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Sommerfeuer und Katzenjammer
Als wir mit dem Feuerzeugbenzin zurückkehrten, war sie noch da. Sie leckte ihre gebrochenen Beine und stieß alle paar Sekunden das Heulen eines verhungernden Babys aus. Ihr Unterleib war bei was immer ihr zugestoßen war (Wahrscheinlich eine Begegnung mit einem Auto auf der nahen Bundesstraße) so verdreht und zerbröselt worden, dass mir schlecht wurde bei dem Gedanken an die Schmerzen, unter denen sie sich hierher geschleppt haben musste. Als hätte sie gewusst, dass dieses Haus leer stand. Ein Ort zum einsam und in Ruhe sterben hätte es sein können. Wenn wir nicht gewesen wären.
Florian und ich hatten an diesem frühen Samstagabend das alte Gesindehaus des längst nicht mehr existenten Baumannhofes aufgesucht, um eine Schachtel Marlboro einzuweihen. Ich war auf geheime Unterschlupfe wie dieses Haus angewiesen. Meine Eltern wussten nicht, dass ich rauchte, und hätten mich wohl umgebracht, wenn sie es erfahren hätten.
Florians Eltern waren beschäftigt mit der zweiten Entziehungskur seiner Mutter. Es kümmerte die Borcherts einen Scheiß, ob ihr Sohn rauchte, sich prügelte oder im Hobbykeller eine Wasserstoffbombe baute. Daher genoss mein damals bester Freund eine Narrenfreiheit, für die ich ihn Jahre später bemitleidete, die aber im Alter von zwölf Neid und Missgunst in mir nährten.
Wir hatten bereits in diesem Haus gespielt, bevor wir die Zigaretten entdeckt hatten. In den schlecht belichteten Räumen hatten wir gesessen und uns Horrorgeschichten erzählt, darüber, was einst in diesen Wänden passiert war, wen man mit einer Axt erschlagen oder lebendig eingemauert hatte. Das meiste davon war geklaut aus Spätfilmen, die wir beide gesehen hatten, aber ein unausgesprochener Ehrenkodex verbat, dass wir uns gegenseitig des Plagiats bezichtigten.
Irgendwann waren wir zu der Ansicht gelangt, wir seien zu alt, um uns im örtlichen leerstehenden Spukhaus Geistergeschichten zu erzählen. Wir hatten die modrigen Wände mit den dummen Graffitis der älteren Jungen („Lek mein Schwanz du Votze“) eines Tages einfach zurückgelassen, so wie mein Bruder zum Studieren nach Heidelberg gezogen war und unsere kleine Stadt zurückgelassen hatte.
Aber so wie Sven Jahre später zurückkehren sollte, um im hiesigen Krankenhaus als Assistenzarzt zu arbeiten, kehrten auch wir zurück zum Gesindehaus. Zwar war unser primäres Anliegen jetzt das Rauchen, aber irgendwie erzählten wir uns auch wieder Gruselgeschichten, nur eben von der Sorte, die das Leben schrieb, denn zumindest Florians war mittlerweile furchteinflößender als jeder Zombieschocker.
Seine Eltern hatten schon immer getrunken, aber als ihre ständigen Fahnen sie beide ihren Job kosteten, hörten sie auf zu trinken und fingen an zu saufen. Während meiner Besuche bei den Borcherts lag die Dame des Hauses meistens auf dem Sofa im Wohnzimmer, schnarchend, mit einer halbleeren Flasche Cognac auf dem Tisch, daneben eine leere Flasche Cola.
Im Gesindehaus bei einer Zigarette erklärte Florian mir manchmal, wie sehr ihn seine Eltern ankotzten, weil fast immer die Cola alle war, wenn er mal ein Glas trinken wollte. Dabei grinste er und wischte sich fluchend Tränen aus den Augen, die er „wegen der Pollen“ vergoss – und das sogar im November.
An dem Tag, als wir in einem der Zimmer des Hauses die Katze mit den gebrochenen Hinterbeinen gefunden hatten, war es heiß gewesen, sehr heiß. Wir trugen kurze Hosen und Brennnesseln hatten auf dem Weg durch das kurze Waldstück zwischen der Straße und dem Gesindehaus unsere Beine mit grellweißen Pocken bemalt.
Vielleicht war es diese unerträgliche Hitze, die Florian auf den Gedanken gebracht hatte, die Katze zu verbrennen. Möglicherweise hatte die Hitze mich auch dazu gebracht, ihm in den Supermarkt zu folgen, um Feuerzeugbenzin zu kaufen, ohne zu fragen oder eine Erklärung zu verlangen, kritiklos hinter ihm hertrottend wie meine Großeltern einst dem Führer hinterhergetrottet waren.
Wir atmeten schwer, weil die modrige Luft staubig und heiß in unseren Lungen brannte, aber wohl auch aus der meist uneingestandenen Freude heraus, die der Mensch empfindet, wenn jemand anders leidet und nicht er selbst. Die Katze ließ ab von ihren Beinen und beobachtete uns misstrauisch. Ihre Angst war anscheinend stärker als der Schmerz, denn sie hörte auf zu wimmern und fauchte stattdessen wütend, während Florian das Benzin über sie goss. Als er ein Streichholz anzündete und nach ihr warf, versuchte sie, es zu schnappen. Dann war sie ein wild um sich schlagender, kreischender Feuerball.
Ich hielt meine Ohren zu, aber meine Augen konnte ich nicht abwenden. Mein Verstand befahl meinen Beinen wegzulaufen und erntete Ungehorsam. Angewidert von meiner eigenen Faszination beobachtete ich den Todeskampf des Tieres.
Florian zog sein T-Shirt aus und erstickte damit die Flammen.
Die Katze war nicht mehr als solche zu erkennen. Sie war ein rosaschwarzer Klumpen dampfenden Fleisches, aber sie atmete noch, regelmäßig, pfeifend, winselnd.
Florian kniete sich neben sie und begann, mit den Fingern Bewegungen zu machen, so als würde er sie streicheln. Als ich in sein Gesicht sah, bemerkte ich ohne Überraschung, dass er weinte.
„Scheiße,“ schluchzte er. Rotz triefte von seinen zitternden Lippen.
„Scheiße. Warum hab ich das denn gemacht, Mann?“
Er fragte nicht mich. Ich schien nicht länger zu existieren. Und ich blieb stumm, so als sei ich tatsächlich nicht da.
„Es tut mir leid, Mann, es tut mir leid.“
Die Katze lebte noch immer. Über ihr rechtes Auge war das Lid geschmolzen, aber das linke schien noch sehen zu können. Florian hörte nicht auf mit seinen Streichelbewegungen, und fast klang es so, als würde das leise Jammern der Katze in ein Schnurren übergehen. Die endlose Entschuldigung meines Freundes ging schließlich in ein unartikuliertes, feuchtes Gestöhne über. Es war das Heulen dessen, der nicht mehr zurück kann.
Als ich der Katze in ihr verbliebenes Auge sah, sah ich etwas darin, dass mich denken ließ, sie verstünde Florians Entschuldigung. Und ich glaube, sie schnurrte wirklich.