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Sommersprünge

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07.07.2002
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Sommersprünge

Sommersprünge

"Will sie wirklich da runterspringen?" fragte Annes Schwester.
"Wenn wir sie nicht aufhalten." sagte die Freundin.
Der Beckenrand, auf dem sie saßen, war hellblau und kühl. Chlorwasser umspülte ihre Beine. Mittagssonnenstrahlen brachen sich auf der schwappenden Wasseroberfläche.
Die beiden Frauen beobachteten Anne, die um die Ecke bog und nun neben den Sprungtürmen stand.

Die beiden Türme wuchsen aus dem Beckenrand, von dem aus man in den Tiefen und Strudeln des Schwimmerbeckens versinken konnte. Der kleine Turm stand links und umklammerte ein fleckiges Brett. Drei kühle, weiße, steinernde Stufen führten Anfänger, Vorsichtige und Vernünftige gerade einen Meter hoch über das Wasser.
"Sie sucht sich den kleinen aus." sagte Annes Schwester.
"Würde mich wundern. Du hast sie provoziert." sagte die Freundin.
Frischer Sommerwind brauste über das Freibad. Er streichtelte wasserbenetzte Schultern, triefende Haare, kroch in Badeanzüge und trieb Schauer in erhitzte Leiber.
"Sie steht aber vor dem kleinen Turm. Den nimmt sie. Die ist ja nicht verrückt." sagte Annes Schwester.
"Verrückt ist sie nicht, aber ..."
sagte die Freundin.
"Komm,nicht schon wieder. Die Heilige predigt.
Sei doch still!"
"Du willst es nicht verstehen, das mit Anne. Noch nicht." sagte die Freundin.

Anne ignorierte den kleinen Sprungturm. Sie stellte sich neben den großen, der zehn Meter in den Himmel ragte.
Er war riesig und ruhig, so kühl und weiß wie sein kleiner Bruder, doch hatte er schon mehr Wunden.
Seine Farbe trug einen dünnen, grauen Schleier und er verlor kleine Betonstücke an den Ecken. Eine matte Stahlleiter kroch an seinem Rücken hoch. Das Regenwasser hatte den einst funkelnden Chrom abgeleckt.
Unzählige klammernde Finger und Zehen; zahllose packende Handflächen und Fußballen derber Jungen, übergewichtiger Männer, ängstlicher Frauen und kichernder Mädchen hatten das Metall abgerieben.

"Anne wird es nicht mal bis zum ersten Brett schaffen. Da passiert schon nichts." sagte ihre Schwester.
"Du hast sie wirklich provoziert. Sieh es dir an, jetzt klettert sie rauf. Und die beiden Blödmänner helfen ihr auch noch dabei!"
sagte die Freundin.
Zwei Teenager hatten mit Anne gesprochen. Der eine kletterte fünf Sprossen hoch, stoppte, drehte sich um und wartete.
Es machte Anne Mühe, doch bald hatte sie den Jungen eingeholt und blickte auf dessen Waden. Der zweite folgte hinter Anne. Das Trio schaffte es bis zum Fünfmeterbrett. Der erste Junge verließ die Leiter und reichte Anne die Hand. Anne ignorierte ihn und hielt auf das Zehnmeterbrett zu. Der zweite Junge stand nun neben seinem Freund. Sie blickten zu Anne herauf und tippten sich an die Stirn.
Ihre Lippen formten "Wahnsinn" und sie redeten auf Anne ein.

"Sie wird sich umbringen, wenn wir nichts tun." sagte die Freundin.
Sie zog ihre Beine aus dem Wasser und stand vom Beckenrand auf.
"Du siehst wieder mal Gespenster."
sagte Annes Schwester.
"Wenn sie merkt, dass die Jungs sich nicht da rauf trauen, kommt sie zurück. Die weiß, was sie tut."
"Das weiß sie nicht." sagte die Freundin. "Das weiß sie nicht und du weißt warum. Wach endlich auf!"

Die Feundin tapste über den glühenden Beton neben dem Becken. Sie erreichte den Turm und sah in den Himmel. Anne war nicht weiter geklettert. Sie war zu müde, oder sie hörte auf die Warnungen der Jungen. Die Freundin klopfte gegen die Leiter. Die Jungen sahen zu ihr herunter. Sie zeigte auf Anne, auf den Boden neben sich, faltete die Hände und schüttelte sie vor ihrem Gesicht. Die Teenager hatten verstanden, trauten sich aber nicht, Anne anzufassen.

"Anne!" rief die Freundin.
"Sei brav! Komm zu mir."
Die Mittagssonne heizte die umliegenden Wiesen auf, die einen tiefen Grasgeruch verströmten.
"Lass dir von den Jungs helfen.
Die bringen dich heil runter." sagte die Freundin.
"Sie hat mich feige genannt!" rief Anne.
"Ich spring da runter! Im Schwimmen schlägt mich keiner."
"Deine Schwester will sich entschuldigen. Aber das kann sie nicht, wenn du wie ein Affe dort oben herumkletterst. Komm runter!" sagte die Freundin.
"Wer ist hier feige?" fragte Anne.
Sie suchte mit dem großen Zeh nach einer Sprosse unter ihr. Einer der Jungen glitt hinter sie und führte Anne nach unten.

"Wer ist hier ein Feigling?" fragte Anne, als sie wieder auf dem Betonboden stand.
"Du sicher nicht, mein Schatz."
sagte die Freundin. Sie strich Anne über den Kopf und nahm sie bei der Hand.
"Was ist bei der eigentlich kaputt?" fragte der Junge. "Ist die bekloppt?"
"Nicht bekloppter als du und ich!"
sagte die Freundin. "Sie ist nur krank."

Sie drückte Annes Hand und lief auf den Beckenrand zu, an dem Annes Schwester saß.
"Hab die Mutprobe nicht bestanden. Sie wird mich auslachen." sagte Anne.
"Du bist kein Feigling!" sagte die Freundin.
Sie strich Anne eine graue Strähne von der Stirn.
Annes trüber Blick glitt über den Betonboden.
"Die Mutprobe wird deine Schwester bestehen müssen." dachte die Freundin.
"Wird einsehen müssen, dass dich dein Verstand verlässt. Jeden Tag ein Stück mehr.
Wir hätten nicht alt werden dürfen, wir drei."
Sie erreichten Annes Schwester, die vom Beckenrand aufgestanden war.
Sie nahmen Anne in die Mitte, suchten den Weg zum Restaurant und verließen das Wasser.

Eine kühle Windböe zwängte sich zwischen den drei alten Frauen hindurch. Sie zielte auf den nassen Rücken eines Mädchens und jagte davon.

[ 08.07.2002, 17:25: Beitrag editiert von: Danalf ]

 

"...von dem aus man in den Untiefen des Schwimmerbeckens versinken konnte." ups! Untiefen sind seicht!

DIe Geschichte gefällt mir! Man erwartet sich anfangs, in den ersten zwei Zeilen, dass Anne sich wirklich umbringen will, bis man gleich wieder beruhigt wird: Nein, ist ja nur Wasser!
Aber dann zeigt sich, dass irgendetwas beängstigendes in der Luft wird, etwas, worüber man sich Sorgen machen sollte!
Ich war fast ein bissi enttäuscht, als Anne runterkletterte, doch bei den letzten Sätzen schlug die Enttäuschung sofort in Erleichterung um.
Was ich nicht so ganz verstanden habe: Was hat Anne, weil sie krank ist? Ist sie behindert? SOrry, wenn ich was überlesen habe! Übrigens lesen: Die Geschichte liest sich sehr flüssig und gefällt mir sprachlich.

Liebe Grüße
Babs

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Barbara,
danke für das Feedback.
Anne ist an Alzheimer erkrankt. Die Schwester kann oder will nicht verstehen, was mit Anne geschieht.

"Untiefe" steht laut Duden für eine große Tiefe und für seichtes Wasser. Eine gemeine Doppelbedeutung, die ich noch nicht kannte.
Danke für den Hinweis. Gruß Daniel Alfred :eek:

[ 08.07.2002, 18:42: Beitrag editiert von: Danalf ]

 

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