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Sonntag morgen
Ein Sonntag Morgen in Somerville
Klopf, klopf, klopf.
„Louisa? Bist du schon wach?“ Lenas Stimme klang aufgeregt und weinerlich.
„Louisa ... ?“
„... Ja ...“ grummelte es leise aus dem Schlafzimmer.
„Darf ich reinkommen? Bitte, ich muss mit dir sprechen.“
Lena schluchze lautlos auf der Stelle tretend vor sich hin.
„Die Tür ist offen. Komm rein“ sagte sie unter einen langgezogenen Gähnen.
Lena betätigte den Türknauf und trat ein. Die Vorhänge in Louisas Zimmer waren noch zugezogen und sei selbst lag zusammengerollt in ihrem großen Himmelbett. Das Kopfkissen, welches sie sich eben noch über den Kopf gezogen hatte, kullerte nun von ihr herunter und landete auf den alten Dielenboden. Es war ein schönes großes helles Zimmer mit zwei riesigen Fenstern zum Osten hin. Durch die antiken Möbel und das opulente Bett strahlte der Raum Wärme und Geborgenheit aus, was ganz dem Wesen von Louisa entsprach. Nur leider war sie morgens oft übel gelaunt; sie hasste es an den Wochenenden vor elf Uhr ihr Bett verlassen zu müssen.
„Bist du wach?“ Tränen rollten Lena über ihre rosigen Wangen und tropften auf die Rüschenbettwäsche, die Louisa von ihrer Mutter letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hatte.
„Wie du siehst versuche ich gerade zu schlafen“ murmelte sie in ihr Kissen.
Louisa hatte noch nicht mitbekommen, wie aufgelöst Lena war. Langsam drehte sie sich auf den Rücken, versuchte sich mit den Händen den Schlaf aus den Augen zu wischen und öffnete ihren Mund dabei soweit, das Lena einen recht tiefen Einblick in Louisas Innenleben bekommen hatte. Allmählich schaffte sie es ihre Augen ein Stück weit zu öffnen und sah ein jämmerliches Bild einer erwachsenen Frau vor sich. In ihren Trainingsanzug sah Lena wie ein Landei aus, aber sie es liebte früh am Morgen den Charles River entlang zu laufen. Es musste wohl geregnet haben, dachte sich Louisa, denn Lenas Haare klebten so fest an ihrem Schädel, dass man dessen genaue Form sehen konnte.
"... Ich ...“ Lena bekam vor Schluchzen kein Wort heraus. Irgendetwas schien sie heute morgen so sehr aufgewühlt zu haben, dass Lena die dritte Hausregel gebrochen hatte: Wecke niemals Louisa am Wochenende, außer das Haus steht in Flammen, ihre Eltern stehen vor der Tür oder Brad Pitt würde ihr gerade das Frühstück ans Bett bringen wollen.
Louisa richtete sich auf und schob sich eines der unzähligen weißen mit Rüschen und Stickereien versehenen Kissen in den Rücken. Sie streckte die Arme nach vorne und oben aus, warf ihr goldenes Haar nach hinten und zog die Knie an ihre Brust.
„Was ist los Schätzchen? Erzähl mir nicht, du hast Brad Pitt beim Joggen getroffen, ihn hergelockt und er steckt gerade in der Küche und brät mir Speck mit Rührei.“
Lena schüttelte den Kopf und musste dabei unwillkürlich lachen. Louisa war einfach fabelhaft. Sie wusste immer eine Situation zu entschärfen.
„Nein ..., Paul hat angerufen“ gab sie unter einen kräftigen Schluchzer preis.
„Ah, der Idiot,“ sagte Louisa trocken.
„Red nicht so über ihn, du kennst ihn doch gar nicht“ gab Lena verteidigend zurück.
„Wie denn auch, bisher hat er doch immer wieder ...“ Louisa hielt inne. Oh, da lag das Problem also wieder. „Hat er wieder abgesagt?“
„Ja, er hat irgend eine wichtige Konferenz und kann deshalb kommende Woche nicht kommen.“ Wieder rollten dicke Tränen über Lenas Wangen, ihre Nase lief und sie sah aus wie eine Wasserleiche, vollkommen blass und verheult.
„Schätzchen, du weißt ja, dass ich immer auf deiner Seite bin, aber ich kann einfach nicht verstehen, wieso du diesen Typ nicht in die Wüste schickst. Er hat dich noch kein einziges Mal in den letzten sechs Monaten besucht seitdem du in Boston bist und schafft es jetzt noch nicht einmal zu deinem Geburtstag. Ich verstehe dich einfach nicht.“
„Ich weiß,“ sagt sie leise und unterdrückte ein paar weitere Tränenbäche. „Kannst du mir bitte mal ein Taschentuch geben?“
Louisa drehte sich etwas nach rechts, griff in ihre Nachttischschublade, zog eine Schachtel mit Kleenex heraus und reichte sie ihr.
„Komm in meine Arme Schätzchen und heul dich erst einmal aus. Danach werde ich uns ein herrliches Frühstück zubereiten und du kannst mir alles erzählen.“ Lena grabbelte zu Louisa hoch, legte ihren Kopf auf deren Bauch und ließ ihren ganzen Schmerz heraus. Louisa streichelte ihr sanft die Haare aus dem Gesicht und reichte ihr ein neues Kleenex. Es dauerte ein paar Minuten und Lena beruhigte sich. Das Schluchzen ließ nach und ihr Körper entspannte sich. Irgendwann schlief sie ein und schien sich wieder wie ein kleines Kind zu fühlen, was die Mutter immer gerne tröstend in ihre Arme geschlossen hatte.
Louisa wollte sie nicht wecken und versuchte sich so sanft wie möglich aus den Bett zu stehlen. Fast wäre sie der Versuchung erlegen, selbst noch ein wenig den Kopf in die weichen Kissen zu stecken. Doch ihr Magen knurrte bereits so laut, dass sie seinem Ruf erst einmal folgen musste.
Sie hob Lenas Kopf ein wenig an und schob eines der Kissen darunter. Dann schlüpfte sie lautlos in ihre Plüschhausschuhe, die sehr viel Ähnlichkeit mit einen rosa Hasen haben und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer in Richtung Bad. Dort angekommen schaut sie auf die Uhr und stieß ein knurrendes Grunzen hervor. Neu Uhr morgens.
Es ist wirklich neun Uhr und das Haus steht noch, Brad Pitt ist steht bestimmt auch nicht in der Küche und meine Eltern würde es nie wagen unangemeldet hier auf zu tauchen. Oh man, was für ein Morgen!
Vor allem als Single, dachte sie sich, ist der Sonntag Morgen ein Heiligtum. Louisa schüttelte den Kopf und betrachtete ihre zersausten Haaren, die Augenringe und die ersten Fältchen im Spiegel. Mist, warum halten diese Anti-Aging Produkte nie was sie versprechen. Sie zog sich ihr blaues Leinennachthemd über den Kopf, warf es in die Ecke zu der anderen Wäsche und drehte den Duschhahn auf. Die Augen geschlossen, genoss sie das kühle Nass, dass ihr wieder Leben einhauchte. Ihre Hände glitten über ihren Körper und ein Lächeln umspielte sanft ihre Lippen.
Für eine dreißigjährige Frau, habe ich immer noch eine verdammt gute Figur. Aber in Zukunft sollte ich doch die Finger vom Alkohol lassen, er hat einfach zu viele Kalorien.
Sie stellte das Wasser ab, nahm sich ein XL – Bademantel und hüllte sich in den weichen Stoff ein. Mit einen kleinen Handtuch rubbelte sie sich das Haar trocken, nahm eine Bürste und verlieh ihm wieder eine glatte, ansehnliche Struktur. Jetzt fühlte sie sich fast wie frisch geboren und ging in die Küche um Frühstück zu machen. Am Morgen brauchte sie gewissen Rituale. Dazu gehörte nicht nur eine ausgiebige Duschen, nein auch ein ordentliches Frühstück und schwarzer Kaffee.
Die Küche selbst lag im Erdgeschoss und hatte einen wunderschönen Blick auf den Charles River. Sie setzte Wasser für einen kräftigen Kaffee auf und nahm sich dann eine Pfanne und jegliche Utensilien aus den Kühlschrank, die ein ordentliches Frühstück ausmachten, deckte nebenher den Tresen für sich und Lena und ließ die Eier und den Speck leicht vor sich hin brutzeln. Um den Kaffee auch wirklich genießen zu können, braucht sie noch die Sonntagszeitung. Sie lief Barfuss auf die Veranda und musste feststellen, das es wirklich ein verregneter Augustmorgen war. Aber sie hatte eh nicht vor, das Haus heute zu verlassen. Sie musste noch einige Arbeiten für die Schule durchsehen und eine ausgiebige Schönheitspflege war auch mal wieder fällig. Zurück in der Küche ließ sie sich auf einen der Barhocker nieder und lass als erstes den Politikteil, um sich dann den Comics auf der letzten Seite zu widmen.
Sie nippte genüsslich an ihrem Kaffee und dachte an den vierten Februarmorgen zurück, an dem jenes wundervolle Geschöpf halb erfroren vor ihrer Tür stand. Wie immer vermietete sie das freie Zimmer in ihrem Haus an Gastprofessoren oder andere Gelehrten, die für eine begrenzte Zeit an einer der Bostoner Universitäten tätig waren. Lena sah völlig unscheinbar aus, trug Bluejeans, eine dicke Daunenjacke, eine grässliche Wollmütze und dazu Moonboots. Aber ihre Augen strömten etwas so liebevolles und vertrautes aus, dass Louisa sie sofort in ihr Herz geschlossen hatte. Sonst beherbergte sie stets ältere Herren, die zwar alle umgänglich und zuvorkommend waren, aber deren Leben nur aus ihrer Arbeit bestand. Bei Lena war dies anders. Sie redete kaum über ihre Forschungen, sie war vielmehr am Leben interessiert.
Lena hatte in Deutschland Medizin studiert und sich auf die Erforschung seltener Krebskrankheiten spezialisiert. Im letzten Jahr bekam sie ein Angebot von der Medical School of Boston für ein spezielles Projekt, welches sich mit der Stammzellenforschung befasst. Sie wollte die genetischen Erbinformationen von Krebszellen erforschen, die verantwortlich dafür sind, dass die Zellen ausarten und das eigene Immunsystem angreifen. Die Gründe ihres Engagements lagen in ihrer Vergangenheit verborgen, über die sie nur selten redete. Louisa wusste nur, das ihr Vater vor zehn Jahren an solch einer seltenen Auto-Immun-Erkrankung verstorben war. Aber solchen persönlichen Themen weichte Lena gerne aus. Viel lieber ging sie auf die Kinderkrebsstation hier im örtlichen Krankenhaus und lass den kleinen Würmchen stundenlang Märchen vor.
Beide Frauen liebten romatische Plätze. Sie fuhren gerne an die Küste, um sich den stürmischen Gezeiten hinzugeben. Sie liebte die kleine Stadt Salem im Norden von Massechusetts, die schon wegen der Geschichte etwas magisches hatte. Oder Cape Cop, von wo aus man einen traumhaften Blick auf die Weiten des Atlantiks erhaschen konnte und träumerisch die Tage verschließ. Wenn Lena in einem halben Jahr wieder nach Europa zurückkehren wird, dann wollte Louisa den Sommer darauf zu ihr kommen und mit ihr von Hauptstadt zu Hauptstadt reisen. Auf den alten Spuren von Goethe verweilen und in Venedig den Mann ihres Herzens finden, davon träumte sie.
Louisa liebte das Leben am Rande von Boston in einen kleinen Ort namens Somerville. Sie hatte hier das örtliche College besucht und arbeitete seit sechs Jahren an der >Haste< Grundschule. Sie liebte die Arbeit mit Kindern und wünschte sich so sehr ein eigenes. Leider würde dieser Wunsch wohl niemals in Erfüllung gehen. Es lag nicht an den Männern, denn davon hatte sie mehr als sie brauchen konnte, sondern an ihr selbst. Aus medizinischen Gründen war eine Schwangerschaft bei ihr zu achzig % ausgeschlossen. Manchmal glaubte sie, dass sie damit ihren Frieden geschlossen hatte, doch jeden Morgen, wenn sie das Klassenzimmer ihrer achtjährigen Schüler betrat, schmerzte es sie in die süßen kleinen Gesichter zu schauen mit der Gewissheit, dass keines davon jemals ihres sein würde. Sie atmete tief durch, nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Kaffe und ging zurück an den Herd um sich etwas von dem köstlichen Rührei zu gönnen.
Wie sie sich wieder umdrehte, um sich weiterhin ihrer Zeitung zu widmen, stand da plötzlich Lena in der Tür. Ihre Augen waren immer noch gerötet, aber sie weinte nicht mehr.
„Guten Morgen! Komm, setz dich mein Schatz. Trink erst einmal einen Schluck Kaffee und füll deinen Magen mit einen richtig guten amerikanischen Frühstück. Wenn du willst, dann mache ich dir auch noch Pfannkuchen mit Sirup.“ Lena lehnte dankend ab. Sie brauchte jetzt einfach nur einen Kaffee, um wieder klar denken zu können. Louisa war eine exzellente Köchin auch wenn man das ihrer makellosen Figur überhaupt nicht ansah. Sie war genau an den richtigen Stellen wohlproportioniert und an jeder anderen flach und schlank. Leider hatte Lena in den letzten sechs Monaten ein paar Pfunde zugelegt, was ihr langsam Probleme bereitete. Ihre Hose kniffen und die ein oder andere bekam sie erst gar nicht mehr zu. Louisa meinte, dass ihr die paar Kilos bestens stehen würden. Endlich sah sie nicht mehr wie ein Hungerhaken und die Rundungen ließen sie auch wesentlich weiblicher wirken. Egal was dieser Paul auch immer dazu sagen würde, Frauen brauchten einfach ein paar Pölsterchen, damit die riesigen Pranken der Männer etwas zu erkunden hatten. Davon war Louisa schon immer überzeugt gewesen. Nur an ihren Haaren müsste man noch etwas arbeiten, die wirkten immer noch bieder und langweilig.
Lena atmete tief durch, als das heiße schwarze Getränk ihre Lippen berührte und sie endlich wieder Wärme in sich spürte.
„Nun schieß mal los. Was hat dieser Mistkerl denn dieses mal wieder für eine Ausrede erfunden?“ Louisa nahm sich während sie die oder andere Frage stellte eine große Portion des köstlich duftenden Frühstücks und richtet auch eine für Lena an. Sie wusste, dass sie wieder die Augen verdrehen würde, um zu sagen, dass sie unbedingt abnehmen müsse. Aber am Ende schmeckte es ihr immer so gut, dass sie sich am liebsten einen Nachschlag gönnen möchte.
„Nenn ihn bitte nicht so. Er hat halt seine Gründe, auch wenn ich es nicht immer verstehen kann“ sagte sie leise und seufzte dabei leicht auf.
„Gründe hin oder her, was gibt es denn wichtigeres als den Geburtstag der eigenen Freundin? Immerhin kommt dieser wohl nur einmal im Jahr vor.“ Louisas Stimme klang fest und anklagend.
„Er muss halt wieder mit seinem Mentor auf einen Ärztekongress und es ließ sich halt nicht verschieben. Er meint, ich komme ja eh in vier Wochen für ein paar Tage nach Heidelberg, dann können wir meinen Geburtstag nachfeiern.“ Ihre Verteidigung, die sie für ihren Paul hier hervorbrachte, klang selbst für sie nicht überzeugend genug. Es hatte sie einfach zu tiefst verletzt, wie wenig Interesse er für sie in der letzten Zeit übrig hatte. So sehr hatte sie sich auf ihn gefreut. Hatte schon Ausflugspläne geschmiedet und wollte ihm unbedingt ihr Labor zeigen, in dem ihr schon einige Fortschritte gelungen waren. Vor zwei Monate hatten sie sich das letzte Mal gesehen und ihre Begegnung war recht unschön auseinander gegangen. Er hatte damals kaum Zeit in den vier Tagen, in denen sie zu ihm nach Deutschland geflogen war. Irgendwie hatte er ständig was zu erledigen und nahm sie nirgends mit. Nur ein einziges Mal waren sie zusammen aus, an ihren letzten Abend. Es kam ihr aber eher wie erzwungen vor. Ein Termin war geplatz und das Tisch im Restaurante war bereits reserviert und bezahlt. Wieder musste sie mit den Tränen kämpfen. Sie verstand einfach nicht, warum er keine Sehnsucht nach ihr hatte. Sie vermisste ihn schmerzlich und wünschte sich manchmal, er wäre ein bisschen mehr wie Jeremias, ein Freund von Louisa.
„Schätzchen, ich will dir mal etwas sagen: Wenn du ihm soviel bedeuten würdest wie seine Arbeit, dann wäre er schon längst hier.“
„Du bist gemein. Du weißt genau, wie weh mir das tut“ sagte sie beleidigend.
„Ja, aber ich sehe dich nicht gerne leiden und immer wenn der Name Paul in irgendeinen Zusammenhang auftaucht, dann wirkst du traurig und niedergeschlagen und das ist genau das, was eine Beziehung nicht sein sollte. Sie sollte einen erfüllen und glücklich machen. Du solltest beim Aussprechen seines Namens leuchtende Augen bekommen, dein Herz sollte vor Freude hüpfen und deine Hände sollten Zittern, vor dem Verlangen nach ihm. Aber was ich sehe, ist ein Häufchen Elend, was etwas besseres verdient hat, wie so einen Halunken. Er scheint dich nur zu benutzen, immer dann, wenn ihm danach ist und wer weiß, was er so macht, wenn du nicht da bist.“
Lena fiel die Gabel aus der Hand. Sie stieg vom Barhocker herunter und stemmte die Hände gegen den Tresen.
„Das musst gerade du sagen. Du, die Männer verschlingt als wären es Verbrauchsgegenstände und Angst vor jeder Art von Bindung hat. Du lebst in diesen wundervollen großen Haus ganz alleine, ab und zu hast du einen Untermieter, aber sonst versteckst du dich hier vor dem Leben. Sag mir bloß nicht, was ich fühlen soll.“ Damit drehte sich Lena um und verschwand mit eiligen Schritten aus der Küche. Louisa stand wie angewurzelt da. Sie konnte gar nicht glauben, was sie eben gehört hatte und ihre Brust fühlte sich schwer und schmerzvoll an. Wie konnte sie so etwas nur sagen. Sie wusste doch ganz genau, warum sie keine Beziehung einging. Wie konnte sie einem Mann erklären, dass sie ihm niemals eine Familie mit Kindern schenken kann. Sie fühlte wie sich ihr Brustkorb zusammen zog, ihr übel wurde und sie hätte sich beinahe übergeben mussen. Das hatte sie nicht verdient. Sie wollte ihr doch nur helfen, sie wollte ihr zeigen, dass das Glück überall zu finden war und vor allem, dass sie sehr viel mehr wie diesen Paul verdient hatte. Sie fühlte sich so elend und leer, dass sie glaubte daran zu ersticken.
Mit Orangensaft und Eiscreme bewaffnet stapfte sie ins Wohnzimmer, ließ sich in die großzügige weiche Couch plumpsen, schaltete den Fernsehen ein und schob sich die Kalorien in rauen Mengen in den Mund bis ihr der Bauch schmerzte. Sie war so wütend über Lenas ungerechtfertigenden Angriff, dass sie sie am liebsten sofort rausgeworfen hätte.
Da klingelte das Telefon.
Louisa überlegte ob sie abnehmen sollte, aber sie hatte keine Lust mit irgend jemanden zu sprechen, also wartete sie darauf, dass endlich der Anrufbeantworter anspringen würde. Hallo meine Lieben, leider ist niemand von uns zu Hause, aber wenn ihr uns eine Million Dollar oder die Welt schenken wollt, hinterlasst uns eure Telefonnummer, wir melden uns dann. Bis dann, Louis und Lena ...
„Louisa, Mum hier. Ich weiß, dass du da bist, bitte geh ans Telefon. Loui-sa“?
Schitt, Schitt, Schitt, fluchte Louisa. Ihre Mutter wollte sie gerade am wenigsten sprechen. Sie würde ihr nur wieder ihr Leben vorhalten, warum sie noch nicht verheiratet wäre und Kinder könne man auch adoptieren.
„Louisa, bitte geh endlich an das Telefon.“
Knurrend stand sie auf und nahm den Hörer ab.
„Hallo Mum! Was gibt es denn wichtiges?“ Sie versuchte gelangweilt und verschlafen zu klingen.
„Warum gehst du nie ans Telefon. Was meinst du, warum man sich so ein Ding anschafft. Bestimmt nicht, um nicht erreichbar zu sein. Von deinem Handy fange ich erst gar nicht an zu reden, dass hast du noch nicht einmal eingeschaltet.“
Blablabla, dachte sich Louisa. Ihre Mutter hatte ein unheimlich geschicktes Gespür dafür, sich genau dann zu melden, wenn sie es am wenigsten haben wollte.
„Du rufst doch sicherlich aus einem bestimmten Grund an und nicht um mir eine Predigt darüber zu halten, was der Sinn und Zweck moderner Kommunikationsmittel ist“ gab sie bissig wieder.
„Jetzt werde ja nicht frech junge Dame, ich bin immer noch deine Mutter und so kannst du mit mir nicht reden.“
„Es tut mir leid Mum, ich habe nur einen verdammt schlechten Morgen bisher gehabt und wollte eigentlich nur meine Ruhe haben. Also was willst du?“
„Du weißt doch, dass Onkel George ein Haus am Michigan Lake besitzt und dein Vater und ich wollten kommenden Woche hochfahren. Doch nun müssen wir das ganze verschieben, da dein Vater doch noch nach Denver muss.“
„Ja und was hat das mit mir zu tun?“ gab sie leicht angenervt zurück.
„Naja, wir hatten George versprochen, dass wir nach dem Haus schauen werden, so lange er mit Tante Claire auf Hawaii ist. Du weißt doch, sie holen nach 35 Jahren endlich ihre Hochzeitsreise nach.“
Louisa wurde langsam ungeduldig und fiel ihrer Mutter ins Wort. „Und da hast du dir gedacht, da die arme Louisa eh nicht viel zu tun hat, kann sie doch nach Michigan fliegen und nachschauen, ob kein Waschbär sich an seiner Cognacsammlung zu schaffen macht.“
„Also, irgendwas schein dir aber kräftig über die Leber gefahren zu sein. Ich hoffe es war keine deiner männlichen Bekanntschaften. Wie hieß der letzte gleich noch einmal? Du weißt doch, der sich mit den Geklimper seinen Lebensunterhalt zu verdienen versucht.“
„Mutter!“ Gab Louisa entsetzt zurück. „Seine Name ist Jeremias und er ist schwul.“
„Auch das noch, seine armen Eltern. Kinder wissen nie, was sie mit ihren Verhalten uns Eltern alles zumuten.“
„Mutter, jetzt reicht es aber wirklich. Urteile nicht über jemanden, den du noch nie in deinen Leben gesehen hast und von den du überhaupt nichts weiß. So was kann ich einfach nicht ausstehen.“
Oh mein Gott, da fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Das gleiche hatte sie eben bei Lena getan. Sie hatte Paul verurteilt, ohne ihn jemals gesehen oder gesprochen zu haben. Sie schüttelte sich. War sie wirklich so intolerant wie ihre Mutter? Dagegen musste sie unbedingt etwas tun. Niemals wollte sie so sein, wie ihre verkorkste Mutter, die von sich immer behauptete, die Weißheit schon mit der Muttermilch bekommen zu haben.
„Okay Mutter, ich werde hochfliegen. Wie lange wird Onkel George weg sein? Du weißt ja, das in ein paar Wochen die Schule wieder beginnt.“
„Er meinte, er wird diesen Sommer nicht mehr hinkommen, aber wenn dein Vater wieder da ist, dann fahren wir hoch. Ich rufe dich am besten dann an, wenn ich den Zeitpunkt weiß.“
„Ja, gut. Der Hausschlüssel liegt immer noch unter den linken hinteren Blumentopf?“
„Soviel ich weiß muss er da noch liegen. Jedenfalls hat George nichts anderweitiges gesagt.“
„Dann lass uns in den nächsten Tagen telefonieren. Ich melde mich dann von dort.“
„Bis dann und Schatz, such dir doch endlich einen lieben Mann. Leider wirst du auch nicht jünger.“
„Ist schon gut Mutter, ich gebe demnächst eine Anzeige aus: Alte Schnepfe sucht jungen Gott. Machs gut und gib Daddy einen lieben Kuss von mir.“
„Dein Zynismus wird dich kommenden Winter auch nicht wärmen. Aber du musst ja wissen was du tust. Bis dann.“
Louisa legte auf und überlegte, wie sie die Sache mit Lena wieder ins Reine bringen könnte. So konnte sie einfach nicht wegfliegen.
Hat sie nicht sowieso gerade Forschungspause? Dann nehme ich sie am besten mit. Dort kommt sie auf andere Gedanken und wir können ihren Geburtstag richtig schön unter Frauen feiern. Außerdem gab es da oben noch richtige Kerle. Vielleicht würden die Lena endlich zur Vernunft bringen.
Louisa ging zur Couch zurück, nahm das bereits leicht angetaute Eis mit in die Küche, um es wieder im Gefrierfach zu verstauen und ging nach oben ins Bad. Sie putze sich die Zähne, legte ein bisschen Makeup und Rouge auf, kämmte ihr goldblonde Mähne zurück und versuchte sie mit einen Haargummi zu bändigen. Sie schlüpfte in frische Kleidung und ging über den Flur auf Lenas Zimmer zu.
Klopf, Klopf, Kopf.
„Was willst du? Ich bin nicht in Stimmung, um mir weitere Gemeinheiten von dir anzuhören.“
„Nein, das will ich auch nicht“ Sagte sie leise, „Ich will mich bei dir entschuldigen und zu einer Reise einladen.“
„Ich will nicht verreisen, ich habe zuviel zu tun. Ich muss bist Januar meinen Forschungsbericht abgeben...Ich komme nicht mit.“
„Darf ich vielleicht erst einmal reinkommen?“
„Die Tür ist offen.“ Gab Lena knapp zurück.
Louisa öffnete die Tür und sah Lena auf dem Bett liegen. Gegenüber ihrem Zimmer, war dieses Zimmer schlichter eingerichtet. Lena wollte sich nichts weiter dazu kaufen, da sie nur auf eine bestimmte Zeit hier sein würde. Sie lag zum Fenster gedreht und hatte die Beine angewinkelt. Louisa ging um das Bett herum und setzte sich vor ihr auf die Kante. Sie konnte sehen, dass ihr ihre Worte vorhin sehr weh getan hatten und es tat ihr unendlich leid. In Lenas rechter Hand befand sich ein Bild von Paul und in ihrer Linken ein Kleenex. Den Rest der Packung schien sie im Bett verstreut zu haben.
„Es tut mir leid meine Süße. Ich hätte so was niemals sagen dürfen, dass war einfach nicht fair von mir.“
Lena nickte ihr zustimmend zu, sagte jedoch kein Wort.
„Schätzchen, ich mag dich nur einfach nicht leiden sehen. Vielleicht überlegst du dir es noch einmal und begleitest mich. Ich muss für eine paar Tag an den Michigan.“ Sie machte eine kurze Pause, da Lena keine Anstalten machte, sich weiter dazu zu äußern. „Warst du schon einmal am Lake Michigan?“
Lena schüttelte den Kopf. „Nein ...ich war noch nie da, habe aber schon gelesen, dass es sehr schön sein soll.“
„Das ist es. Es ist einfach traumhaft. Dort kannst du die schönsten Sonnenuntergänge sehen, die den ganzen See in ein traumhaftes Rot eintauchen. Es würde dir super gut gefallen. Und das Beste ist, dass du jeden Morgen durch das Kratzen eines hungrigen Waschbären geweckt wirst, der dich mit seinen großen Kulleraugen anbettelt.“ Louisa rückte etwas näher auf Lena zu, so dass sie mit einen Kleenex ihr Gesicht von den Tränenschleier befreien konnte.
„Komm mit. Mein Onkel hat dort eine alte Blockhütte, die liegt direkt am See. Als Kinder waren wir jeden Sommer dort und man kann dort wirklich seinen Spaß haben.“
Lena schmunzelte, sie konnte sich schon denken, was Louisa unter Spaß haben verstand. Sie hatte ihr mal erzählt, dass sie alles, was Männer betraf an einem See erlebt hatte. Wie es ihr schien, war es wohl im Blockhaus ihres Onkels.
„Wie lange hast du vor zu bleiben?“ Fragte sie neugierig und doch zögerlich.
“Ich weiß es noch nicht, dass hängt ganz davon ab, wann meine Eltern kommen werden. Aber bis Mitte September müssen wir auf jeden Fall wegen der Schule zurück sein. “
„Aber ich kann doch meine Arbeit ...“
„Doch kannst du.“ Fuhr Louisa ihr ins Wort. „Erstens brauchst du auch einmal ein bisschen Urlaub und zweitens gibt es da oben auch Strom und Internet, so dass du im schlimmsten Fall auch von dort arbeiten kannst.“
„Ich weiß nicht.“ Gab Lena wieder abwehrend zurück.
“Schätzchen, ich sage dir nur eins. Da oben gibt es die besten Bars die du dir vorstellen kannst. Wir werden dann deinen Geburtstag wie richtige Mädels aus dem Wald dort feiern und wenn dir das dann immer noch nicht gefällt, dann werde ich über meinen Schatten springen und dir ein Lied vor all den Gästen trällern. Da wird dir dann Hören und Sehen vergehen.“
Jetzt musste Lena endlich los lachen. Louisa war die schlechteste Sängerin, die sie je gehört hatte und dass überzeugte sie von dem Vorhaben Michigan.
„Also wenn das so ist“ sagte Lena spitz, „dann lass uns mal die Koffer packen und lern schon einmal den Text von >I will always love you<, denn irgend jemand muss mir ja zum einunddreißigsten Geburtstag ein Liebeslied singen.“
Die beiden lachten herzlich und fielen sich in die Arme.