Sonne, Wolken und das Meer
Sonne, Wolken und das Meeren
Zu wenig Zeit, waren ihre ersten Gedanken, als sie aufwachte. Ihr Blick fiel auf die schmucklose weiß-schwarze Uhr neben dem Fenster: Halb Zehn – zu wenig Zeit! Einfach zu wenig Zeit! Die Uhr tickte. Tickte und tickte. Hallte durch ihre Ohren, durch ihre Nerven, ihren Kopf und ihr Gehirn. Und dann war da noch dieses andere Geräusch: Ein Seufzen, ein Schluchzen, ein leises Heulen – Mommy – nichts Besonderes. Leider nichts mehr Besonderes. Ansonsten war es ruhig. Hatte sie geträumt? Sie versuchte sich zu erinnern, gab aber schnell frustriert auf. Nur Dunkelheit. Nebel und Dunkelheit. Oder hatte sie von Dunkelheit geträumt?
Sie streckte sich. Die Gelenke ihrer Arme krachten, knirschten und knackten, ein langgezogenes Knurren und sie richtete sich träge auf. Keine Zeit zu verlieren. Sie hatte auf dem Boden geschlafen, auf dem Teppich. Am Abend zuvor hatten sie ihre alte Spielesammlung ausgepackt und bis spät in die Nacht hinein die ganze Palette an Gesellschaftsspielen heruntergeeiert, bis sie alle ein für allemal die Nase voll gehabt hatten: Mensch ärgere dich nicht, Mikado, Domino, Ratespiele mit Sanduhren, die viel zu schnell abliefen, eigenartige Brettspiele, für die es gar keinen eigentlichen Namen gab und eine unendliche Aneinanderreihung mehr oder weniger interessanter Kartenspiele – richtig spaßig eben – und irgendwann hatte sie sich auf den Boden gelegt und war eingeschlafen, während sie das Gemurmel der Stimmen um sich herum genoss, das so beruhigend und einschläfernd war, wie ein prasselnder Sommerregen, der nachts leise gegen die Fenster klopfte.
Zu wenig Zeit!
Die Spiele lagen unaufgeräumt auf dem Küchentisch. Moe strich mit der Hand darüber und fegte sie gleichgültig auf den Fußboden – egal! Jetzt war alles egal. Der Teppich knisterte unter ihren Füßen. Sie verließ die Küche und ging über die kalten Fließen im Flur. Im Wohnzimmer saß ihre Mutter und weinte. Weinte, wie jeden Morgen. Weinte, wie jeden Augenblick, in dem sie nicht abgelenkt war, seit diesem Tag an dem die Nachricht kam.
„Hey! Morgen Mommy!“, sagte sie mit verschlafener Stimme, streckte sich noch einmal, gähnte und massierte sich mit ihren Handballen die Augen.
„Morgen Babe!“, schluchzte ihre Mutter und blickte sie mit einem unerträglichen Lächeln an.
Ihre Augen waren rot und geschwollen, ihr Gesicht war übersät mit kleinen roten Flecken, als hätte sie sich irgendeine exotische Krankheit geholt, aber das war normal, wenn sie weinte, gerade wenn sie viel weinte und in der letzten Zeit war sie aus dem Weinen gar nicht mehr herausgekommen. Früher war sie nicht so schwach gewesen. Sie hatte sich verändert. Aber alle hatten sich verändert, so oder so, und bei den meisten war die Veränderung einfach die gewesen, das sie jetzt tot waren. Die Gleichung war folgende: Die Optimisten hatten sich in Pessimisten verwandelt und die Pessimisten hatten sich flutwellenartig auf verschiedenste, teilweise beängstigend kreative Weise in den Freitod gestürzt oder schlichen, krabbelten oder zuckten ziellos durch leere Straßen, wie hirnlose Zombies oder Mumien aus den Filmen und man wartete fast darauf, dass von links nach rechts aus dem Nichts plötzlich irgendeine disney-kitschige Windhexe erschien und durchs Blickfeld tanzte.
Ihre Mutter war Optimistin gewesen. Grauenhaft optimistisch. Sie hatte Karten gelegt, orientalische Pflanzen aus orientalischen Wasserpfeifen geraucht und stundenlang im Yoga-Sitz vorm offenen Fenster gesessen, mit einem Ohr der lieblichen Musik der Natur lauschend, mit dem anderen befremdliche easy-listening Musik aus irgendeinem alernativen alternative-shop und konnte am Ende doch nicht schweben – zumindest nicht physisch. Aber das alles hatte sich geändert. Ihre Karten hatten sich in Papiertaschentücher verwandelt, ihre Fingernägel hatten die würzig duftenden Pflanzen abgelöst, anstatt zu rauchen kaute sie lieber und die Zeit, die sie mit Yoga verbracht hatte, verbrachte sie weinend am Wohnzimmertisch.
Moe setzte sich zu ihrer Mutter an den Tisch und strich ihr eine an einer tränenfeuchten Wange klebende Haarstrehne hinters Ohr.
„Daddy?“
„Er ist oben und schnarcht. Er sieht gut aus, wenn er schläft – (Pause) – Und was hast du heute Besonderes vor?“
„Ich treff mich nachher mit Kevin. Wir wollen an den Strand gehen, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Ich glaube, wir werden vögeln, dass sich die Balken biegen.“
Ihre Mutter schnaufte ein Lachen, blickte sie abschätzend an, prustete ein weiteres Lachen heraus und lachte und weinte schließlich gleichzeitig.
„Tu das.“, sagte sie, küsste Moe auf die Wange und drückte ihr Gesicht gegen ihres. ,,Tu das, Babe, tu das.“ Sie seufzte. ,,Dein Vater und ich haben das auch probiert, aber es geht einfach nicht mehr. Dieses Wissen...“, sie verlor sich in einem neuen Weinkrampf, „...es macht mich verrückt!“
Moe versuchte sie zu trösten, drückte ihre Mutter fest an sich, strich ihr über den Rücken, fuhr ihr durchs Haar und küsste sie schließlich auf die Stirn.
„Vielleicht solltest du Daddy wecken. Ihr solltet gweggehen. Irgendwohin, aber zu zweit. Ich mach mich dann nämlich langsam.“
„Hmh-hmh. Gut-gut. Ihn wecken. Du hast recht. Nur noch ein paar Minuten. Genieß die Zeit, Babe. Genieß den Tag.“
Moe lächelte, nickte und wartete auf die Frage. Aber sie kam nicht. Noch nicht. Erst als sie einige Minuten später in der Haustür stand, unfertig, in den selben Klamotten, in denen sie gestern eingeschlafen und heute aufgewacht war, weder geduscht, noch gewaschen, nur schnell die Zähne geputzt um den pelzigen Geschmack von der Zunge zu kratzen, rief sie ihr ihre Mutter hinterher. Sie nickte und sagte ernst und aufrichtig – so ernst und aufrichtig, dass es ihre Mutter zu neuen Tränen rührte – so ernst und aufrichtig, wie immer – Ja, dass sie das bestimmt und auf jeden Fall tun werde, dass sie es ihr versprach, nein, mehr noch, dass sie es ihr schwor und sie sich darauf verlassen könne und dass sie gefälligst noch mal Daddy aufwecken sollte, damit sie nicht so alleine war und bis Morgen, Mommy und grüß Daddy und sag ihm, dass ich ihn lieb hab; Tür auf und raus –
Die Straßen waren leer. Die Sonne brannte und zauberte unerreichbare Seen auf den Asphalt. Ein paar dicke, weiße Wolken zogen wie schwerfällige Dampfer über den Himmel. Ein leichter Wind fegte Chipstüten und alte Zeitungen, die noch aus der Zeit stammten bevor die Verlage und Druckereien ihre Dienste ein für allemal und für alle Ewigkeit eingestellt hatten, vor sich her und raschelte in den dünnen Ästen der Bäume, über die Wiesen der Vorgärten und Transparente, die eine Gruppe fundamentaler Katholiken an jeder Ecke aufgestellt hatten: Bibelpsalme, Liedtexte und ein paar Sprüche, darunter Klassiker wie: Bereut eure Sünden, Der Herr kommt seid bereit, Die Apokalypse naht und Lobet den Herrn.
Moe schlenderte Barfuß über die Straßen, fing an zu traben, zu laufen, spurtete am Ende, genoss die Hitze unter ihren Füßen, bis sie sich schnaufend fallen ließ und der Länge nach auf der Fahrbahn lag. Der heiße Straßenbelag kribbelte ihren ganzen Körper entlang, wie eine Horde kleiner Insekten; A-meisen vielleicht. Sie spürte jede Rille, jede Ritze, jede Unebenheit und jeden kleinsten Kieselstein, der sich leicht in ihre Haut bohrte. All das fühlte sich unglaublich gut an.
Irgendwo in der Nähe kreischte eine Möwe, ein Rascheln über irgendeinem Dach – wahrscheinlich ein Waschbär. In den letzten Wochen seit es immer weniger Menschen gab, waren sie überall zu sehen.
Sie wusste, dass Mommy Daddy nicht wecken würde. Mommy würde unten sitzen bleiben, alleine, warten und nachdenken und warten und nachdenken und wenn Daddy nicht mehr aufwachte, würde sie bis zu dem Moment einfach nur dasitzen und warten, dass sie verschlungen wurde.
Starr blickte sie in den Himmel, ihr Brustkorb hob und senkte sich. Das Rascheln war verklungen.
Kevin wohnte nur noch zwei Blocks von hier entfernt, aber eine kleine Pause war jetzt nicht verkehrt, ansonsten war sie am Ende noch zu früh da. Den Rest des Weges würde sie sowieso rennen. Sie liebte es zu rennen. Es fühlte sich gut an. Sie liebte das Brennen in ihrer Lunge, liebt das gummyartige Gefühl in ihren Waden, wenn sie sich danach einfach fallen ließ, liebte es, wenn ihr Herzschlag ihre Augäpfel zum Pulsieren brachte. Und sie liebte die Sonne, liebte die Hitze, liebte das Feuer, das Licht. Erinnerte an Sonnenbrände, Schwimmen und Spaß. Und sie liebte die Wolken, die träge über den himmlischen Ozean glitten und es sich ab und zu tollkühn wagten, sich der Sonne in den Weg zu stellen und damit hummerroten Nacken, Schultern und Nasen ein paar Sekunden Erholung zu gönnen. Sie wollte leben. Sie wollte rennen und sich fallen lassen und sich in der Sonne rösten, Tag für Tag. Aber sie würde sterben. Genau so, wie alle anderen. Genau so wie Mommy die wahrscheinlich noch immer am Wohnzimmertisch saß und in ein Papiertaschentuch nach dem anderen schneuzte und schluchzte und weinte. Weinte, wie jeden Morgen, wie jede freie Sekunde seit dieser Nachricht. Seit der Pressekonferenz, der netten Leute aus dem Weißen Haus, die ihnen allen freundlicherweise und ohne jeden Skrupel mitgeteilt hatten, dass sie die Ehre hätten die letzten Menschen zu sein, die je auf Mutter Erde existieren würden, dass sie Zeuge der letzten Sekunden dieses Planeten sein durften oder anders gesagt: Dass allen in ungefähr vier Wochen und einem Tag der unausweichliche Tod bevorstand und aufgrund dessen jeder Mensch das von Gott gegebene Recht hatte zu erfahren, dass ihm nur noch wenige Tage zur Verfügung standen, weil er das von Gott gegebene Recht hatte seine letzten Tage so zu verbringen, wie er es für richtig hielte. Noch vier Wochen und einen Tag. Das waren ab heute nur noch knappe fünf Tage! Auf die Ansprache folgte eine Computersequenz, die so alt und billig aussah, dass sie fast zum Lachen gewesen wäre. Man sah ein rundes, schwarzes Gebilde, das große Ähnlichkeit mit einer durchs All schwebenden Pupille hatte und sich langsam der Erde näherte. Ein schwarzes Loch. Kein Asteroid, den man mit ein paar nuklearen Sprengköpfen a lá hollywood zum Teufel jagen konnte. Nein! Gegen ein schwarzes Loch gab es rein gar nichts und das hieß ganz einfach Feierabend.
Schnitt auf die Erde: Computeranimierte, lächerlich eckige Bäume wurden aus der Erde gerissen, grotesk in die Länge gezogen und flutschten rasant beschleunigend in dieses Ding hinein, das am Himmel schwebte, wie eine schwarze Sonne, gefolgt von eionem computeranimierten, noch lächerlich eckigerem Haus-vom-Nikolaus, das traurigerweise das gleiche Schicksal erleidete, genau so wie ein computeranimiertes, zylinderförmiges Auto und sogar eine computeranimierte, kaum zu erkennende Kuh, was dem ganzen wirklich noch den letzten Schliff verpasste, bis sich die ganze computeranimierte Welt auf die gleiche Art und Weise verabschiedet hatte und nur noch diese seltsame Pupille übrig blieb. Sozusagen ein kosmischer Staubsauger, der alles und jeden auf quantumhafte Größe zusammenpresste und dann weiterzog um sich das was von unserem lächerlich winzigen Sonnensystem noch übrig geblieben war auch noch einzuverleiben.
Als sie am Tag der Nachricht von der Schule nach Hause gekommen war, hatte sie ihre Mutter das erste Mal in ihrem Leben weinen gesehen und seitdem jeden Tag. Sie weinte, weil sie sich ständig vor Augen führte, was alles verloren ging und das war insofern eine ganze Menge, weil eigentlich alles verloren ging. Aber anstatt alles als Alles zu betrachten, führte sie sich lieber jede Einzelheit vor Augen, weinte darüber, dass es nie wieder Cracker mit Käsegeschmack, die Jerry-Springer-Show oder Rice-Crispies geben würde, weinte darüber, dass es nie wieder ein Land in Form eines Stiefels geben würde, darüber, dass es nie wieder Bäume, Vögel, Seen und Berge und Städte geben würde. Nicht einmal eine Weltgeschichte würde übrig bleiben, was ihrer Ansicht nach zu der deprimierenden Tatsache führte, dass alles je Geschehene für die Katz war. Und dann kam irgendwann die Sache mit der Frage. Mommy hatte mit ihr geredet, über den Tod, ob sie Angst vorm Sterben hätte, ob sie an Gott oder sowas Ähnliches glaube oder ob sie sonst eine Vorstellung hatte, was auf der anderen Seite mit ihrer Seele geschehe, ob sie bete oder ob sie ehrfürchtig sei. Moe hatte mit dem Kopf geschüttelt und ihr zu verstehen gegeben, dass sie weder irgendeinen Glauben noch irgendwelche Ängste hatte, sich im Grunde genommen noch gar nicht so viele Gedanken darüber gemacht hätte und das eigentlich auch nicht vorhätte. Sie hatten am Küchentisch gesessen, die Fenster waren weit geöffnet gewesen und schwere, dicke Regentropfen eines schnell herannahenden Gewitters waren auf dem Fußboden zerplatzt. Moe wusste selbst nicht, ob das was sie gesagt hatte wirklich stimmte und auch ihre Mutter schien mit ihrer Antwort nicht zufrieden gewesen zu sein. Sie hatte gesagt, dass das alles nicht so einfach sei, dass man sich Gedanken machen müsse, da der Augenblick des Todes, der Augenblick des Übergangs vom Leben zum Tod, ein großes Ereignis wäre und das es ganz besonders auf die letzten Sekunden ankam, daran woran man dachte, wo man war mit seinem Herz und seinem Geist.
„Wirst du an mich denken... in dem Moment?“, hatte sie gefragt, „Wenn ich weiß, dass du an mich denkst, kann ich... dann kann ich sterben. Es würde mir wirklich, wirklich viel bedeuten.“
Moe hatte ohne sich viele Gedanken zu machen genickt, aber damit war es noch nicht getan gewesen. Sie musste es versichern, musste es versprechen, es schwören und das jeden Tag aufs Neue. Heute genau so wie gestern und vorgestern und die Woche davor.
Kevin hockte auf der Bordsteinkante vor dem Haus in dem er wohnte. Sie sah ihn und schrie seinen Namen, winkte und lachte und rannte. Als er sie bemerkte, stand er lächelnd auf, streckte die Arme nach ihr aus und wäre von ihr fast übern Haufen gerannt worden, als er sie abfing. Kevin war fünfzehn, gut ein halbes Jahr älter als sie. Seit zwei Monaten waren sie fest zusammen, soweit man das sagen konnte. Er war bei ihr in der Klasse gewesen, als es noch Schulen gegeben hatte.
„Du hast hier draußen auf mich gewartet, hab ich recht? Weil du es nicht erwarten konntest mich zu sehen, gib’s ruhig zu!“
Sie schmatzte ihn einen Kuss auf den Mund.
Er trug nichts weiter als dunkelblaue Badeshorts, die ihm fast bis zu den Knien reichten. Er war dünn und groß, seine Haut war rot von der vielen Sonne in den letzten Tagen.
„Ja, gut, stimmt. Auf der einen Seite schon.“ Sein Blick schweifte zum Haus. Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Garage. Erst jetzt bemerkte sie den feinen, dunklen Rauch, der unter dem Garagentor hervorquoll. „Lass und zum Strand gehen.“, sagte er, legte einen schweißigen, nackten Arm um ihre Schulter und zog sie sachte vom Haus weg Richtung Meer. Er war heute Morgen nach hause gekommen, erzählte er ihr auf dem Weg. Als er die Tür geöffnet hatte, war ihm schon dieser giftige Gestank entgegengekommen. Abgase, Werkstatt, Tankstelle. Er hatte gedacht, dass Mom, Dad und Nicky nicht da waren, als sie nicht antworteten, wenn er nach ihnen gerufen hatte. Aber dann war ihm klar geworden, warum sie nicht antworteten, als er sie im Auto gefunden hatte, Mom und Nicky mit einem Stromkabel gefesselt auf dem Rücksitz und Dad vorne sitzend mit dem Kopf aus der halb geschlossenen Scheibe hängend.
„Sind sie tot?“, fragte sie.
„Hmh-hmh. Irgendwie schon.“
Die Straße führte steil bergab. Der Strand lag unter ihnen, wie eine gigantische Rippe. Kein Mensch war zu sehen. Die Häuser um sie herum waren leer, die Geschäfte geschlossen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht zu plündern. Es hatte keine Massenpanik gegeben, keine Straßenkämpfe oder Aufmärsche. Es hatte nur Stille gegeben. Die Straßen waren immer leerer geworden und der Geruch nach einsam in ihren Wohnungen hinter verschlossenen Türen und Fenstern verwesenden Leichen immer intensiver.
Moe stoppte vor einem Schaufenster. Das Geschäft trug den Namen Crystal Beach Souvenier Corner. Der Innenraum war dunkel. Kein Schild zeigte an, ob das Geschäft geöffnet oder geschlossen war, aber das war ohnehin überflüssig. Ein paar Postkarten lagen hinter dem Schaufenster. Auf einen Blick gesehen hauptsächlich Luftaufnahmen vom Strand und der Stadt, Fischkutter vor unzähligen, immer gleich aussehenden, farbenprächtigen Sonnenuntergängen oder halbnackte Frauen, die sich in der Sonne bräunten. Ein paar billige T-Shirts mit dem Namen der Stadt oder halbwegs lustigen Sprüchen, Sonnenschirme, Sonnenbrillen, Sonnencremes mit verschiedenen Lichtschutzfaktoren, Tassen, Campinggeschirr (obwohl am Strand Campen verboten war woran sich aber niemand je gehalten hatte) und an einem Haken baumelte eine Kette aus verschiedenen cremefarbenen Muscheln, die auf einer dünnen schwarzen Lederschnur aneinandergereiht waren.
„Schnickschnack.“, murmelte Kevin.
„Gar nicht wahr. Die Kette ist hübsch.“
,,Die Kette ist hübsch?! Weiberkram. Weißt du warum die glänzt?“
„Hmh?“
,,Weil sie mit irgendwelchen krebserregenden Lacken eingesprüht wurde. Das ist alles.“
„Stimmt doch gar nicht. Seh ich aus wie jemand, der sich von dir verscheißern lässt? Ich hätte sie mir gekauft, sie ist schön. Sieht irgendwie nach Strand aus... Wer zuerst im Wasser ist!“
Sie rannte los, über die Straße, über die niedrige Steinmauer, die den Asphalt vom Strand trennte, über den Sand.
„Ich will nicht rennen.“, rief er hinter ihr her. Als sie stehenblieb um sich nach ihm umzuschauen, rannte er laut lachend an ihr vorbei, erreichte das Wasser als Erster und sprang kopfüber in eine heranbrechende Welle hinein.
„Hey!“, schrie sie, rannte hinter ihm her. Ihre Füße warfen den Sand auf, gruben sich in den Matsch; das kalte Wasser kitzelte ihre Füße, dann sprang sie auf seinen Rücken und tauchte ihn unter. „Du schummelst“, rief sie, „Du Betrüger. Du wirst disqualifiziert und zwar auf Lebenszeit!“.
„Warum disqualifiziert?“, lachte er. „Das hier war überhaupt kein geregelter Wettbewerb, ich kann gegen gar keine Regel verstoßen haben, weil es gar keine Regeln gibt.“
Er bäumte sich auf und warf sie von seinem Rücken ins Wasser. Sie schleuderte eine Hand voll Wasser nach ihm, traf ihn im Gesicht, er revanchierte sich, rannte davon, so schnell es das Wasser zuließ und sie ihm hinterher. Wassertropfen glitzerten in der Sonne, wie Kristalle, Schwärme kleiner Fische zerstäubten sich voller Panik in alle Richtungen, Möwen krischen, die Tretboote am Steg knarrten an ihren Tauen. Die letzten Wolken lösten sich in Nichts auf, die Felsklippen, die die Bucht einkesselten, glitzerten gold und silber, Crystal Beach lag hinter ihnen, seine kleinen bunten Holzhäuschen blickten sehnsüchtig auf den unendlichen Ozean hinaus. Moe und Kevin rannten durch flaches Wasser, über den Strand, kletterten über die Klippen, schwammen zum Ende des Stegs und zu den kleinen Felsinseln, die wenige Meter vom Strand entfernt aus dem Wasser ragten und als die Sonne viel zu früh, wie eine glühende Münze in den Horizont eintauchte, lagen sie alleine am Strand, der noch vor einem Monat mit Menschen überfüllt gewesen war, die jetzt wahrscheinlich zum größten Teil tot waren und schliefen miteinander. Und als der Mond, wie eine silberne Sichel am Himmel erschien und nichts anderes mehr zu hören war, als das Rauschen der ewig heranbrechenden Wellen, schlief Moe in Kevins Arm ein, während sie den Geschmack von Salz auf den Lippen schmeckte und den feinen weichen Sand unter ihrem Körper spürte, und träumte von Sonnen, Feuern und hellen Lichtern.
„Was ist los? Was...? Was ist los?“, fragte sie noch halb im Schlaf versunken. Kevin stand neben ihr, die Arme schützend vor seinem Körper verschränkt. Die Nacht war finster, trotzdem erkannte sie die Angst in seinem Blick.
„Hörst du das?“, sagte er leise. Seine Stimme zitterte. Sie setze sich auf und lauschte. „Hörst du’s?“, fragte er noch einmal und starrte mit vor Schrecken weit geöffneten Augen auf sie hinab.
Ein tiefes Grollen drang vom Meer her zu ihnen herüber. Der Strand unter ihren Händen begann leicht zu vibrieren.
„Es ist zu früh.“, flüsterte er. Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Es ist zu früh. Viel zu früh.“
Er rannte zum Wasser, blieb stehen und starrte zu ihr zurück. „Es kommt!“, brüllte er heulend. „Die Scheiße kommt vom Meer! Verdammt nochmal!“
„Das kann nicht sein.“, rief sie ihm zu, aber es bestand kein Zweifel. Das Vibrieren unter ihren Händen war zu einem Zittern wie bei einem Erdbeben angeschwollen. Die Boote schaukelten, das Holz der Häuser hinter ihnen knackte, knirschte, krachte – und zerbrach.
„Ich will nicht sterben!“, brüllte er. „Und ich werde nicht sterben. Hast du gehört? Ich werde – nicht – sterben!!!“
Er starrte sie düster an. Der Wahnsinn spiegelte sich in seinen Augen. Dann fing er an zu rennen, rannte an ihr vorbei, über den Strand, über die Straße, in die Stadt hinein und ließ sie alleine.
Das Grollen wurde lauter, das Zittern immer stärker. Sand flog an ihr vorbei, wurde ins Meer gezogen und sie fing an zu weinen.
Es war da, vier Tage zu früh, aber es war da. Sie stand auf und ging zum Wasser, bis sie bis zu den Knien im Meer stand. Kalte Wellen umspielten ihre Beine, ihre Haare wurden Richtung Meer gezogen. Der feine Schlamm unter ihren Fußsohlen fühlte sich weich an.
Der Tag gestern war schön gewesen, dachte sie und weinte. Die Sonne, die Wolken und das Meer – und die kleine Muschelkette aus dem Laden.
Ende