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Sonderkommando
Es war ein trüber Morgen im November. Ein unangenehm kühler Sturm fegte durch die Straßen. Düstere Regenwolken hingen über der Stadt. Die Bäume hatten den Kampf um ihre letzten Blätter verloren. Das Laub wurde vom ungestümen Wind durch die Luft gewirbelt.
Baumann und Wunderlich standen dicht nebeneinander. Sie starrten schweigend vor sich hin. Trotz ihrer auffälligen Gegensätzlichkeit waren die beiden Männer ein eingespieltes Team, das sich auch in heiklen Situationen schon bestens bewährt hatte. Baumann war ein großer Mann von kräftiger Statur. Wunderlich ein kleiner, drahtiger Typ. Am Anfang ihrer Partnerschaft hatten sie sich nicht leiden können. Da war Baumann das ständig plappernde Mundwerk von Wunderlich ziemlich auf die Nerven gegangen. Im Lauf der Zeit aber hatten sie sich zusammen gerauft.
Heute kam zwischen ihnen keine richtige Unterhaltung in Gang. Wunderlich machte eine starke Erkältung zu schaffen, und Baumann, ohnehin ein Morgenmuffel, genoss die Stille. So verbrachten sie ihre Zeit ausschließlich mit Warten. Zu warten, ohne dabei die Geduld zu verlieren, das war ein ganz wesentlicher Bestandteil ihres Jobs, und ebenso wichtig wie die ständige Mobilität, die sie bei ihren Einsätzen immer wieder neu unter Beweis stellen mussten.
Trotz seines angegriffenen Gesundheitszustandes hatte sich Wunderlich eine Zigarette angezündet. Baumann registrierte das mit verständnislosem Kopfschütteln. Er achtete ganz bewusst auf seine Gesundheit. Sein Leben gestaltete er nach eisernen Grundsätzen. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Tabak oder Alkohol anzurühren. Manchmal versuchte er sogar, seinen sturen Partner zu einer vernünftigeren Lebensweise zu bekehren. Das war so sinnlos, wie einer Kuh das Seiltanzen beibringen zu wollen. Vielleicht sogar noch sinnloser!
Seinen hohen Zigaretten- und Bierkonsum rechtfertigte Wunderlich mit der ständigen Nervenbelastung, der sie ausgesetzt wären. Jeden anderen hätte Baumann bei dieser Begründung ausgelacht. Bei dem kleinen Mann aber hielt er sich zurück. Der ging im Job zweifellos total auf, war ein fast schon krankhafter Perfektionist, der Fehler oder halbe Sachen hasste. Sollten sie jemals einen ihrer Einsätze vermasseln, durch schlampige Vorbereitung oder schlechtes Timing - Wunderlich würde durchdrehen. Mister Hundertprozent. Vom Ehrgeiz zerfressen.
Baumann sah die Welt etwas gelassener und entspannter. Es war ihm unverständlich, wie manche sich derartig unter Dampf setzen konnten. Einer bewegten und abwechslungsreichen sportlichen Vergangenheit verdankte er es immerhin, noch heute in einer guten körperlichen Verfassung zu sein. Die hatte er nicht zuletzt durch regelmäßige Fitnessübungen über eine lange Zeitspanne hinweg konservieren können. Fünfzig Jahre waren ihm jedenfalls nicht anzusehen. Wunderlich beispielsweise war erst Anfang vierzig, sah aber bei objektiver Betrachtung älter aus als Baumann. Das ungesunde Leben hatte deutliche Spuren hinterlassen. Dazu seine permanente Nervosität, die er einfach nicht in den Griff bekam.
Schließlich gingen sie keiner besonders angenehmen Beschäftigung nach. Wenn sie zuschlugen, dann geschah das schnell und präzise. Ihre Opfer waren immer unvorbereitet und in der Regel ohne jede Chance. Sie waren die Jäger, und die Jagd verlief nach ihren Spielregeln. Sie bestimmten Ort und Zeit. Sie waren Profis.
Wunderlich zeichnete sich gern durch übertriebene Härte aus. Das Gefühl der Macht schien er dabei besonders zu genießen. Mitleid oder Gnade kannte er nicht. Baumann dagegen weigerte sich beharrlich, mehr als nur einen einfachen Job in ihrem Tun zu sehen. Vielleicht konnte er die Einstellung seines Partners deshalb nicht teilen. Zweifellos war dessen Ansicht übertrieben, sie würden fast pausenlos einer feindlichen Übermacht gegenüberstehen, mit der sie nur dann fertig würden, wenn sie konsequent und erbarmungslos vorgingen. Solche markigen Reden bekam Baumann besonders dann zu hören, wenn er es wieder einmal wagte, gewisse Bedenken vorzubringen, die ihm von Zeit zu Zeit kamen. Wunderlich verteidigte dann sofort sein klares Feindbild.
Baumann aber dachte auch an die Frauen und Kinder, die ihnen viel zu oft ins Visier gerieten. Besonders sie hätte er manchmal gern verschont. Ihm machte es zu schaffen, wenn sie im Schatten seiner bedrohlich wirkenden Statur förmlich schrumpften, während sie ihn ängstlich und erschrocken anstarrten. Wie in die Enge getriebene Tiere wirkten sie dann, die verzweifelt nach dem rettenden Ausweg suchten. Den gab es aber für sie nicht mehr, wenn sie erst einmal in die Hände der beiden Männer geraten waren.
Wunderlich schien Menschen grundsätzlich zu hassen. Die Gründe dafür waren Baumann nie so richtig klar geworden. Sein Partner gefiel sich in der Rolle des harten Hundes. Er war mit Unnachgiebigkeit und Härte bei der Sache. Nicht einmal eine Erkältung hatte ihn davon abhalten können, heute zu kommen. Nun ertrug er mit Baumann zusammen den strömenden Regen und wartete darauf, endlich losschlagen zu können.
Plötzlich riss ein vertrautes Geräusch die beiden Männer aus ihren Gedanken. Sie waren sofort konzentriert und aufmerksam, wechselten einen kurzen Blick, und Wunderlich zwinkerte Baumann aufmunternd zu. Im hohen Bogen schnippte er seine Kippe in eine Pfütze und richtete sich auf, um etwas größer zu wirken. Im selben Moment sackte Baumann ein wenig in sich zusammen und ließ die Schultern hängen. Durch einen Griff in seine Manteltasche vergewisserte er sich noch einmal, dass alles griffbereit an seinem Platz war. Routine und Schnelligkeit waren Grundvoraussetzung für den reibungslosen Ablauf. Bei jedem Einsatz. Baumann spürte leichte Nervosität in sich aufsteigen. Sein Nacken versteifte sich. So war das immer bei ihm, wenn der Augenblick des Losschlagens unmittelbar bevorstand. Wie Fremde standen die Männer jetzt Seite an Seite. In ihre Gesichter trat ein Ausdruck kühler Entschlossenheit.
Es war wieder einmal so weit!
Nichts konnte den Lauf der Dinge jetzt noch aufhalten. Alle Gedanken über das, was sie taten, wurden nebensächlich und unwichtig. Von jetzt an zählte nur noch der Job. Die beiden trennten sich. Handelten schnell und zielstrebig. Darauf bedacht, nicht aufzufallen. Ihre Bewegungen waren rationell. Ihrer Aufmerksamkeit entging nichts. Ein letztes Mal noch hatten sie einen flüchtigen Augenkontakt. Wunderlich grinste breit. Baumann nickte ihm aus der Distanz kaum merklich zu. Das war das vereinbarte Zeichen.
Dann ging alles blitzschnell! Sie zogen fast gleichzeitig. Deutlich sichtbar hielten sie im vollen Linienbus ihre Ausweise in die Luft und schnarrten mit eisiger Freundlichkeit: “Die Fahrkarten, bitte!“