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Sonnenstrahl aus Eis (zweite Version)
Rot und orange. Als würde der Himmel brennen. Golden, als würde in der Ferne eine neue Zeit anbrechen. Als würde Bewegung den Stillstand brechen und das Eis der Wärme weichen. Doch war es nur die Sonne, die allmählich hinter den uralten Bergen verschwand. Schnee und Kälte ließ sie unberührt zurück.
Wie ein Stillleben ruhte die Welt. Dominiert von Eis, verschneiten Bäumen, Wiesen und zugefrorenen Bächen. Ein Paradies für das Auge und der Tod für das Leben. Nur vereinzelt zogen sich Spuren durch den Schnee: Pferdehufe, Wildwechsel, Wölfe, Bären und Banditen. Und tief in den Wäldern konnte man auch auf Größeres treffen, auf Böseres.
Nur rundum der Geysire florierte noch das Leben. Hinter dicken Wällen aus Eis und Stein herrschten dort die Fürsten der ehemals immergrünen Länder. Vergangen war ihr süffisanter Prunk, zurückgekehrt war die Zeit der rauen und wilden Krieger. Doch auch sie waren mehr und mehr machtlos, gegen die, die man immer häufiger und näher an den Lagern beobachtete – Wesen der Kälte.
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... Eises Hoffnung,
des Wassers Diamant,
Prisma für die letzten Sonnenstrahlen,
ein Traum von Schönheit in Todes Gewand.
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Helle Töne eines harfenähnlichen Instruments drangen leise durch die Stille. Herangetragen auf eisigem Wind. Eine volle, knabenhafte Stimme setzte ein und formte Worte zu einem Lied. Sowohl das Spiel als auch der Gesang waren unsicher, weit entfernt von einem Meisterbarden. Aber es wärmte und ließ sie erwachen.
Wie lange sie dort gestanden und in die Landschaft gestarrt hatte, wusste sie nicht mehr. Zeit war für sie keine Einheit, nicht von Belang. Sie lebte nicht für den Moment, nicht für ein persönliches Ziel. Sie existierte, weil sie es einfach tat, wie ein Baum im Wald. Wenn es überhaupt einen Grund gab, dann den, um das, was sie ihre Welt nannten, zu verteidigen.
Sie bewegte ihren Kopf von der einen zur anderen Seite und sah sich um. Eben ging die Sonne unter. In der Ferne heulten Wölfe – einsam. Ansonsten war es still. Alles war noch so, wie bei ihrer Ankunft. Aber was hätte sich auch verändern sollen? Wie sie selbst, war es ein Bildnis der Unendlichkeit.
Sie schüttelte ihren Kopf, um sich vom Schnee zu befreien. Es enthüllte unnahbare, harte Gesichtszüge, die gleichwohl unglaublich schön waren. Ihr Haar schimmerte in glänzendem Weiß und war kaum vom Schnee zu unterscheiden. Ihre Lippen waren blaß und dünn, ihre Augen so blau, wie der Himmel an den kältesten Tagen.
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...doch wer dich durchquert,
deine Schönheit erfährt,
wird sie verlieren,
die Unschuld der Wärme,
und wird erstarren,
im Sonnenstrahl aus Eis.
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Weitere Melodiefetzen trug eine schneidend kalte Windböe zu ihr herüber. Ihre Augen suchten den Ursprung und blieben an einem verschneiten, dunklen Tannenwald hängen, welcher sich kurz unter der Anhöhe, auf der sie stand, majestätisch erhob. Ihre Hände griffen rechts und links an ihre Hüfte. Zwei dünne, durchscheinende Schwerter hingen dort und schmiegten sich wie angegossen in ihre Hände. Sie waren schlicht – ohne Verzierung, als hätte die Kälte sie aus Wasser geschmiedet. Doch die Klingen ließen eine Schärfe erahnen, die Eis nie erreichen konnte. Über ihre Schulter ragte ein Bogenstab hinaus, der aus dem selben Material angefertigt zu sein schien. Er wirkte so zerbrechlich, dass man sich nicht vorstellen konnte, darauf einen Pfeil abzuschießen, ohne den Bogen dabei zu zerbrechen.
Grazil schritt sie die Anhöhe herunter. Ihr Körperbau war zierlich. Wind spielte mit dem Eis in ihren Haaren. Die letzten Strahlen der Sonne spiegelten sich auf ihrem dünnen Panzer wieder und ließen ihn erscheinen, als würden er in Flammen stehen.
Wer war es, der des Abends in den Schatten des Wald zur Harfe sang, anstatt vor einem warmen Herd zu sitzen?
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Als ich dich erblickte,
zum ersten Mal,
habe ich nur die Hoffnung gesehen,
an sie geglaubt,
in ihr gebadet,
bis ich eindrang und die Kälte in mich.
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Die Stimme klang melancholisch und doch warm. Bilder und Formen setzten sich bei dem Gesang in ihrem Kopf frei und beflügelten sie. Machten sie beschwingt, als könnte sie fliegen, frei wie ein Vogel. Was es berührte verstand sie nicht, verstand sie nie. Es war etwas, das tief in ihr schlummerte. Etwas, das ihr das Gefühl von Glück vermittelte, ihr aber ebenso Furcht einflößte. Etwas, das sie letztendlich umbringen würde, wenn die Musik es erweckte. Es war etwas, über das man schwieg und über das doch alle bescheid wußten: nicht wenige der ihren waren elendig daran verendet. Es war wie ein Feuer. Sie konnte sich daran wärmen, doch trat sie zu nahe heran, würde es sie töten. Trotzdem übte es eine magische Anziehungskraft aus, der sie sich nicht entziehen konnte.
Wie ein Raubtier huschte sie durch das lichte Unterholz der großen Tannen, wurde für das bloße Auge beinahe eins mit der Umgebung. Sie berührte den Schnee, doch hinterließ sie keine Spuren. Ihre Schritte hinterließen keine Geräusche. Als würde ihre Kälte selbst die Schwingungen der Töne zum Erliegen bringen. Plötzlich blieb sie stehen und hob ihre Nase. Der Geruch von verbranntem Holz lag in der eiskalten Luft. Der Sänger hatte sich ein Feuer gemacht. Wie unvernünftig. Sie biss sich auf die Unterlippe und sah in die Richtung, aus der die Musik gekommen war. Wer war dieser jemand, der an ihre dunkelsten Türen klopfen konnte und gleichzeitig so unglaublich unvorsichtig war? Er würde diese Nacht nicht überleben, wenn er weiter soviel Aufmerksamkeit auf sich zog. Oder war es eine Falle? In den Wäldern, dort wo nichts existieren sollte, waren Geschöpfe entstanden, deren List nur noch von ihrer Grausamkeit übertroffen wurde. Sie lebten von Elend und Schmerz. Bei dem Gedanke wurden selbst für sie die Schatten der Bäume dunkler, jedes Geräusch verdächtig. Ein falscher Schritt konnte das Ende bedeuten.
Es dauerte nicht lange, da sah sie Feuerschein an den dunklen Schatten der Tannen zerren. Von Baum zu Baum huschte sie näher heran, bis sie einen blonden Jüngling erblickte, der wohl noch keine fünfundzwanzig Winter gesehen hatte. Er saß, in einen braunen, wollenen Umhang gehüllt, auf einem Baumstamm vor einem lodernden Feuer über eine Harfe gebeugt. Sein blondes, schulterlanges Haar hing ihm ins Gesicht. Nur ein kurzes Schwert lehnte neben ihm an dem Baumstamm. War dieser Anschein von Wehrlosigkeit womöglich nur ein Trugbild? Langsam näherte sie sich ihm.
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Doch Erinnerungen des ersten Augenblickes,
eine wärmende Flamme,
gefroren im Eis.
Wartend auf den Frühling.
Ein unbewegtes Bild des Glaubens,
an einen Sonnenstrahl aus Wärme.
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Als das letzte Wort seinen Mund verlassen hatte, die letzte Seite angeschlagen worden war, blickte er auf, ihr direkt in die Augen. Seine waren auch blau. Doch dunkel, wie das Wasser eines tiefen Sees. Keine Furcht war in ihnen zu lesen. Seine Züge waren fein und das Gesicht strahlte Offenheit und Freundlichkeit aus.
Unwohl näherte sie sich noch einen Schritt dem Feuer, obwohl er für sie keinerlei Gefahr darzustellen schien. Wellen der Musik, wie ein Nachhall, rollten ihr immer noch angenehm den Rücken hinunter. Er blieb stumm.
„Ist dieser Wald des Nachts nicht etwas zu gefährlich für einen Harfner?“
Frostig schnitten ihre Worte durch die Luft. Seine rechte Hand fuhr über die Saiten der Harfe. Leise Töne verbanden sich mit dem Knacken des Feuers und durchdrangen ihren Panzer aus Eis. Es erregte sie. Ein angenehmer Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Spiel weiter, wollte sie rufen, aber so etwas ziemte sich nicht. Jemand wie sie kannte keine Schwäche, war von nichts abhängig und kannte schon gar nicht so eine Reaktion.
„Ist der Wald nicht auch etwas zu gefährlich für euch, gnädige Frau?“, riss er sie aus ihren Gedanken.
Ein leises Lachen, wie das Klirren von Eis, entfloh aus ihrer Kehle.
„Euer Feuer zieht die Aufmerksamkeit in einem Meilenradius auf sich – ebenso wie euer Gesang.“
Der Harfner lächelte sie aus seinen dunkelblauen Augen an. „Wer will schon einen Harfner töten? Es heißt, die Geschöpfe der Kälte meiden Feuer und Gesang.“
„Und was, wenn nicht?“
Der Harfner hob die Schultern. „Dann ist es mein Schicksal. Aber sie werden nicht kommen.“
„Und was ist mit Banditen?“
„Was soll mit ihnen sein? Ich bin kein Mann des Schwertes. Mich müssen sie nicht fürchten, ich verabscheue Gewalt. Und ich besitze wenig, außer meiner Musik und für sie müssen sie mich leben lassen. Und wenn sie wollen, dann spiele ich auch für sie. Aber normalerweise verirren sich nur Durchreisende an mein Feuer und wollen meinem Gesang lauschen. Wenn ihr wollt, könnte ich Euch zum Beispiel ein Lied über die Geschöpfe der Kälte singen.“
„Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt schon mal eines gesehen?“
Der Harfner nickte ernst. „Jawohl. Schon mehrere von weitem. Sie sind schrecklich entstellt und verkrüppelt. Und grausam sind sie. Sie würden Euch ohne mit der Wimper zu zucken verspeisen, das schwöre ich Euch. Gerade Jungfrauen schmecken ihnen köstlich.“
„Interessant. Ihr solltet Euer Wissen mit den Herrschern der immergrünen Länder teilen. Aber ich bin nur eine einfache Frau, erzählt mir lieber von dem Lied, dass ihr soeben gesungen habt. Es war schön.“
Ein trauriger Schatten huschte über das Gesicht des Harfners. Es war, als würde von einem Moment auf den anderen seine frohgemute Maske der Selbstsicherheit abfallen.
„Eiskristall heißt es. Handelt von meinem Weib.“
Langsam sagte er es und bedacht. Als würde jedes der Worte einen unendlich großen Wert besitzen.
„Warum ist es dann nicht fröhlich?“
Als würde er ihre Frage nicht hören, schüttelte der Harfner traurig den Kopf. „Sie ist einfach gegangen.“
Einen Moment verstummte er, starrte ins Feuer und doch in eine ganz andere Welt. „Sie hat mich von Anfang an belogen und ich habe es zugelassen.“
„Warum?“
Er sah sie verständnislos an. „Weil ich sie geliebt habe! Wart Ihr noch nie blind vor Liebe?“
Sie schüttelte den Kopf. Liebe?!
„Ja, Liebe!“ Sie hatte es laut ausgesprochen. „Jemand, der so hübsch ist wie Ihr, muss doch schon einmal geliebt haben.“
„Zum Glück noch nicht, wie es aussieht“, gab sie barsch zurück. Was maß er sich an ihr zu sagen, was sie schon getan haben musste?
Er blickte sie kopfschüttelnd an.„Wer hat Euch so etwas gelehrt? Es hat auch seine schönen Seiten. Es gab viele schöne Momente. Ich würde sie nicht missen wollen. Und vielleicht hätte ich Marie auch ändern können, ihr helfen können. Tief in ihr war sie gut. Ja, das war sie.“
Da musste sie auflachen. „Was seid ihr doch gutgläubig. Denkt Ihr das wirklich?“
Er nickte ernst. Sein Blick haftete an ihren Augen. „Ein Mensch kann sich ändern. Liebe kann das, sie kann die Welt bewegen.“
„Mir scheint, als würde sie nicht viel bewegen außer Euch in Euer Verderben. Menschen ändern sich etwa soviel, wie, wie“ sie lachte wieder leise auf, „wie wir uns nicht dem Feuer nähern können.“
Da schrak er das erst Mal auf. Es dauerte einen Moment, bis Worte heißer seine Kehle verließen. „Ihr, Ihr seid kein ... Ihr seid ein...?“
Sie nickte. Feuerschein flackerte über ihr Gesicht, das starr war wie das Eis. Panisch blickte er sie über das Feuer hinweg an.
„Es heißt, ihr saugt den Lebenden ihre Wärme aus“, stotterte er. Sie sprang auf und nährte sich ihm tänzelnd.
„Ist das so?“, spöttelte sie. „Ich dachte wir fressen Euch ohne mit der Wimper zu zucken auf! Seid Ihr denn noch Jungfrau?“
Seine Hände klammerten sich um die Harfe. Sie lachte innerlich auf. Er kam ja nicht einmal auf den Gedanken, sein Schwert zu benutzen oder wegzurennen. Wie ein verschreckter Welpe. Wie lange hatte sie schon nicht mehr so einen Spaß gehabt.
Spielerisch zückte sie eine ihrer Klingen. Der Harfner schloss die Augen. Seine Lippen bebten.
„Was macht Eure Liebe jetzt? Die Welt bewegen? Mich bewegen?“
Im selben Moment krachte etwas in den Stamm eines Baumes, direkt neben seinem Kopf.
Ohne einen Gedanken darüber zu verschwenden, was es war, katapultierte sie sich auf den Harfner, der mit ihr zu Boden ging.
„Tötet mich nicht“, flüsterte er, als sie sich von ihm wälzte.
„Dummkopf“, gab sie zurück. „Ich wollte Euch nur Angst einjagen. Ein Pfeil hat Euch um Haaresbreite verfehlt. Banditen, die Eure Musik wohl nicht mögen!“
Er nickte wie in Trance. Sie seufzte, steckte ihre Klinge zurück und griff nach dem Bogenstab. Im selben Moment wand sich etwas aus dem unteren Ende des Stabes heraus. Es sah aus wie eine gläserne Pflanzenranke. In irrer Geschwindigkeit wuchs sie zum oberen Ende des Stabes hinauf und schlang sich um ihn. Auf der so entstandenen Sehne formte sich etwas Pfeilartiges, nur sah es perfektionierter, tödlicher und organischer zugleich aus. Es war, als hätte der Bogen ein Eigenleben.
Augenblicklich brachen die ersten Gestalten aus den Schatten der Bäume hervor. Die Verzweifelten wurden sie genannt. Sie hatten zu wenig, um zu überleben und waren zu zäh, um zu sterben. Es waren keine Menschen mehr. Es waren Wilde, degenerierte, traurige Geschöpfe.
Der erste Pfeil durchbohrte einen davon. Ein Bluttropfen entjungferte den Schnee. Kein zweiter konnte folgen. In sekundenschnelle breitete sich eine Eisschicht auf dem Wilden aus und ließ ihn erstarren. Wie eine Statue kippte er einfach auf den gefrorenen Boden.
Drei weitere Banditen drangen auf sie ein. Sie waren in dicke Tierfelle gehüllt. Mit Bären- oder Wolfsköpfen bedeckten sie ihre Häupter. Durch verfilzte Bärte zugewachsene Gesichter starrten ihr erbarmungslos entgegen. Die mächtigen Pranken der Wilden führten verrostete Langschwerter oder aus dicken Ästen angefertigte Keulen. Nägel ragten aus ihren Enden heraus und machten sie zu einer ernstzunehmenden Waffe. Wie Blitze löste sich ein Pfeil nach dem anderen von ihrer Sehne und ließ alle drei zu Boden gehen. Der Harfner hatte immer noch nicht sein Schwert in die Hand genommen.
„Kämpfe!“, schrie sie. Doch er blickte nur mit Schrecken in den Augen auf das Gemetzel, welches sie unter der Horde anrichtete. Wie ein Racheengel des Todes wütete sie unter ihnen. So wunderschön und so tödlich. So emotionslos. Als wäre sie die zu einem Wesen gewordene Eiswelt.
Plötzlich vernahm sie, wie etwas von hinten auf sie zuraste. Sie wirbelte herum, doch es war zu spät. Es prallte gegen sie und brachte sie zum Fall. Sie rollte sich ab und noch in der selben Bewegung hatte sie den Bogenstab wieder auf den Rücken geschnallt und ihre beiden Klingen in den Händen.
Sie sah sich um. Aus dem Nichts waren neue Angreifer aufgetaucht. Doch es waren keine Wilden. Gedrungener und kräftiger saßen drei schemenhafte Gestalten auf den Rücken von mächtigen Biestern. Sie waren etwa so groß wie ein Pferd und von der Statur einer Kreuzung aus Wolf und Bluthund. Spielerisch tänzelten die Kreaturen um sie herum und wirbelten den Schnee unter ihren dicken Tatzen auf. Heiß dampften ihre Mäuler. Wild und gefährlich blitze es aus ihren kleinen, roten Äuglein.
„HO!“, schrie plötzlich einer der Wilden und im selben Moment sprangen die drei Ungeheuer auf sie zu. Eines ihrer Schwerter flog durch die Luft und blieb in der Brust eines der Wilden stecken. Mit übermenschlichen Kräften sprang sie hinterher und ihr zweites Schwert grub sich in den Nacken des dazugehörigen Biests, während sie seinem Herren das verlorene Schwert entriss. Während das Biest unter ihr seinen letzten Atemzug aushauchte, sprang sie weiter. Ihre Hände griffen nach einem Ast, an dem sie sich blitzschnell hochzog und sich so der Reichweite der beiden Angreifer entzog.
Mit einem enttäuschten Kreischen rissen die beiden Wilden ihre Biester herum rasten auf den Harfner zu. Der starrte immer noch wie angewurzelt auf die Szenerie und war fern jeder Anstalt, die Flucht zu ergreifen. Blitzschnell wechselte sie wieder zum Bogen und schickte Biest und Reiter in einen eisigen Tod.
Sofort sprang sie wie eine Katze von dem Baum herunter. Im selben Moment sprang ein übriggebliebener Angreifer aus dem Schatten einer kleinen Tanne auf sie zu. Wie ein tollwütiger Hund, der nicht verstand, dass er sein Heil nur noch in der Flucht hätte finden können. Ein weiterer Pfeil löste sich, durchbohrte die Schulter des Wilden und nagelte ihn an eine Tanne. Er hatte Glück gehabt. Die Pfeilspitze hatte ihn durchschlagen, ohne ihn erstarren zu lassen. Sie zückte ihr Schwert und sprang auf ihn zu. Im selben Moment trat ihr der Harfner in den Weg.
„Lasst ihn leben“, flehte er.
„Seid Ihr verrückt?“
Ein merkwürdiges Gefühl, das sich gegen seine Naivität richtete, brodelte in ihr empor.
„Schaut! Es ist doch nur ein Kind! Woher soll es das besser wissen?“, gab er verzweifelt zurück und zeigte auf das Etwas, das wimmernd an dem Pfeil hing.
Sie spannte ihren Schwertarm an und holte tief Luft.
„Kümmern wir uns später um ihn“, zischte sie dann und wirbelte herum.
Keinen Augenblick später durchzuckte sie ein Schmerz, als hätte man ihr ein Gliedmaß abgeschlagen. Ihr Kopf ruckte herum. Das Kind hatte sich des Pfeils entledigt und stach mit einem kleinen Dolch auf den Harfner ein. Der ging wiederum mit dem Gesicht nach vorne zu Boden.
Ihre Klinge flog wie ein Blitz durch die Luft und schlug augenblicklich den Kopf des kleinen Biestes ab. Neben dem Harfner ging sie in die Knie. Vorsichtig drehte sie seinen Körper um. Blut floss aus mehreren Wunden in den Schnee.
„Woher sollte es das besser wissen?“, murmelte sie ganz leise.
Seine Augen waren noch offen. Er lächelte schwach, als er sie erblickte.
„Du kannst jetzt nicht sterben“, flüsterte sie.
„Schicksal“, gab er beinahe unhörbar zurück. „Hatte ich doch die beste Verteidigung an meiner Seite.“
„Nein! Du...“
Ein Zucken durchjagte seinen Körper. Dann lag er still.
Ein Pfeil prallte auf ihren Panzer, aber vermochte ihn nicht zu durchdringen. Mit einem Schrei sprang sie auf. Ein weiterer hatte überlebt. Er hatte seinen Bogen fallen gelassen und raste mit einem Schwert über den Kopf auf sie zu. Grimmig ließ sie ihn herankommen. Nur ein Hieb war nötig. Als wäre es ein Kunstwerk. Die Vollkommenheit des richtigen Momentes zusammen mit einem perfekten Schlag. Sie richtete ihn hin, wie er es verdient hatte und so ging er mit einem dumpfen Schlag neben dem Harfner zu Boden. Ihr beider Blut vermischte sich im Schnee, wurde eins und würde bald durch der Kälte für die Ewigkeit erstarren.
Jäh ging sie neben den beiden in die Knie. Dem Harfner war sein Instrument entglitten und der letzte Wilde hatte es unter sich begraben. Blut haftete an ihm. Vorsichtig versuchte sie es unter ihm herauszuziehen und musste bestürzt feststellen, dass es gesplittert und in zwei Teile zerbrochen war. Das Schwert des Wilden hatte das filigrane Holz gespalten, als wäre es Stroh. Traurig hob sie die Stücke auf und erinnerte sich dabei an sein Worte.
Liebe. Etwas war in ihr geschmolzen. Für einen Moment hatte sie es gefühlt. Nun brannte es wie Feuer, schuf in ihr den Drang zu schreien. Gleichzeitig fühlte sie das erste Mal etwas anderes – Kälte. Und irgendwie, tief in ihr, entstand ein weiterer Zwang. Tief in ihr hörte sie das Spiel des Harfners und ihre Finger schrien danach, dieser Melodie auf der Harfe zu folgen. Wohl konnte es ihr Ende bedeuten. Das wusste sie. Aber schloss es aus, dass es nicht den Anfang von etwas anderem bedeuten konnte?
Die Nacht war längst hereingebrochen, als sie ging. Das Feuer brannte immer noch und warf zitternde Schatten durch den Wald. Wind rauschte in den Tannen und wenn man genau hinhörte, glaubte man, den melancholischen Gesang eines Harfners zu hören.