.

Später habe ich mir überlegt, dass mich vielleicht sogar das an ihm gereizt hat und unbewusst angezogen hat. Vielleicht war ich eine Sadomasochistin, was wohl mit meiner Kindheit mit einer gewalttätigen Mutter zu tun hatte und suchte instinktiv nach Männern, die mich demütigen würden. Das hört sich ziemlich krank an, aber wir haben alle unsere Dämonen in uns.

Nachts, in meinem Zelt, wo noch andere schliefen, suchte er sich einen Platz neben mir. Eigentlich spielte von meiner Seite dabei ein gewisses Woodstock Feeling die ausschlaggebende Rolle. „Wir sind alles Brüder und Schwestern.“ dachte ich, und strich ihm durch die Haare. Wir sahen uns im Dunkeln in die Augen. Irgendwie begann mein Widerstand zu bröckeln. „Vielleicht ist das hier die große Liebe?“ dachte ich. Ich wollte kuscheln, auch weil die Nacht im Zelt kalt war, denn die Decken hatte ich an die anderen verteilt, er wollte mehr. Morgens verschwand er, und ich hatte die zweifelhafte Genugtuung, ihn richtig eingeschätzt zu haben.

Dann hörte ich ein paar Monate nichts von ihm, der in einer anderen Stadt studierte, aber musste viel an ihn denken. Eines Tages stand er plötzlich vor mir, wie aus dem Boden gewachsen. Er musste sich damals meine Adresse gleich aufgeschrieben haben.

Das er wieder aufgetaucht war, lag vielleicht nicht in erster Linie daran, dass er sich in mich verliebt hatte, sondern dass es gar nicht so einfach für einen Mann ist, eine Frau dazu zu bewegen, mit ihm zu schlafen. Deshalb versuchen sie oft alte Kontakte aufzuwärmen. Mir ist mal aufgefallen, dass man nach einem One-Night-Stand oft schnell verlassen wird, aber zu neunzig Prozent, vielleicht wäre die Prozentzahl sogar noch höher, aber in einer so großen Stadt wie Berlin läuft man sich nicht so häufig über den Weg, versuchen sie wieder bei dir zu landen.

Einmal bezeichnete er mich als Menschenfreund. Er, der mir übel mitspielte, schien zu glauben, dass das eine naive Spezies Mensch ist, die man benutzen kann.

Wenn man von anderen Menschenfreund genannt wird, ist das ein Zeichen dafür, dass Gefahr im Anzug ist, und die Alarmglocken sollten bei einem angehen.

Kennt ihr die Stelle im „Kleinen Prinzen“, wenn der Fuchs sagt: "Wenn du mich zähmst wird mein Leben voll Sonne sein. Ich werde den Klang deines Schrittes kennen, der sich von allen anderen unterscheidet."?

Er hatte mich gezähmt, aber seine Gefühle waren wohl bloß geheuchelt, und nach einiger Zeit verschwand er einfach so von der Bildfläche, was wohl auch daran lag, dass ich damals in einer schwierigen Situation steckte, denn er erwartete von einer Frau, dass sie funktionierte.


Ein junger Mann, den ich im Sommer 89 beim Trampen kennenlernte, sagte zu mir: „Ein hübsches Mädchen wie du zieht die Männer an, aber sie kann sie nicht halten.“, was ich irgendwie für einen merkwürdigen Spruch hielt, aber andererseits fühlte ich mich auch geschmeichelt.

Ich kann bei ihm übernachten, aber erst nachdem eine riesige Katze widerwillig ihren Stammplatz geräumt hat, und morgens zeigt er mir ein großes Album, in dem nur Fotos von Frauen sind. „Meine erste war meine Cousine.“ Er spielt mir etwas auf der Gitarre vor. „Du kennst doch den Schauspieler aus dem Film… Mit dem war ich bei der Armee auf der Stube. Wir sind Freunde geworden, und er hat mir das Gitarre- spielen beigebracht.“

Das grasgrüne Auto hält an der Autobahn, obwohl das verboten ist.

Zufälle gibt es. Der Fahrer, ein Schauspieler, den ich aus dem Kino kenne, ist derselbe, der dem jungen Mann mit der Katze, bei dem ich übernachtet habe, bei der Armee die Griffe auf der Gitarre gezeigt hat. Der Film*, in dem ich ihn gesehen habe, ist der lustigste Film von der Welt und feiert die Freundschaft. Es geht um zwei Kumpels, die sich von der Armee kennen, und nach ihrer Entlassung in einem kleinen norddeutschen Städtchen Fuß fassen wollen. Er stammt aus derselben Gegend, aus der ich komme, nicht weit von meinem Dorf entfernt. Vor ihm schien eine große Karriere als Komiker zu liegen.

Als ich ihm sage, dass ich ihn im Kino gesehen habe, ignoriert er das. Scheinbar hört er das nicht gern. Habe ich da einen empfindlichen Punkt berührt? Ich habe sowieso nie verstanden, warum sein Partner den Preis als bester Newcomer bekommen hat und nicht er. Er war es doch, der den Film mit seinem Witz und Charme gerockt hat. „Ob er und der andere Schauspieler wohl wirklich Freunde gewesen sind, und das nicht nur gespielt haben?“ denke ich. Aber ich traue mich nicht, ihn danach zu fragen, da er auf das Thema nicht gut zu sprechen zu sein scheint.

Er erzählt mir, dass er sich auf seine Musik konzentrieren will. Das ist bestimmt ein Fehler gewesen, denn in dem Film war er genial, seine Musik haut mich nicht um. Selbst unter seine Musikvideos schreiben die Leute: „Wann spielst du mal wieder?“

Ich will endlich mal meinen Vater kennenlernen, und trampe in das Dorf, von dem mir meine Mutter erzählt hat, dass er hier lebt, und wo ihre erste Stelle als Lehrerin war.

Eine Tür geht auf, und ein Mann, in dessen Gesicht ich mich widergespiegelt sehe, und von dem ich das Gefühl habe, dass er alles über mich weiß, fragt mich, was ich will, und will mir die Tür gleich wieder vor der Nase zu machen. Obwohl ich ihm sehr ähnlichsehe, entspricht die zerzauste junge Frau, die er vor sich sieht, absolut nicht seinem Typ Frau.

Ich glaube er überlegte, ob sie ihn nicht eher an die Mädchen im Jugendwerkhof erinnerte, wo er als Erzieher gewesen war.

Trotzdem ich alles so vorausgesehen hatte, war ich doch geschockt, als er und seine Frau mich nach zehn Minuten hinauskomplementierten. Ist eine Paarbeziehung ein Egoismus Pakt zum gegenseitigen Nutzen?

Also stiefelte ich wieder los mitsamt meinen ungelösten Fragen. Irgendwie fand ich den alten Knaben auch cool, der sich nicht von überflüssigen Sentimentalitäten leiten ließ und mich ohne Wenn und Aber rausschmiss, und dazu stand, zu gar nichts zu stehen. Das hatte was. Und wenn ihr mich jetzt fragt, ob ich total geschockt war? Nein, das war ich nicht. So hatte ich das erwartet. Wir beide kannten uns ganz genau, auch wenn wir uns vorher nie gesehen hatten.

Als meine Mutter mal auf einem Lehrgang war, hatte ich systematisch die Wohnung durchstöbert, und im Kleiderschrank zwischen den Bettlaken war ich fündig geworden.

Ein Etui mit einem Packen Briefe war dort versteckt. Die Schrift war schwer zu entziffern, aber es waren Briefe meines Vaters.

Teilweise waren sie sehr intim, so dass ich schon ein schlechtes Gewissen bekam, das ich aber beruhigte, indem ich mir sagte, dass sie das Einzige waren, was ich von meinem Vater besaß, teilweise beschrieb er aber auch seitenweise seine Arbeit als Lehrer und das Dorfleben.

Die letzte Postkarte hatte er geschickt, da war ich sechs Jahre alt.

Leider fand ich kein Foto von ihm. Aber bei einer gründlicheren Suchaktion, meine Mutter, die Lehrerin, war mal wieder auf einer dieser Fortbildungen, auf die sie sie fast jede Ferien schickten, entdeckte ich ein kleines grünes Album. Auf jeder Seite war ein Foto, auf dem immer ein geheimnisvoller schwarzhaariger Mann drauf war.

Er war viel älter als meine Mutter. Diesem Fotoalbum verdanke ich meine lebenslange Fixierung auf jüngere Männer, da für mich von nun an feststand, dass man älteren nicht trauen soll. Viele Frauen, die ohne Vater aufgewachsen sind, stehen ja gerade auf ältere Männer, bei mir ist das genaue Gegenteil der Fall.

Einmal hat mich auch ein Schleppkahn mitgenommen. Über die Kahnfahrt muss ich nicht viel erzählen. Schaut euch besser den Film „Unter den Brücken“ von Helmut Käutner an. Dort nehmen Schiffer auch eine Neuberlinerin mit Problemen an Bord, weil sie dachten, sie wollte ins Wasser springen.

Wenn ich von der Brücke gesprungen wäre, aber das hätte ich nicht gemacht, denn es wäre für mich ein Eingeständnis, gescheitert zu sein, dann wäre ich ein Wassergeist geworden wie Undine, und mit tropfenden Haaren erscheine ich vor dem Treulosen. Nie hätte ich gedacht, dass man einen Menschen dermaßen hassen kann.

Wenn ich ihn erwischt hätte, hätte ich es mit ihm gemacht wie Undine mit ihrem Geliebten. Wenn er unvorsichtig ist, und zu nahe an das Rummelsburger Ufer tritt, taucht mein Arm aus den Fluten auf, packt ihn, und zieht ihn ins nasse Grab, wie es dem treulosen Ritter Huldbrand erging. Eine Frau weiß sich zu rächen.

Ob die Amis, die den Feudalismus einfach übersprungen haben, sie hatten deshalb ja keine Burgen und kein nichts und kein Garnichts, uns beneiden um unsere adligen Dichter mit ihrem Überschuss an Fantasie, Romantiker genannt, die vor über zweihundert Jahren als Advokaten in muffigen Schreibstuben ihr Brot verdienten, und von ihrer Kindheit in ihren verlorenen Schlössern träumten? Von der waren ihnen bloß noch alte Sagen geblieben, wie die von Undine, die ihre Kindermädchen ihnen erzählt hatten. Die haben sie ganz schön ausgesponnen. Wenn man manche Sachen liest, glaubt man nicht, dass damals keine Drogen in Umlauf waren.

Aber weg von der Germanistikvorlesung über die Romantiker, zurück zu dem Schleppkahn. Das Zirpen und Zwitschern und Plätschern, die Geräusche, die ein Fluss in einer Sommernacht macht, erkannte ich sofort wieder, als ich diesen Film aus dem Jahre 1944 sah.

Und auch wir mussten vor Brücken immer die Fahrerkabine runterklappen und fuhren mit dem Schleppkahn durch das Schiffshebewerk. Mittags warfen wir an Land Anker, klappten den Steg aus, und ich ging mit dem Lehrling einkaufen. Ich schälte Kartoffeln und der zweite Steuermann kochte. Es gab Kotelett mit Blumenkohl. Abends sprangen wir vom Deck in den Fluss.

Der Schiffer, der nur wenig älter war als ich, hatte sich wohl was ausgemalt. Er war sauer, als ich, die völlig übermüdet war, einschlief wie ein Stein, und am nächsten Morgen musste ich runter vom Kahn. Der Abschied war frostig. Ich war schwer enttäuscht von ihm, denn er gefiel mir.

Es war mehr so auf den dritten Blick, falls ihr wisst, was ich meine. Das war eine schwache Vorstellung von ihm. In „Unter den Brücken“ hatte es jedenfalls mit Heirat geendet.

Als Abschiedsgeschenk habe ich ihm noch heimlich ein Buch, das von einem Siebzehnjährigen handelt, der kurz vor Weihnachten allein durch New York irrt, auf seine Pornozeitschriften gelegt.

„Er hatte gar keine kleine Schwester.“ denke ich, und meine damit den Verfasser** dieses Romans. Ich hatte mich immer gefragt, welchem Charakter in seinem Buch er die Züge seiner großen Liebe Oana O`Neill, die damals fünfzehn war und er einundzwanzig, verliehen hat. Und dass sie dabei sein musste, stand für mich fest, denn sie war wohl für ihn so etwas wie Lotte für Werther. Ihre Gestalt geistert durch alle Frauen- und Mädchenfiguren im „Catcher in the rain“.

Schon merkwürdig. In Amerika ist der „Ein Buch Autor“ verbreitet, das ist dann aber eines, dass es in sich hat, und einen umhaut. Eigentlich haben die meisten davon noch mehr geschrieben, was aber nie an dieses Buch herankam. Ich denke da an Harper Lee, Ken Kesey, Anthony Burgess, Margaret Mitchel und natürlich an Sylvia Plath und auch an den, um den es hier geht.

Seit ich in seiner Biografie gelesen habe, dass die einzige Schwester, die er besaß, viel älter als er war, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass auch in der Figur der kleinen Schwester des Ich-Erzählers etwas von Oana drin sein könnte. Vielleicht hat sie, die die Frau von Charlie Chaplin war, sich wiedererkannt, und ihr Geheimnis mit ins Grab genommen.

Sie soll Fragen von Journalisten nach ihrem Jugendfreund, der immerhin ein weltberühmter Schriftsteller war, nie beantwortet haben. Das ist schade. Wie sie wohl sein Buch fand?

Schon, als ich mit sechzehn das erste Mal dieses Buch in der Hand hielt, hatte ich ein komisches Gefühl dabei, als ich las, wie euphorisch der Autor über kleine Mädchen schrieb.

Die Ahnung hatte mich nicht getrogen. Er hatte eine lebenslange Vorliebe für Kindfrauen. Als die wahrscheinlich erste davon, Oana, einen anderen heiratete, kämpfte er in Europa gegen die Deutschen. Als seine Briefe nicht mehr beantwortet wurden, und dann die Nachricht kam, dass sie Charlie Chaplin geheiratet hatte, sah er Kameraden sterben. Er hat sein Buch wohl auch für sie geschrieben. Ob er sie jemals wiedergetroffen hat?

An irgendwelchen Fantasien, auch wenn man weiß, dass sie nicht der Realität entsprechen, muss man sich ja festhalten, wenn man im Schützengraben liegt. Das kann einem helfen zu überleben.

Ich weiß noch, wie Kumpels mir davon erzählten, wie hart es sie bei der NVA traf, wenn der Brief kam, dass ihre Freundin einen anderen hatte. Einige dachten sogar daran, bei den Schießübungen die Waffe gegen sich selber zu richten. Und sie machten bloß ihren Grundwehrdienst, und nahmen nicht an der Schlacht im Hürtgenwald teil wie Salinger.

Zurück an die Ostsee ins Jahr 89.
Auf einem Zeltplatz lernte ich jemanden kennen, der mir auf einem Kassettenrecorder die ganze Nacht die „Bösen Onkelz“ vorspielte. Ich wunderte mich über seinen fanatischen Gesichtsausdruck, mit dem er jede Textzeile auswendig mitsang. Was fand er bloß an dieser Band? So ähnlich wie ihm mit den „Onkelz“ ging es mir mit „Ton Steine Scherben“. Von denen hatte ich auch alle Texte im Kopf.

Ich besuchte auch ein Mädchen, dass mal eine Weile in Berlin bei mir gelebt hatte. Sie war eine Ausreißerin, und, als sie schwanger wurde, reumütig zu ihren Eltern an die Küste zurückgekehrt. Ihr Kind war jetzt ein Jahr alt. Das Haus ihrer Eltern war nur durch einen schmalen Streifen Sand von der See getrennt.

Wenn wir beide in Berlin nichts mehr zu essen hatten, nahmen wir eine große Schultertasche und ließen mit knurrendem Magen im Lebensmittelladen so manches hineingleiten und bezahlten an der Kasse einen Becher Senf. Ich gehe übrigens heute an niemandem vorbei, der vor einem Kaffeebecher auf der Straße sitzt, ohne etwas hineinzuwerfen. Zu gut ist mir die Zeit damals noch in Erinnerung

Über Umwege gelangte ich auch in die große Stadt am Meer, in der meine Mutter und ich immer Urlaub gemacht hatten, zuletzt war das vor acht Jahren. Vielleicht hatte mich mein Unterbewusstsein hierhergeführt.

Ich lief wieder die altbekannte Strandpromenade entlang und schlief auf dem heißen Sand zwischen den ganzen Urlaubern ein.

Nachts landete ich an einem abgelegenen Strand, zu dem man mit einer Fähre fahren musste. Ich wollte auf dem Zeltplatz dort übernachten. An diesem Strand war ich früher in den Sommerferien oft mit meiner Mutter, weil es hier nicht so voll war.

Einmal kam eine große Gruppe junger Männer, vielleicht zwei Dutzend, und alle ließen sich neben mir und meiner Mutter in den heißen Sand fallen. In der Nähe gab es einen Zeltplatz. Alle haben lange Haare, sie tragen die gleichen blauen Jeansanzüge und sehen ziemlich geschafft aus.

Ich wundere mich, dass sie auch in der prallen Sonne ihre Jeans nicht ausziehen. Ihrem Dialekt nach kamen sie aus Thüringen. Dort gab es eine starke Bluesszene. Ein einziges Mädel, die sehr übernächtigt wirkt, ist mit dabei. „Ob sie wohl die Freundin von allen ist?“ frage ich mich. Ich war sechzehn, hatte nichts anderes im Kopf als Jungs, und bin ganz Interesse. Einer, mit langen blonden Haaren, gefällt mir.

Er sieht traurig aus. „Vielleicht hat ihm jemand das Herz gebrochen“, denke ich. Ich laufe extra ein paarmal im Bikini an ihm vorbei und merke, wie seine Blicke mir folgen. Aber leider kommt er mir nicht ins Wasser nach, sondern liegt bloß wie angegossen mit den anderen im Sand. Sie tauchten nicht mal die große Zehe ins Wasser.

Ein Hauch von Woodstock lag in der Seeluft. Ich hätte mich gerne mit ihnen angefreundet, aber nach einer Weile standen sie auf und gingen. Ich schaute ihnen sehnsüchtig hinterher, und lag weiter mit meiner Mutter gelangweilt am Strand. „Es muss ein anderes Leben geben“, ging es mir durch den Kopf. Und dann noch: „Nehmt mich mit.“

Das ist aber lange her. Das letzte Mal, dass ich hier war, lag ja schon acht Jahre zurück.

Heute Abend lerne ich an diesem Strand einen flachsblonden Typen mit Metal Shirt kennen, der einsam auf einem Stein sitzt. „Wo kommst Du her“, fragt er mich. Irgendwie verstanden wir uns beide sofort. Es war nicht Liebe, sondern Freundschaft auf den ersten Blick. So was gibt es auch. Es stellte sich heraus, dass wir gemeinsame Bekannte hatten.

Seine Clique wartete schon an der Fähre. Sie sind so alt wie Betty und Marie, und stammten auch aus demselben Stadtbezirk. „Männer für meine beiden Mädels.“ geht es mir durch den Kopf.

Ob sie wohl meine beiden Freundinnen kennen, oder ist es ihrer Mutter, die wollte, dass sie ganz normale, angepasste Mädchen werden, erfolgreich gelungen, sie von den bösen Buben abzuschirmen, als die die Truppe in ihrem Stadtbezirk bestimmt galt? Unter ihnen waren Punks, Metal- und Bluesfans, denn die einzelnen Musikrichtungen waren hier nicht so streng voneinander getrennt wie in Berlin.

Ich hatte Betty und Marie vor sechs Jahren, da waren sie fünfzehn und sechzehn, es war auf der Beerdigung ihrer Großmutter, das letzte Mal gesehen. Ich weiß auch gar nicht, ob sie jemals eine rebellische Phase durchgemacht haben, und ob sie etwas für schräge Musik übrighatten. Außerdem durften sie ihre alleinerziehende Mutter nicht enttäuschen.


Einer von ihnen gefiel mir auf Anhieb: „Nach diesen schwarzen Augen habe ich schon mein Leben lang gesucht,“ dachte ich. Das wusste auch ein Schriftsteller*** sofort, der in den Dreißigern seine große Zeit hatte, solange bis er vor den Nazis flüchten musste, als er seine zukünftige dritte Frau das erste Mal sah. Es war in Berlin in einem Café. Sie ging dann aber mit einem Mann fort, und er traf sie erst Jahre später im Exil in Amerika wieder.

Ich weiß nicht, ob ihr auch solche Leute kennt, bei denen man, wenn man sie anschaut, als erstes nur Augen sieht. Genauso ein Typ war er auch. Auf der Überfahrt mit der Fähre kamen wir ins Gespräch. „Ich bin früher in den Ferien oft mit meiner Mutter hier gewesen,“ erzähle ich ihm. Er hört mir so aufmerksam zu, als wenn ich gerade das Evangelium verkünden würde. Ich spüre, dass die schwarzen Augen mir überallhin folgen. Er überlegt eine Weile. Dann, „Wenn du willst, kannst du auch mit zu mir kommen“. Genau das wollte ich hören.
Aber ich wusste, dass das nicht ging. Schon hier, auf der Fähre, machte mich seine Gegenwart befangen. Bei Proust, dem kranken Zauberer auf seinem Matratzenlager, habe ich gelesen: „Wenn man jemandem begegnet, der zu viele Vorzüge hat, bleibt einem als Ausweg nur, sich in ihn zu verlieben.“ Wie sollte das erst werden, wenn wir beide allein waren. Dann hätte ich bestimmt aus lauter Verlegenheit nur Mist erzählt, und alles in den Sand gesetzt.

Er hielt mich für eine coole Frau. In dem Glauben wollte ich ihn lassen. In Wirklichkeit stolperte ich ständig über meine eigenen Füße. Ihm imponierte wohl auch mein Mut, allein durch die Gegend zu trampen. Dass ich ein paar Jahre älter war als er, fiel ihm wahrscheinlich nicht auf, die meisten hielten mich für jünger.

Es stellte sich auch heraus, dass ich aus Berlin Freunde von ihm kannte. Sie waren in demselben Stadtbezirk aufgewachsen wie er. Ich nannte ein paar Namen und hatte gleich einen Stein bei ihm im Brett. Er kannte Dio und seine Clique, die mich oft besucht hatten.

Und jetzt war ich also ihren Kumpels in die Arme gelaufen. „Die Heimat lässt einen auch in der Ferne nicht los.“ Dieser schmalzige Spruch könnte glatt in „Große Freiheit Nr.7“ Hans Albers von den Lippen geglitten sein. Aber er stimmt wohl irgendwie.

Der blonde Metalfan, mit dem ich mich spontan am Strand angefreundet hatte, ließ mich bei sich übernachten. Er war in festen Händen, hatte ein Kind, aber wohnte noch bei seinen Eltern in einem Hochhaus. Wir hatten nur freundschaftliches Interesse aneinander und schliefen Arm in Arm wie Bruder und Schwester auf seinem Kanapee.

Bei ihm an der Wand hing ein Plakat von einer Band. Der, der im Vordergrund saß, hatte lange schwarze, krause Haare und trug Lederstiefel mit Stacheln dran. Das war die Lieblingsband von ihm, und der Sänger sein Vorbild. Er spielte mir auch etwas von ihnen vor, einen Livemitschnitt aus dem Hammersmith Odeon in London. Das Einzige, was mir gefiel, war das Intro. Dafür hatten sie nämlich die Kleine Nachtmusik von Mozart verwendet.

Ich schaute mir ein großes Fotoalbum an. Ich staunte, dass sich darin, im Gegensatz zu dem Album von dem Katzenfreund, der nur Bilder von Frauen eingeklebt hatte, ausschließlich Fotos von Männern befanden. Auch alle, die mich in Berlin besucht hatten, waren dabei. Zu jedem erzählte er mir eine Geschichte.

Die Kumpels in dieser Hochhaussiedlung schienen sich wie Brüder zu lieben. „Was ist passiert?“ fragte ich. Um zwei Bilder war ein schwarzer Rahmen angebracht. Einer der beiden hatte zu viel getrunken, und war eine steile Treppe runtergestürzt, und der andere Freund von ihm war nach einer Party von einem Bus überfahren worden. Das war noch gar nicht lange her.

Und einer, den ich auch gut kannte, saß zurzeit. Eigentlich war er ein gutmütiger Typ, aber bei einer Streitigkeit unter Kumpels völlig ausgerastet. „Was ist bloß in ihn gefahren?“ wunderte sich mein Gastgeber. Merkwürdigerweise wollte der Verletzte keine Anzeige erstatten, weil er ihm verziehen hatte. Er hatte aber keinen Einfluss mehr darauf.

Nachts wachte ich auf, weil er sich so breit gemacht hatte. Mein blonder Gastgeber, er sah ausgesprochen gut aus, besonders als er sich auszog, kam ich ins Grübeln, lag splitternackt, mit weitgespreizten Beinen, auf seiner Liege. Ich konnte mich ja schlecht auf ihn drauflegen, und ließ mich auf die Auslegware gleiten. „Komm wieder ins Bett.“ sagte er und rückte kameradschaftlich zur Seite. Da er darauf bestand, blieb mir nichts anderes übrig.

So lag ich mit dem attraktivsten Typen, mit dem ich jemals das Bett geteilt hatte, zusammen, und es war ganz unschuldig. Eventuell verstanden wir uns auch so gut, weil es sein könnte, dass wir weitläufige Verwandte waren. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ich mit der halben Stadt verwandt war.

Am Morgen schmuggelte er mich noch aus der Wohnung raus, da seine Eltern nichts merken durften, und ich fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten. Ich stand vor seinem Hochhaus, und blinzelte im Licht der gleißenden Morgensonne, die hier an der Küste besonders hell strahlte. Mit einmal ging im siebzehnten Stock ein Fenster auf, und ein flachsblonder Schopf beugte sich raus. „Adieu.“ kam es von oben. Wir winkten uns zum Abschied zu. Ich glaube, es ist ihm gut ergangen. Er hatte viele Freunde in seinem Viertel, und hing sehr an seinem kleinen Sohn. Die Kumpels dort standen zueinander wie Brüder.

Ich trampte auch zu dem Dorf an der Küste, aus dem meine Familie stammte und klopfte an ihre Tür. Zu meinem Glück waren sie gerade verreist. Sie hätten mich sonst bestimmt für eine Streunerin gehalten. Meine pragmatische norddeutsche Verwandtschaft ist übrigens gut getroffen in der Verfilmung von „Tadellöser & Wolff“, die sich um eine Rostocker Familie dreht.

Meine Tante, die ich mochte, eine echte Frau von der Küste, muss man sich so vorstellen wie die weibliche Hauptfigur, Margarethe Kempowski.

Für mein letztes Geld kaufte ich ein Ticket nach Berlin. Seitdem war ich nicht mehr am Meer. Drei Monate später fiel die Mauer.

„La Paloma, ade“

Der, mit den schwarzen Augen, ging mir nicht aus dem Sinn. Es heißt ja: „Man sieht sich immer zweimal.“ Jahre später habe ich in Berlin mal jemanden getroffen, der ihn kannte. Dadurch wusste ich, dass er hier eine Weile in einem besetzten Haus, ganz in der Nähe von mir, gewohnt hatte und jetzt in Hamburg war. Wir hatten also gar nicht weit voneinander entfernt gelebt.

Einmal lief ich an diesem Haus vorbei, da spürte ich, wie ich von zwei schwarzen Augen angeblickt wurde. Das Haus, in dem sonst immer bunte Leute rein und raus liefen, schien vor kurzem geräumt worden zu sein und war umzäunt. Vor diesem Zaun war ein Auto geparkt, neben dem zwei junge Männer standen und irgendwie wie bestellt und nicht abgeholt wirkten.

Ich nehme an, sie waren gekommen, um Freunde zu besuchen und wussten nicht, dass dort keiner mehr wohnte.

Der eine von den Beiden könnte er gewesen sein, aber ganz sicher war ich mir nicht. Wir hatten uns ja ein paar Jahre nicht gesehen.

Ich sah ihm direkt ins Gesicht, was ich sonst bei Fremden auf der Straße nicht mache und bemerkte, dass er lächelte.

Er hatte mich erkannt. Die feinen Linien auf seinem Gesicht, die er damals, als ich ihn auf der Fähre am Meer kennenlernte, noch nicht hatte, machten ihn reifer und erwachsener. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er allein war. Wahrscheinlich hätte ich ihn einfach anquatschen sollen. Wenn man schon `ne zweite Chance kriegt.

„Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider -

Was war das? vielleicht dein Lebensglück...

vorbei, verweht, nie wieder. „

„Augen in der Großstadt“ Kurt Tucholsky

*Ete und Ali

**J.D.Salinger

***Leonhard Frank

 

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