Sonnige Töne im schmelzenden Eis
Winterlich war ihm zumute. Die kalte Jahreszeit kam diesmal unverhofft schnell über den Ort, in dem die Basis stand, die er täglich aufsuchen musste, weil er neuerdings dorthin versetzt worden war. Sein Magen gluckerte, aufgrund seiner Essgewohnheiten; er war ein Nachmittagsesser. Immerzu aß er seine warme Tageshauptmahlzeit um 1715, denn er traf sich mit anderen „Kameraden“, wie er sie distanziert freundlich nannte; eigentlich wäre er lieber noch später zur Kantine gegangen, aber er wollte nicht alleine essen, denn dieses Verhalten hätte seinen Ruf in einem nicht akzeptablen Maße gesenkt. Zwar waren alle dort, so erschien es ihm, Einzelgänger, aber gerade wegen seinen Essgewohnheiten musste er besonders darauf achten nicht schon in den ersten Wochen unangenehm aufzufallen. Er hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt sich diesmal nicht wieder zu isolieren wie in der letzten Kaserne.
Auch sein hoher Rang war für zwischenmenschliche Beziehungen nicht sehr förderlich, weil alle Menschen mit niedrigerem Rang einem Höherrangigen demütig distanziert gegenüberstehen und nicht freundschaftlich wohlwollend. Die Einzigen, die einen unbefangenen Umgang mit ihm pflegen konnten waren gleichgestellte Offiziere.
Er merkte wie seine Gedanken beim Anblick der Schneehaufen an den Straßenrändern ihn wieder über seine Situation nachdenken ließen. Deshalb stand er auf; mit dem Ziel ein wenig Zerstreuung zu finden, ging er zum Fenster seines kleinen Büros. Er schaute nach draußen und sah wie Geländefahrzeuge den Schnee auf den Straßen plätteten und durch den Druck schmelzen ließen, was zur Folge hatte, dass nur noch grauer Matsch übrig blieb, aufgrund der unsauberen Straßen. Um jedes Gebäude hatte man zwei Meter Wiesengrund gelegt, danach erst begann der Bürgersteig. Dieser Trakt war ein Hochsicherheitstrakt, der für alle Unbefugten eine Tabuzone war, deshalb war dieser Bereich auch relativ ruhig und leer.
Wieder schweiften seine Gedanken ab, dabei wollte er doch eigentlich nur mal herausschauen und den winterlichen Anblick genießen. Die Wiesengründe waren schneebedeckt und gefielen ihm. Die Gebäude waren effektiv gebaut worden und grau gestrichen; jedes hatte mehrere Markierungen und ein Gebäudekennzeichen, das weiß auf Schwarz gedruckt worden war. Jede Basis sieht gleich aus, dachte er sich im Stillen und ganz ohne abwertenden Beiklang, denn er hatte sich daran gewöhnt.
Überhaupt sah er in allen Dingen nur noch die Kopie. Das Schwarz-weiß-Foto auf seinem Schreibtisch zeigte seine Frau in einem Sommerkleid mit Blumenmotiv. Sich vom Fenster abwendend und die Jalousien um dreiviertel herunterziehend fiel sein Blick auf das Bild; es war sein Lieblingsbild. Gleich daneben stand das nächste, welches seine zwei Kinder abbildete. Sein Erstgeborener Thomas und seine liebe Kleine waren ständige Begleiter für ihn; ihre Fotos nahm er bei jedem Umzug mit in seine Büros.
Er setzte sich. Und betrachtete die Wand vor ihm, die seine eingerahmten Beförderungsurkunden trugen. Neben dem Foto seiner alten Kameraden war die Tür aus dunklem Holz, aus welchem auch der Tisch und das Mobiliar waren, denn es musste alles zusammenpassen, um zu gefallen. Die Ecken waren sauber und die Regale schon ausgefüllt mit seinen Büchern. Jedes einzelne dieser bedeutenden Werke hatte er gelesen und er erinnerte sich mit Freuden daran. Da stand neben C.G. Jungs gesammelten Bänden, James Joyce und das Hagakure, der Samuraikodex, gefolgt von Max Frischs Stiller und einer Vielzahl von Büchern über den Krieg und das Kriegführen. Ein Regal darunter befanden sich Ordner, jeweils wohlsortiert und gewissenhaft archiviert, sie waren säuberlich mit Etiketten versehen; 1982 Dokumente und Bescheinigungen, 1983 usw. – im untersten Regal befanden sich kleine Kisten, die bündig mit dem Regalrand liegend kaum auffielen.
Weiterhin waren da zwei Schränke im Zimmer, die er eigentlich gar nicht brauchte, denn den Feiertagswhiskey lagerte er zusammen mit den Gläsern in dem Schränkchen neben dem Schreibtisch, der beinahe unsichtbar war, denn durch die spärliche Beleuchtung im Zimmer, die meist ausschließlich durch die Nutzung der Tischlampe entstand, fiel kaum Licht drauf. Nur selten machte er die Deckenlampe an, meistens saß er bei dem Licht am Tisch und arbeitete.
Genauso auch heute. Nun war es nicht mehr lange bis Feierabend und der Gedanke noch anderthalb Stunden Fahrt durchmachen zu müssen, bis er nach Hause komme, gefiel ihm verständlicherweise nicht.
Plötzlich klopfte jemand an die Tür.
„Treten sie ein!“, sagte er in seinem üblichen Tonfall, der auf Menschen mit wenig Selbstachtung schnell einschüchternd wirken konnte.
Ein junger Gefreiter trat ein, vermutlich 21.
„Gefreiter Schmitz, Herr Major. Melde mich in dienstlicher Angelegenheit.“
„Rühren!“
„General Danhauer lässt ihnen diese Unterlagen zukommen.“, der junge Soldat schaute sich den neuen Major an, um nicht unhöflich zu wirken, tat er dies nur kurz und ließ seinen Blick schnell zur Wand hinter dem Major schweifen. Seine Augen fixierten ein Bild des Verteidigungsministers, dass neben zwei anderen Bildern hing. Die Wand war dekorativ schlicht gehalten. Drei Bilder und dezente Dekorationen im Halbschatten.
„Danke. Sie dürfen wegtreten!“
Der Soldat begab sich leise nach draußen. Als der Major aufschaute war er schon wieder alleine. Er saß da, einfach so. Die neuen Unterlagen auf den kleinen Zu-Erledigen-Stapel werfend drehte er sich zu dem kleinen unauffälligen Schränkchen neben seinem Schreibtisch. Ohne jede Mimik öffnete er die Türchen und eine kleine stilvolle Stereoanlage kam zum Vorschein. Er bückte sich gemächlich hin zu seiner privaten CD-Sammlung. Neben den Klassikern von Bach, Grieg und Chopin fanden sich neuzeitige Musiker wie The Doors, Stevie Ray Vaughn und Jack Johnson. Eine märchenhafte CD des Letzteren fischte er aus der Sammlung und legte in stiller Erwartung die Musik auf. Stille fing sie auch an und meldete gleich nach mehreren Sekunden ihre Wichtigkeit an durch Lauterwerden.
In den Stuhl hineinlehnend wippte der Schuh des Majors zum ruhigen Takt. Immer weiter lehnte er sein Gewicht gegen die Rückenlehne und entspannte sich. Seine Augen blieben mit jedem Blinzeln ein wenig länger geschlossen. Das Licht der Lampe blendete ihn, deshalb schaltete er es ab und legte seine Füße auf den Tisch. Die Leichtigkeit zog ein.
Er schaute sich die Wände wieder an. Im Dunkel seines Zimmers ließen optische Täuschungen seine Fantasie kreiseln. Von draußen drang die Helle des Schnees ein und ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht.
Da klopfte es neuerdings wieder. „Treten sie ein!“
Der Gefreite trat ins Dunkel und war gleich zweifach erstaunt – nicht nur die Dunkelheit sondern vor allem die Musik verwirrte ihn. Er sagte nichts. Sprach immer noch nicht.
„Sie dürfen ruhig das Licht anmachen!“
„Jawohl, Herr Major.“, sagte der Soldat nun entschlossen und suchte den Lichtschalter, den er aber schnell fand. Mit einem Klick wurde der Raum mit Licht durchflutet. Alle Ecken wurden erhellt.
„Gefreiter Müller, Herr Major. Melde mich in dienstlicher Angelegenheit.“
„Rühren!“
„General Fleischer lässt ihnen diese Unterlagen zukommen.“, mit einer harten Handbewegung hielt der junge Gefreite dem Major die Unterlagen hin – wie unter die Nase reibend.
„Danke.“, sprach der Major, nahm die Akten entgegen und deponierte sie auf dem Stapel, „Sie dürfen wegtreten!“
Hastig verließ der junge Mann das Büro ohne das Licht ausgeschaltet zu haben. Alles blieb beleuchtet. Gelblich war das Licht und machte die Möbel antik. Das Papier auf dem Schreibtisch schien wie Papyrus und die Wörter ergaben plötzlich keinen Sinn – nur noch Hieroglyphen für ein fremdes Auge. Sein Büro war eine Zeitmaschine, das Licht brachte ihn in die Vergangenheit. Alles alt, alles vorbei, oder doch nicht? Sein Blick rollte zu den Familienfotos. Das Glas reflektierte das Licht und blendete. Das erinnerte ihn an den Maltaurlaub vor vielen Jahren. Seine Hochzeitsreise, deren direkte Folge die Geburt seines ersten Sohnes Thomas war.
Plötzlich hielt er inne seine Gedanken stoppten und er schwang seine Beine wieder auf den Schreibtisch, ohne darauf zu achten, dass man ihn hätte von draußen so sehen können. Die Musik fesselte seine Aufmerksamkeit. Eine Textstelle legte sich in das Bett seines Gehirnkastens; … down …you´re … too … frames … catch … when … moving … like…. Er summte mit und erneut kam ein dezentes ehrliches Lächeln zu Besuch auf seinen Lippen. Die Entspannung machte sich breit, trotz des vielen ungemütlichen Lichtes, und es ärgerte ihn immer weniger, dass der junge Gefreite es nicht wieder ausgemacht hatte.
Er betrachtete nun die Decke, die mit Raufaser Tapeten bedeckt war und gelblich schimmerte. Ein wenig fühlte er sich erinnert an den Strand von Malta, den sie nur zufällig zwischen den felsigen Brandungen entdeckt hatten. Der Sand war traumhaft schön gewesen, ganz weich und fein, fast seidig. Seine Frau hatte damals einen dieser neumodischen Bikinis, die besonders sexy die Beine und die Brüste betonten. Zwei Wochen waren sie da gewesen und ihre Liebe war von Tag zu Tag gewachsen. Unaufhaltsam hatten sie einander erkannt.
„Liebst du mich?“, hatte seine Frau ihn manchmal gefragt mit ihren exotisch blau grünen Augen forschend.
„Fühlst du dich denn von mir geliebt?“, hatte er mit spielerischer Leichtigkeit immer zurückgefragt.
„Ja das tu ich!“
„Dann sei gewiss, dass es stimmt!“
„Ach Johannes,“, hatte sie immer wieder lachend kapituliert, „du bist so hoffnungslos – romantisch.“
Plötzlich - den Major aus seinen Träumen herausreißend - klopfte es erneut.
„Herein!“
Mal wieder trat ein junger Soldat ein und wollte irgendetwas unwichtiges sagen.
„Gefreiter Mann, Herr Major melde mich in dienstlicher An…“, der Major winkte ab und sagte einfach: „Ohne Meldung! Ist schon in Ordnung.“
„Ich hab hier ein par Akten von General Klein.“, leicht verwirrt aber entspannt sagte er dies und taxierte den Major und die Wand hinter ihm. Er erkannte ein Bild des Bundespräsidenten Johannes Rau.
„Legen sie die bitte gleich auf den Stapel hier links. Danke. Ach und bevor sie gehen, würden sie bitte das Licht ausschalten!“
„Sehr gerne, Herr Major.“, mit diesem Spruch verschwand der junge Soldat und hinterließ ein dunkles Zimmer mit einem entspannten Herr Major. Dieser lag immer noch in gleicher Pose da auf dem Stuhl, die Füße auf den Tisch abgestellt und lauschte nun wieder der Musik;
Slow … everybody … moving … fast … can´t … you … you´re … on …that.
Der Sommer von Malta träumte weiter in seinem Herzen.
Das Musikalbum neigte sich dem Ende, ebenso seine Dienstzeit. Er schaltete wieder seine Tischlampe an und legte lächelnd das Papyrus zurecht. Wieder sitzend schaute er aus dem Fenster hinaus in die weite Welt. Die Wolken türmten sich sanft im Himmel auf und bedeckten die Welt , sodass keine Sonnenstrahlen sie hätten erleuchten können. Draußen fuhren wieder einige Jeeps vorbei. Und ein Hund bellte. Dann hörte er Schritte auf dem Flur, die ihm gewidmet waren. Es klopfte. Ein junger Mann trat ein und sagte: „Gefreiter Gerhard, Herr Major. Melde mich in dienstlicher Angelegenheit.“
„Rühren!“, sagte der Major lässig.
„Ich möchte gerne einen Urlaubsantrag von ihnen genehmigen lassen.“, berichtete er leicht schwitzend.
„Gut ich schaue mir die Sache an.“
„Darf ich offen zu ihnen sprechen?“, fragte der junge Gerhard etwas unterwürfig.
„Sicher!“, erwiderte der Major.
„Es geht um eine – meine Hochzeit. Ich werde heiraten. Mir liegt sehr viel daran, dass ich diesen Urlaub bekomme.“, mit treuen Hundeaugen schaute er den Major an.
„Ich denke das wird sich regeln lassen.“, lächelte der Major ihm zu und verabschiedete ihn: „Machen sie sich keine Sorgen und buchen sie schon mal eine Reise!“
Erleichtert ging der Soldat heraus.
Der Major schaute noch mal das Schwarz-Weiss-Bild seiner Frau an und lächelte kurz. Dann stand er auf, zog seinen Mantel an und fuhr nach Hause. Im Auto summte er noch.
It's as common as something that nobody knows it
Her beauty will follow wherever she goes
Up the hill in the back of her house in the wood
She'll love me forever, I know she …
La da da da da da
La da da da da da da da
La da da da da da
La da da da da da da da