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Sommerstürme
Zum ersten Mal sah Melora ihn, als sie mit dem Auto vor Paolos Partyhütte vorfuhr. Es regnete in Strömen und die Bäume bogen sich unter kräftigen Windböen, aber das schien ihn nicht im Geringsten zu stören. Er drückte weiter in die Pedale seines Fahrrads, Meter um Meter die Steigung hoch. Ein wenig bewunderte Melora ihn für seine Beharrlichkeit.
„Hey, bist du bereit?“, fragte Sybille, die sich auf dem Beifahrersitz herrichtete für die zehn Meter, die sie durch den Regen rennen mussten. Auch Melora versteckte ihr dunkles Haar unter der Kapuze des Regenumhangs und zog die Ärmel über die Handgelenke.
„Okay – hast du die Tasche?“
„Voilà.“ Sybille zeigte den Plastiksack mit den Wodkaflaschen. „Den Schirm lass ich mal hier, der geht bei dem Sturm eh gleich futsch.“
„Dann mal los.“ Melora nickte ihrer Freundin zu, atmete tief durch und stiess die Autotüre auf. Der Wind drückte mit aller Kraft dagegen und kaum hatte sie ihren linken Schuh in den Schlamm gesetzt, da riss er ihr auch schon die Kapuze vom Kopf. „Shit“, fluchte Melora, gerade als das Velo um die letzte Kurve des Anstiegs gefahren kam. Das Vorderlicht leuchtete orientierungslos durch die Finsternis. Ein Junge. Es war ein Junge. Mehr konnte Melora nicht erkennen.
„Crazy for you“, hallte David Hasselhoffs Stimme aus den Lautsprechern. Die Musik übertönte das Donnergrollen draussen und liess die Jugendlichen in der Hütte vergessen, wie nass und kalt der Sommer mal wieder war. Auch der Wodka half dabei, fand Melora, die sich alle paar Minuten in den Armen eines anderen Jungen wiederfand, manchmal mit einer Zigarette zwischen den Lippen, dann wieder einer Zunge oder Salznüsschen.
„Du wirst fett, wenn du zu viel von dem Zeug isst“, erinnerte sie Sybille, aber das war Melora egal. Heute war ihr alles egal. Heute wollte sie feiern und vergessen.
„Hey, Paolo!“, rief sie dem Italiener bei der Musikanlage zu, „hast du nichts Besseres als Hasselhoff?“
Mit gespieltem Entsetzen starrte Paolo sie an: „Was Besseres? Es gibt nichts Besseres! David ist Kult!“
Eine Minute später war „Crazy for you“ endlich zuende und richtige Musik kämpfte gegen das ewige Prasseln des Regens an. In der Zwischenzeit war Melora in Patricks Armen gelandet, mit dem sie sich sonst meistens nur stritt, der aber heute zärtlicher war als sonst und ihr gar einen Drink mixte. „Probier das mal, das schmeckt echt gut. Ein eigenes Rezept.“
Vorsichtig nippte Melora am Getränk – dem Geschmack nach bestand es zu neunzig Prozent aus purem Alkohol und der Rest war wohl Zucker. Aber weil Patrick ihr sonst nie etwas anbot und sie ohnehin schon zuviel getrunken hatte, kippte Melora auch diesen Becher den Hals hinunter. Das Brennen verging schnell, aber etwas benommen fühlte sie sich schon. Wankend stand sie wieder auf um mit Daniel zu tanzen. Lichter blitzten um sie herum, der Beamer projizierte Musikvideos auf die Leinwand, Kerzen flackerten, Reflektionen in den Augen der Tanzenden. Melora musste Blinzeln. Vielleicht hatte sie zu viel getrunken, dachte sie noch, ehe ihr Gehirn ausstieg. Die Stimmen um sie wurden klar, hell, und überall blendende Lichter – nur weisse Punkte mitten im Dunkeln, wie Sterne, aber tausendmal heller, schmerzhaft grell.
Sie torkelte. Sie torkelte und johlte und tanzte. Ob sie sich in dem Moment glücklich fühlte oder schlecht, wusste sie nicht, aber sie hatte Angst – ein finsteres Meer breitete sich vor ihren Füssen aus und drohte sie zu verschlucken. Sie wollte zurückweichen, fliehen, stolperte aber und fiel direkt auf die Finsternis zu. Einen Moment lang war sie überzeugt davon, dem Tod entgegenzustürzen. Es war Patrick, der sie im letzten Moment rettete und auffing.
„Hey, geht’s dir nicht gut?“, echote seine Stimme durchs Lichtermeer. Mit breitem Lächeln erwiderte Melora: „Mir ging’s noch nie besser.“
Ohne zu überlegen, küsste sie ihn, den heroischen Ritter. Sie küsste und küsste, auch noch, als Patrick ihren schlanken Körper die Treppe hoch in den Dachstock trug und sie dort auf eine Wolldecke bettete. Sie küsste ihn sogar noch, als er bereits die Hände unter ihr T-Shirt schob und sich daran machte, ihre Brüste zu kneten. Sie küsste und küsste, bis sie sich plötzlich übergeben musste.
Zum zweiten Mal sah Melora ihn, als sie aus einem verrückten, wirren Traum aufwachte und sich auf einem Sofa im nicht beleuchteten Teil der Hütte wiederfand. Er sass auf dem Sessel daneben, nass bis auf die Haut, und schaute dem wilden Treiben und Saufen zu.
„Hey“, stöhnte Melora, „wie lange war ich weg?“
Der Junge wandte sich ihr zu und antwortete: „Drei Stunden, denke ich. Zwischendurch bist du ab und zu aufgewacht zum Kotzen, aber ansprechbar warst du nicht.“
„Ich kann mich an nichts erinnern.“ Den Kopf, den sie kurz angehoben hatte um dem Jungen in die Augen zu sehen, liess sie wieder zurück aufs Sofa fallen. Sie war todmüde und hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund, ansonsten aber fühlte sie sich einigermassen gesund – weder der Kopf schmerzte noch glaubte sie, dass sie sich gleich wieder übergeben musste.
„Willst du was trinken? Wasser zum Beispiel?“, schlug der fremde Junge vor und streckte ihr eine PET-Flasche entgegen. „Ist nur Hahnenwasser und eiskalt, aber man kann es trinken.“
„Danke.“ Melora spülte den Mund und kramte einen Kaugummi aus der Hosentasche, der den unangenehmen Mundgeruch etwas abschwächte. Die Müdigkeit blieb. „Ich könnte die ganze Nacht hindurch schlafen“, gähnte sie. Der Junge erwiderte kühl: „Ich werde dich nicht davon abhalten.“
„Andererseits – ich habe so schon die halbe Party verpasst und Paolo lädt mich nicht gerade oft ein.“ Noch während sie sprach, riss sie sich zusammen und setzte sich aufrecht hin. „Am Montag muss ich zurück in diesen Scheissladen zu meinem Scheisschef, der mir acht Stunden am Tag erklärt, dass ich zu nichts nütze sei und die LAP ohnehin nicht bestehe – womit er wahrscheinlich Recht hat.“
„In dem Fall willst du dich gleich wieder betrinken?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Wieso nicht? Du siehst doch, dass ich bereits wieder viel zu klar denke. Ausserdem bin ich mir ziemlich sicher, dass Patrick irgendeine Schweinerei in meinen Drink gemixt hat und ich nur deshalb so kotzen musste.“
„In dem Fall ist dieser Patrick ein ziemliches Arschloch.“
„Kannst du laut sagen – wobei, besser nicht zu laut, sonst hört er dich noch und schlägt dich zusammen.“
„Er kann’s gerne versuchen“, erwiderte der Junge unbeeindruckt – dabei war er mindestens einen Kopf kleiner als der bullige Patrick und seine Statur war alles andere als beeindruckend. Eher ein schmächtiger Knabe als ein fitter junger Kerl, fand Melora, und bewunderte zugleich die Gelassenheit des Jungen. „Wie heisst du eigentlich?“, wollte sie wissen.
„Dario.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und Melora schüttelte sie. „Ich bin Melora, falls du das nicht mitbekommen hast. – Bist du öfters an Paolos Partys? Ich kann mich nämlich nicht erinnern, dich je gesehen zu haben.“
„Nein, ich bin zum ersten Mal hier.“
„Hab’ ich’s mir gedacht“, meinte Melora, zufrieden darüber, wie intakt ihr Gehirn noch war. „Also, und warum amüsierst du dich nicht bei den anderen? Willst du nicht ein Bier oder so was trinken?“
„Ehrlich gesagt bin ich ganz zufrieden mit meinem Hahnenwasser.“
„Du hast extra Hahnenwasser mitgenommen, damit du hier nichts trinken musst?“
Dario nickte mit einem Lächeln auf den Lippen. „So in etwa.“
„Und jetzt? Jetzt sitzt du den ganzen Abend hier im Dunkeln und schaust nur zu?“
„Mhm. Na ja, zwischendurch hab ich deinen Mageninhalt nach draussen gebracht, aber sonst bin ich die ganze Zeit über hier gesessen und habe nichts getan, ausser dir und den anderen zuzusehen.“
Melora runzelte die Stirn – er war ihr gleich etwas seltsam vorgekommen, dieser Dario, aber sie hatte ihn nicht für einen derartigen Langweiler gehalten. Andererseits hatte er sich um sie gekümmert und so war es an ihr, nun ihm zu helfen. „Weisst du was“, schlug sie deshalb vor, „stossen wir zusammen auf was an – mit Wodka, da!“ Sie griff nach einer halbleeren, auf dem Boden liegenden Wodkaflasche und hielt sie Dario hin. „Trink einen Schluck und dann gehen wir tanzen.“
„Ich kann nicht tanzen. Und, ehrlich gesagt, ich habe auch keine Lust dazu.“
„Das sagen alle Jungs. Aber trink erst mal was, dann wird sich deine Meinung schon ändern.“
„Das glaube ich weniger.“ Er setzte die Flasche an die Lippen, flösste sich ein paar Mikroliter des Getränks ein und überreichte die Flasche wieder Melora, die einen wesentlich grösseren Schluck nahm und dann fragte: „Jetzt? Kommst du tanzen?“
„Tut mir Leid, nein. Aber du würdest ohnehin umfallen.“
„Blödsinn, ich kann längst wieder gehen. – Da, schau zu und staune.“ Was musste sie denn noch tun, um diesen schüchternen kleinen Bengel dazu zu bewegen, sich endlich zu überwinden und die Party zu geniessen. Wenigstens gelang es ihr, einigermassen gerade und ohne zu stolpern drei Meter vor und zurück zu schreiten. Erst dort trat sie aus Versehen auf eine fortgeschmissene Bierdose und fiel wieder ins Sofa.
„Siehst du, ich kann gehen und tanzen. Jetzt komm! Sei kein Feigling.“
„Vergiss es!“
Was für ein sturer Bursche. Wer hatte den überhaupt eingeladen? Thomas wahrscheinlich, der nahm ab und zu seine Kollegen vom Studium mit und die waren alle etwas seltsam. Dazu passte auch, dass er mit dem Velo kam – Studenten hatten schliesslich kein Geld für Autos. Andererseits sah Dario noch so jung aus, viel zu jung um an eine Uni zu gehen. Nicht mal die Ansätze eines Bartwuchses waren zu erkennen. Was blieb also noch? Vielleicht ein Gymnasiast, aber wer hatte ihn dann eingeladen? „Bist du der Bruder von irgendwem hier?“, fragte Melora nach langem Überlegen. „Vielleicht von Thomas?“
„Nicht wirklich, nein.“
„Also – also hat dich Salome eingeladen?“ Die gab Nachhilfestunden in Englisch und Französisch für Gymischüler, vielleicht hatte sie da jemanden aufgelesen und mit zum Fest geschleppt. Jetzt knutschte sie gerade zwei Meter weiter mit Mattia herum und war dadurch wohl zu abgelenkt, um sich mit ihrem Gast abzugeben.
„Nein.“ Da war ein freches Grinsen in Darios Gesicht, stellte Melora fest – nur hatte sie keine Ahnung, worüber er lachte. Vielleicht über sich selber.
Dario fand die Szene in höchstem Masse amüsant – natürlich konnte er Meloras verwirrten Gesichtsausdruck bestens nachvollziehen und auch ihre immer genervtere Stimme, aber zugleich sah er keinen Grund, sie aufzuklären.
„Du – du bist aber auch nicht einer von Paolos Kollegen, oder?“
„Ne, sicher nicht.“ Dario hatte keine Ahnung, wer Paolo überhaupt war, also fiel ihm die Antwort leicht.
„Und was ist mit Janine?“
„Nö, auch nicht.“ Für einen Moment glaubte Dario, sie würde jetzt begreifen, aber offensichtlich zeigte der Alkohol seine Wirkung – nach kurzem Zögern fragte das Mädchen weiter Name um Name ab, bis sie schliesslich resigniert nach der Wodkaflasche griff.
„Lass das lieber“, bat Dario sie, „ich habe keine Lust, deinen Mageninhalt nochmals hinaus in den Regen kippen zu müssen.“
„Keine Sorge, da ist nichts mehr drin“, erwiderte Melora launisch. „Aber sag mir jetzt endlich, welches verdammte Arschloch dich hierher eingeladen hat?“
„Soll ich es dir wirklich sagen?“
„Ja, mach schon!“
Dario grinste. „Na gut, ich sag’s dir: Niemand.“ Er wusste, wie eingebildet, wie möchtegerncool und arrogant das klang, aber er konnte gar nicht anders. Melora hob die Augenbrauen an und wiederholte: „Niemand?“
„Mhm. – Ich kam vorbeigefahren und dachte, bei dem schlechten Wetter wäre es ganz nett, kurz unterzustehen. Hier hab ich’s dann äusserst gemütlich gefunden und deshalb beschlossen, die Nacht über zu bleiben. Ausserdem musste sich jemand um dich kümmern.“
„Ja, aber ... Was hast du bei dem Wetter in der Gegend auf dem Fahrrad verloren?“
„Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Dario. „Aber sie endet damit, dass ich von Schlatt nach Elgg trample und dabei in ein Gewitter gerate, vor dem ich in eure nette kleine Partyhütte fliehe.“
Glaubte er das nur, oder konnte er da echte, ehrliche Neugierde in Meloras Gesicht ausmachen? Jedenfalls hakte sie nach. „Wie alt bist du denn?“
„Fünfzehn.“
„Erst fünfzehn? Und was ist mit deinen Eltern? Wissen die, dass du hier bist?“
„Kaum“, meinte Dario. „Es dürfte ihnen auch ziemlich egal sein. Meine Mutter macht gerade Ferien in Australien und mein Vater ist ...“ Er brach ab, weil Melora wieder den Deckel der Wodkaflasche abschraubte. „Bist du sicher, dass du nicht gleich wieder kotzt?“
„Zu fünfzig Prozent. Aber zur Zeit wenigstens fühle ich mich viel zu nüchtern. So sollte man sein Wochenende nicht verbringen.“
„Weshalb nicht?“
„Weil man dann die ganze Zeit an den nächsten Montag denken muss und das bringt einen um das letzte bisschen Freude.“
„Wenn du meinst. – Ich lasse dich also mal alleine.“ Dario stand auf, schloss den Reissverschluss seiner Jacke und nickte Melora zu: „Mach’s gut.“
„Hey, warte doch noch ein bisschen!“, hielt ihn das Mädchen zurück. Die Flasche stellte sie zurück auf den Boden und zog Dario am Ärmel zurück. „Du hast mir gar nicht erzählt, was du hier suchst.“
„Hier? Gar nichts. Ich fuhr nur vorüber, das hab ich dir doch schon gesagt.“
„Du hältst dich wirklich für ganz schlau, hm?“
„Und wie“, gab Dario zurück und fühlte sich dabei cooler als James Bond. „Mach’s gut, Süsse“, fügte er grinsend hinzu. Das ‚Süsse’ hätte er vielleicht lassen sollen, überlegte er sich auf dem Weg zur Türe. Es klang etwas übertrieben, ein bisschen zu machohaft. Aber was Melora über ihn dachte, war ihm egal – sie hatte ihn nicht ernst genommen, ihn nur ausgefragt und sich nicht mal dafür bedankt, dass er ihre Kotze den ganzen Abend über rausgetragen hatte. Anfangs hatte er sie noch ihrer Schönheit wegen bewundert, unterdessen wusste er wie oberflächlich, launisch und überheblich sie war. Sie war genau wie alle anderen. Es gab keinen Grund, sich weiter um sie zu bemühen.
Draussen regnete es nach wie vor in Strömen, aber damit hatte Dario sich längst abgefunden. Seit Tagen kannte das Wetter kein Erbarmen. Schon bei seiner Abfahrt war das Wolkenmeer über den Alpen aufgezogen, am nächsten Morgen dann waren die ersten Regentropfen auf seiner Nasenspitze verspritzt und wenig später hatte der Dauerregen eingesetzt, der noch heute anhielt. Es war kalt und Dario hatte keine trockenen Sachen mehr zum anziehen, auch der Rucksack hatte den Wassermassen nicht länger standgehalten. Aber Dario war kein verweichlichter Stadtbursche. Als Zehnjähriger schon war er manchmal tagelang alleine auf Bergtouren unterwegs gewesen und hatte dabei im Freien übernachtet.
Es war nicht ganz leicht, das Velo hinter all den Autos zu finden. – Was für eine seltsame Versammlung, die hier in dieser Hütte stattfand. Dreissig oder vierzig junge Leute trafen sich und taten nichts ausser Saufen und zu grässlicher Musik johlen. Eine seltsame Veranstaltung, aber durchaus interessant, wie Dario fand.
Er klinkte den Dynamo an seinem Velo ein, stellte es hin und schob es zwischen den Autos hindurch zum Weg hin. Seine Schuhe schwammen auf dem sumpfigen Untergrund, der durch die Autos noch zusätzlich aufgewühlt war. Mehrmals rutschte er aus – und einmal entglitt ihm dabei das Fahrrad. Krachend schepperte es gegen das nächste Auto.
„Shit“, fluchte Dario und wollte sich gleich daran machen, das Velo wieder aus dem Dreck zu ziehen. Ehe er jedoch dazu kam, stiess jemand die Hintertüre des Autos auf. Im Licht eines Blitzes konnte Dario zwei Gestalten auf den Sitzen sehen, ein halb bewusstloses, ganz nacktes Mädchen und dieser Patrick.
„Scheisse, was machst du Vollidiot da?“
„Nur das Fahrrad. Ich bin ausgeglitten, tut mir Leid.“
Der bullige Kerl schob das Mädchen von sich und stieg aus. „Du hast das ganze Heck verkratzt, du Arschloch!“
„Sorry, das wollte ich nicht.“
„Und das wolltest du wohl auch nicht!“ Patrick schlug nach Dario, verfehlte den Jungen aber bei weitem. Auch ein Fusstritt traf nicht etwa wie geplant Darios Schienbein, sondern die Scheinwerfer des nächsten Wagens. Dabei knackten die Zehen des Kerls bedrohlich und er schrie auf, was Dario die Zeit gab, sein Fahrrad zu packen, sich auf den Sattel zu schwingen und davonzufahren.
„Ich hole dich, du verfickter Penner!“, rief Patrick ihm nach, das Donnergrollen locker übertönend. „Ich schlag dich tot, wenn ich dich kriege!“
Während Dario die Steigung hoch radelte, überlegte er sich, ob er diesen Patrick nicht besser umbringen würde. Es gab eine ganze Menge Arschlöcher auf der Welt, das war ihm nicht entgangen, aber dieser Patrick war doch ein ausgesprochen aggressives Arschloch. Ihn zu töten, wäre eine gute Tat, die vielen Menschen Ärger und Leid ersparen konnte.
Aber Dario wollte nicht mehr töten. Er hatte es sich fest vorgenommen. Nie mehr. Als hinter ihm die Scheinwerfer von Patricks Wagen aufleuchteten, stieg er vom Fahrrad und stiess es ins Dickicht. Er versteckte sich hinter einem Baum und als der Irre an ihm vorübergerast war, begann er den Hügel hochzuklettern.
Er musste wieder an Melora denken. Eigentlich wollte er das nicht, eigentlich wollte er sie bloss vergessen wie alles, was er hinter sich gelassen hatte. Es gelang ihm nicht. Melora war zu hübsch, egal wie betrunken sie in die Welt schaute und egal wie traurig sie war.
Dario fand heraus, dass er in seinen Wanderschuhen nicht mehr über Brombeerstauden strauchelte, sondern auf die sumpfigen Überresten eines Pfads gelangt war. Endlich konnte er kurz einhalten um durchzuatmen. Er vertrug die Anstrengungen nicht mehr so gut wie früher, hatte in den letzten Tagen nicht viel Nahrhaftes gegessen, war schnell ausser Atem. Reisen war ermüdend.
Unter einer riesigen Eiche suchte er etwas Schutz vor dem Regen. Er versuchte über allerlei Dinge nachzudenken, seine Schwester, die letzten Tage, das Wetter, aber es gelang ihm nicht. Unweigerlich tauchte wieder Melora vor seinem inneren Auge auf, diese langen, schwarzen Haare, die dunklen Augen, die Haut, die so blass war als läge sie im Sterben. Wahrscheinlich starb sie tatsächlich bald, überlegte sich Dario. Entweder tötete sie sich selber oder der Alkohol übernahm das für sie. So ohne Zukunft zu leben, das war eine schwierige Sache. Dario hatte selber viel zu lange in diesem Zustand absoluter Hoffnungslosigkeit gelebt. Als würde man durch Nebelschwaden wandern und dabei ganz genau wissen, dass man für immer im Grau gefangen war. Die Sonne strahlte schon irgendwo, nur war dieser Ort unerreichbar. Diese Gewissheit war kaum auszuhalten.
Plötzlich spürte Dario ein Gefühl in sich, dass er verdrängt zu haben glaubte. Er seufzte. Es war ein Anflug von Mitleid.
Melora trank wieder. Eigentlich wollte sie es nicht, eigentlich wollte sie nachdenken, endlich mal wieder einen klaren Gedanken fassen, einfach nur irgendwas verstehen, egal was. Wie ferngesteuert griffen ihre Hände immer wieder nach den Bechern voller Alkohol. Sie konnte sich gar nicht dagegen wehren. Jemand hatte ihr den Körper gestohlen und jetzt konnte Melora nichts mehr weiter tun, als sich selber zuzusehen. Einmal berührte sie die eigenen Augen und spürte, dass sie feucht waren. Aus irgendeinem Grund weinte sie.
Das Mädchen stand auf, schwankte durch den Raum, über die besoffenen, bekifften, zugedröhnten Typen auf dem Boden, hielt sich fest an einer Festbank, auf der sich die leeren Flaschen aneinander reihten. Sie entwich Emanuels Armen, der sie zum Tanzen auffordern wollte, stolperte über Sybille, die auf dem Boden kauerte und an ihrem Bier nuckelte, fiel schliesslich hin und merkte, dass sie im Dreck vor der Hütte lag. Um sie war es dunkel und nass und kalt und sie wollte schnell aufstehen, schaffte es aber nicht.
Sie weinte immer stärker, ohne genau zu wissen weshalb. Vielleicht, weil sie ein so erbärmliches Wesen war. Vielleicht, weil sie so einsam war. Niemand half ihr auf. Sie lag im Dreck, konnte sich kaum mehr bewegen, und niemand half ihr auf.
Sie schluchzte, wimmerte ein bisschen und schluchzte wieder, aber die Türe der Hütte blieb verschlossen. Niemand kam, um ihr auf die Beine zu helfen. Niemand kam. Einfach niemand. Entweder weil sie selber zu besoffen waren, oder weil sie sich einfach nicht für irgend so ’ne nutzlose Möchtegernfloristin interessierten. Wer konnte es ihnen verübeln?
Mühsam versuchte Melora sich daran zu erinnern, weshalb sie überhaupt aufgestanden war und sich hinaus in den Regen geschleppt hatte. Es war so verdammt schwer, auch nur einen Gedanken zu fassen. Ihr Kopf schmerzte. Tausend Schlagzeuger hämmerten gleichzeitig auf ihren Schädel ein. Die Welt drehte sich um sie herum wie in einer Achterbahn. Plötzlich glaubte Melora, sich festklammern zu müssen, um nicht den Wolken am Himmel entgegen zu fallen.
Sie war schrecklich verwirrt. All das machte ihr Angst, die Blitze, der prasselnde Regen, die dröhnenden Bässe aus der Hütte, die Kälte, der Schlamm, die eigene Kotze, in der sie herumkroch, ihr ganzes, jämmerliches Leben, das irgendwo im Nichts zu enden schien. Sie war kein anspruchsvolles Mädchen, brauchte keine Reichtümer und wollte auch nicht berühmt sein. Sie wünschte sich nicht viel. Vielleicht einen netten Menschen, der sich wirklich für sie interessierte. Jemanden, der ihr zuhörte, der sie mochte, so erbärmlich wie sie nun mal war.
„Melora?“, hörte das Mädchen eine Stimme durch die Finsternis hallen. Es donnerte nicht und auch der Regen schien plötzlich so leise zu sein wie ein sanfter Windhauch im Frühling. Hustend hob sie den Kopf aus dem Schlamm. Es war das dritte Mal, dass sie ihn sah.
„Melora? Was machst du da?“
Als sie erkannte, dass es Dario war, der neben ihr in den Dreck kniete und besorgt ihr blasses Gesicht musterte, hätte Melora vor Freude beinahe laut gejauchzt. Mit letzter Kraft richtete sie sich weit genug auf, um den Jungen umarmen zu können. Sie drückte ihr Gesicht in seine schmächtige Brust, lachte und weinte zugleich. „Danke“, keuchte sie, „danke!“
Er streichelte beruhigend ihren Rücken und streifte ihr einige nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht, bis sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte. Sie verschluckte sich, hustete, und schaffte es dann endlich zu sagen: „Dario, danke! Danke vielmals!“
„Schon okay, aber vergiss nicht zu atmen. – Geht’s dir gut?“
„Ja“, keuchte das Mädchen. „Ja, absolut!“ Sie lächelte für einen Moment und fragte dann: „Dario, wohin fährst du?“
„Keine Ahnung“, erwiderte er ruhig, „vor ein paar Tagen bin ich abgehauen und jetzt fahre ich durch die Gegend. Keine Ahnung, wohin. Ist auch nicht so wichtig.“
Melora wischte sich hektisch den gröbsten Dreck aus dem Gesicht, bevor sie mit einiger Mühe stammelte: „Dario, darf – darf ich vielleicht – mit?“ Sie starrte den Jungen so gefesselt und verzweifelt an, als würde er gleich ihr Todesurteil fällen. Dario zögerte einige Sekunden und musterte das aufgeregte Mädchen. Bald jedoch meinte er schulterzuckend: „Klar.“
Ein Strahlen tauchte in Meloras Gesicht auf. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor so gestrahlt zu haben. Sie musste wahnsinnig doof aussehen, aber das war ihr in dem Moment egal. Sie wiederholte bloss: „Ich darf mit? Wirklich?“
„Ja, sicher. Zu zweit macht das Reisen ohnehin mehr Spass, also – von mir aus kannst du mich gerne begleiten, wenn du willst.“
„Ich will!“ Auf einmal reichte die Kraft des Mädchens dazu aus, sich aufzurichten und nach einem kurzen Wanken fand sie tatsächlich eine stabile Position. Sie bemerkte, wie die Blicke des Jungen von ihrem Gesicht nach unten abschweiften. Die nassen Kleider klebten auf der Haut und darunter zeichnete sich ihr Körper ab, den Dario durchaus interessant zu finden schien. Melora freute sich darüber, dass sie ihm gefiel. Sie umarmte ihn und zum ersten Mal liess sich der Junge kurz aus der Fassung bringen. Er stiess sie leicht zurück und räusperte sich. „Ähm, du solltest vielleicht deine Sachen zuhause holen und wir treffen uns morgen um ...“
„Geht schon, ich muss ja nicht wie eine Prinzessin durch die Gegend laufen. Los, gehen wir! Komm!“ Sie zog sich die Kleider zurecht, atmete tief durch und schaute voller Tatendrang den Jungen an. „Ich weiss nicht, hast du dir das wirklich gut überlegt?“
„Ja. Komm, ich will weg.“ Melora schritt los, direkt auf’s Dickicht des Walds zu. Dario runzelte hinter ihrem Rücken die Stirn, hob aber schliesslich sein Fahrrad hoch und folgte ihr.