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Sonne über Schweden
„Was ist das?“
Die Worte dringen zu mir vor und mir wird wieder bewusst, dass ich auf dem Tisch in meinem Klassenzimmer sitze. Dass ich wieder nur Pause habe, lediglich fünf Minuten, in denen man all das Unwichtige der letzten Dreiviertelstunde aus dem Kopf bekommen muss. Damit Platz ist für das wirklich Wichtige.
„Ein Foto“, sage ich, ohne aufzusehen. Ich weiß auch so, dass es Jeremy ist, der vor mir steht. Ich habe seine Stimme erkannt. Vielleicht geht er ja wieder, wenn ich kaum etwas erwidere, und ich kann zurück. Eintauchen in das Bild auf meinen Knien.
Doch er rührt sich nicht, antwortet, und man hört das Lächeln in seiner Stimme: „Das sehe ich.“ Nicht verärgert sagt er es, sondern irgendwie belustigt. Mit seinem amerikanischen Akzent, den er noch immer hat, auch wenn er hier schon Jahre lebt. „Sagst du mir auch, was drauf ist?“
Ich habe keine Zeit dafür. Die Pause ist doch nur so kurz. Viel zu kurz für eine so lange Reise in mein Bild.
„Das rechts von mir ist meine Freundin Jana. Links steht ihre kleine Schwester“, höre ich mich sagen. Und frage mich, warum ich jetzt nicht dort bin. Jetzt, sofort, bei ihnen.
„Wo habt ihr das Bild aufgenommen?“, fragt Jeremy. Er hat sich inzwischen auf den Tisch vor mir gesetzt. Ich sehe es aus den Augenwinkeln, denn noch immer ruht mein Blick auf dem Foto.
„Schweden.“ Das kleine Haus meiner Freundin taucht in Gedanken vor mir auf. Meine Freundin, die früher im Nachbarort gewohnt hat und nun schon so lange in Schweden lebt. In einem Land, das nicht nur ihr, sondern auch mir Heimat geworden ist. Und es jedes Jahr, in jeden Sommerferien noch ein bisschen mehr wird.
„Du warst schon einmal in Schweden?“
Ich nicke. „Dreimal“, sage ich und weiß, es ist gelogen. In Wahrheit bin ich hundertmal am Tag dort. Beim Abendessen. Wenn ich die Sonne morgens aufgehen sehe. Wenn ich die Bilder an meiner Wand betrachte. Wenn ich eine E-Mail an Jana schreibe. Während ich Hausaufgaben mache. Davor. Oder danach. Und in den kurzen Pausen, den fünf Minuten Freiheit.
Ich merke plötzlich, dass mein Blick wieder glasig geworden ist, während ich das Foto betrachte. Es ist mein Lieblingsbild und die Ecken sind ganz geknickt. Aber das macht nichts. Denn in drei Wochen sind wieder Sommerferien und wenn das neue Schuljahr beginnt, werde ich viele neue Fotos haben.
„Ich glaube, dorthin würde ich auch mal reisen. Es soll ja echt schön sein.“
Ich sehe auf, nun doch.
„Ja“, antworte ich. „Es ist... wundervoll.“ Lüge, geht mir durch den Kopf. Wundervoll, das Wort ist viel zu schwach. Doch es gibt keines, das meine Gefühle beschreibt, wenn ich ankomme. Wenn ich dort bin. Wenn ich lebe.
Jeremy sieht mich an.
Das Licht scheint durch das Fenster, fällt auf sein Gesicht. Auf einmal möchte ich ihm von diesem Land erzählen. Erzählen, dass dort alles anders ist. Die Bäume, die Städte, die Menschen. Ja, dass sogar die Sonne dort ganz anders ist.
Das Ding, das in Deutschland am Himmel hängt, das ist nicht echt. Die Sonne in Deutschland hat ein Ziffernblatt. Sie lässt die Menschen durch die Straßen hasten und lügt und sagt, wir hätten keine Zeit mehr. Vielleicht bauen die, die immer so viel arbeiten, deshalb Hochhäuser. Damit die Menschen auf der Straße die Sonne nicht mehr sehen und sich mehr Zeit nehmen.
In Schweden, da gibt es keine Hochhäuser. Da ist die Sonne echt.
Das möchte ich Jeremy erzählen. Ich will ihm sagen, dass ich mich hier fremd fühle, in diesem Land, obwohl ich hier geboren bin. Ich will ihn fragen, weshalb er hier leben kann, obwohl er doch hier gar nicht geboren ist. Und er doch wissen muss, dass es anderswo besser ist als hier.
Vielleicht steht die Frage schon in meinen Augen, bevor mein Mund die Worte findet. Augen wissen ja sowieso mehr als Worte. Und sie können nicht lügen.
Jeremy hat mich jedenfalls verstanden. Er sieht mich nachdenklich an, dann schweift sein Blick aus dem Fenster, zur Sonne.
Es klingelt. Die nächste Stunde beginnt.