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Sonnenblumen, Eiskristalle
Wenn ich aus dem Fenster sehe, einfach raus, die Eiskristalle auf der Fensterscheibe, die schneebedeckten Äste betrachte, den Winter, die Wintervögel, und wenn ich mir die Ohren zuhalte und mit aller Kraft versuche, mir die Stimmen der Vögel vorzustellen, dann übertönt ihr Gesang in meinem Kopf ab und zu das Geschrei und alles hier.
Es wäre ein Zeichen übermäßiger Sentimentalität, jetzt zu weinen, das Eingeständnis einer Niederlage und furchtbar pubertär, und deshalb tue ich es nicht.
Schaue hinaus.
Dieses Haus- alle sind so aggressiv, streiten sich. Schreien. Schlagen Türen zu, stampfen auf, dann wieder Schreien. Direkt vor meinem Fenster sitzt so ein kleiner, dicker Vogel mit grauen Federn und einem gelben Schnabel auf einem großen Ast, blickt hierhin, blickt dahin. Sucht vielleicht Körner. Jetzt brüllt M seine angetraute Ehefrau an, sie sei eine hysterische Idiotin, vielleicht schlägt er sie gleich wieder? Vielleicht sollte ich dem Vogel ein paar Sonnenblumenkerne holen? Steh auf, Marja. Der Vogel hat sicherlich Hunger. Stolz spaziert er ein bisschen auf seinem Ast herum, nickt dabei mit dem Kopf, wie Vögel das ja immer tun. Sina hat mir erzählt, das liegt daran, dass Vögel keine Feinmotorik haben. Das muss schrecklich sein, überlege ich mir, niemanden streicheln zu können. Na- Vögel schnäbeln. Im Zimmer nebenan dreht Anja Linkin Park auf und schreit, dass sie verdammt nochmal keinen Bock mehr hat. Ms Angetraute heult. Ich muss dem Vogel etwas zu essen bringen! Er hat Hunger, Marja, es ist Winter. Ich habe keinen Hunger.
Nie.
Sie schreien, hassen sich, giften sich an, schleudern ihre Verbaldolche, Giftgasblicke, monströs gestikuliert man zur Bekundung der eigenen Verachtung für das Gegenüber, schlagt euch, Anja hört laut Linkin Park, schreit, schlägt gegen die Wände, ich ziehe meine Knie an mich, umschlinge sie mit den bunten, dürren Armen und schweige.
>Honey, I don't feel so good, don't feel justified.<
Jonathan hat heute angerufen und erzählt, dass es ihm Leid tut, mich vorgestern sitzengelassen zu haben. Der Vogel plustert seine Federn auf, Sina hat mir erzählt, damit könnten die sich warmhalten, wobei ich das sogar glaube.
Ja.
Jonathan entschuldigte sich, es wäre etwas dazwischengekommen, ich weiß schon gar nicht mehr, was. Er hat diese Woche auch sonst keine Zeit. Vielleicht könnten wir uns am Wochenende sehen, oder besser nächstes? Aufgeplustert wirkt der Vogel irgendwie noch moppeliger, richtig süß.
Ich habe Jonathan erzählt, dass ich ihn furchtbar liebe, und er hat gesagt, ja, danke. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er wirklich antworten würde: Ich dich auch, Marja, ich dich auch, wie mein eigenes Leben & noch 100 und 1 mal mehr, lass uns hinausziehen in die Wälder, gemeinsam, aneinandergeklammert gegen die Kälte wärmen wir uns, lieben wir uns, sind wir eins, ich liebe dich.
Ich hatte noch nicht einmal auf ein einfaches 'Ich dich auch' gehofft, wie er das früher ja immerhin gesagt hat. Das heißt, ein bisschen hoffte ich das wohl schon - jedenfalls ausreichend, um enttäuscht zu sein und gekränkt.
Na, kleiner Vogel? Legst du den Kopf schief? Na, was heißt denn das?
Nein, schreit Ms Ehefrau heulend, geifernd, geh doch zu deinen Huren, Krüppel. Verpiss dich.
Ich sollte endlich ausziehen.
Ich steige vom Bett, schließe meine Tür auf. Runter. In die Küche. Achtet nicht auf mich. Gut, schreit einfach weiter. Auch gut, schreit mich an. Es kümmert mich nicht. Ach sei du doch ruhig du hast doch selber blöde alte Schlampe Krüppel Verpiss dich. Fass nach mir, ich weiche aus, du berührst mich nicht, nie wieder! Fast möchte ich ihn auch beleidigen. Fass nach mir, pah. Ich dagegen fasse nach ein paar Vollkornbrotkanten, die hier liegen, es ist penibel sauber, eigentlich könnte man glatt vom Tisch essen, wenn die Luft hier nicht so nach Streit und Hure! und Wichser! stinken würde.
Außerdem habe ich sowieso keinen Hunger.
Sie sagen jetzt wieder etwas zu mir, leise, drohend. Ich flüstere trocken, ihr stinkt - nach Hass; drehe mich um. Weg.
Während ich langsam die Körner von den Brotkanten abpule & -prockle & -fingere, denke ich daran, dass eigentlich Gefühle nicht das großartig transzendental Bedeutsame sind, als das sie sich aufspielen. Dass Gefühle eigentlich nur die Überbleibsel der Instinkte sind; aufgemotzte Tiertriebe. Früher vielleicht ganz nützlich. Als man noch Mammuts durch den Schnee trieb - für die Gruppendynamik wichtig, für's schnelle Reagieren, für Hierarchie.
(Ach, Marja, das glaubst du doch selbst nicht.)
Dann denke ich an Jonathan.
Als ich das Fenster öffne, flattert der pummelige Vogel erschreckt auf. Ich verteile die Körner auf meiner Fensterbank, mache kleine Häufchen. Jonathan hat ja ganz süße Ohren, ich wünschte, er wäre jetzt hier, mich zu halten, mich zu wärmen, >Come on, put a little love here in my void<. Die Körner sind schön und groß, erinnern an Sommer. Anja schreit jetzt M und seine Angetraute an. Der Vogel kommt wieder, setzt sich auf den Ast und schaut mir zu. Ja - ein kluges Tier. Ich würde gerne sehen, wie er seine Geliebte hierher führt, sie zum Körnerdiner einlädt, dann schnäbeln die Vögel hier vielleicht. Eigentlich habe ich am Wochenende schon etwas Besseres vor, als Jonathan zu treffen, und wir könnten sowieso wieder nichts miteinander anstellen. Nur Filme kucken. Aber dabei nervt er auch immer. Bin ich denn so kompliziert, verdammt?
Vögel schnäbeln.
Die letzten paar Körner puste ich von meiner Handfläche in den kalten Wintertag hinaus.