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Sonntagnachmittagskaffee
In ein paar Minuten würden sie hier sein. Marita warf einen letzten kontrollierenden Blick über die Kaffeetafel. Hoffentlich war das jetzt so richtig, dass sie für das Kind mitgedeckt hatte. Normalerweise sollte es ja mit seinen vier Jahren dazu in der Lage sein, mit am Tisch zu essen. Aber bei einem solchen Kind wusste man das ja nicht. Fragen hatte sie ihre Schwester auch nicht wollen. Die kriegte so etwas schnell in den falschen Hals. War ja auch nicht einfach, und die Leute redeten bestimmt viel.
Wenn sie ganz ehrlich war, hatte Marita Sybille auch nicht wirklich verstanden. Es war doch schon während der Schwangerschaft klar gewesen, dass mit dem Kind etwas nicht stimmte. Man musste so ein Kind ja heute nicht mehr austragen. Gesagt hatte Marita natürlich nichts dergleichen. Man wollte sich ja nicht einmischen. Wenn Sybille und Knut bereit waren, sich ihr Leben lang für ein behindertes Kind aufzuopfern… Sie würde das jedenfalls nicht wollen.
Dabei hatte Sybille so große Karrierepläne gehabt, als sie mit Knut nach Sidney gezogen war. Wie man das nur alles aufgeben konnte? Normale Kinder wären sicher auch eine Belastung gewesen, aber mit einer Tagesmutter oder einer Haushaltshilfe wäre das mit dem Beruf vereinbar gewesen. Aber so?
Marita schaute auf die Uhr. Jetzt, wo alles fertig war, blieb ihr nur zu warten. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so nervös sein würde. Fünf Jahre hatte sie Sybille nicht gesehen. Jetzt war Knuts Mutter gestorben und die beiden waren nach Deutschland gereist, für die Beerdigung und um bei der Gelegenheit die Familie zu besuchen. „Die drei“, musste Marita sich erinnern. „Sie kommen zu dritt!“ Sie hatte den kleinen Marko bisher nur auf ein paar Fotos gesehen, und es fiel ihr schwer, ihn gedanklich mit einzubeziehen, wenn sie an ihre Schwester und deren Mann dachte.
Endlich klingelte es. Marita eilte zur Tür und blieb mit dem Absatz ihres Schuhs an der Teppichkante hängen. Sie konnte sich gerade noch abfangen, fühlte sich aber zittrig und etwas außer Atem, als sie die Tür aufmachte.
„Sybille! Wie schön!“, sagte sie und strahlte ihre Schwester nebst Ehemann an, als etwas ihre Beine umklammerte.
„Du Tante Rita“, sagte der kleine Junge, der deutlich mongoloide Züge trug.
„Ja, das ist unser Sohnemann!“, sagte Sybille und strahlte, als sie ihn vorsichtig von Maritas Beinen löste und hochhob. Als sie ihn mit geübtem Griff auf ihrer Hüfte verstaut hatte, umarmte sie Marita mit ihrem freien Arm.
„Schön dich zu sehen.“
Auch Knut begrüßte Marita herzlich.
„Ich habe für Marko mitgedeckt. Ist das in Ordnung? Ich meine, isst er mit vom Tisch?“
Knuts Mundwinkel zuckten. „Nein, zu Hause sperren wir ihn immer in ein Verlies unter der Treppe, wenn wir essen.“
Marita schaute einen Moment fassungslos. Sybille rettete sie.
„Frag Marko doch einfach, ob er mit am Tisch sitzen möchte!“, forderte sie ihre Schwester auf.
„Ja, also, Marko?“ Marita räusperte sich. Dann sagte sie sehr langsam und deutlich: „Möchtest du mit uns am Tisch sitzen?“
Marko nickte heftig. „Marko Tisch! Marko Kuchen!“, sagte er. Seine Stimme klang in Maritas Ohren fast wie ein Bellen.
„Ja, dann setzt euch doch einfach schon einmal. Ich hole den Kaffee. Für Marko eine Limonade?“ Sie schaute zu Sibylle. Die nickte leicht mit dem Kinn in Markos Richtung. Marita verstand.
„Marko? Möchtest du ein Glas Limonade trinken?“
„Limo! Limo! Limo!“, schrie Marko und nickte wieder.
Marita ging in die Küche. Als sie wiederkam, hatten Knut und Sybille schon Platz genommen. Marko stand neben dem Tisch und schien zu warten.
„Ja Marko. Setz dich doch! Das ist dein Platz!“, sagte Marita und deutete auf den Hochstuhl, den sie bei den Nachbarn ausgeliehen hatte.
Aber Marko schüttelte den Kopf.
„Marko Schoß sitzen!“
Sobald Marita sich hingesetzt hatte, begann er, auf ihren Schoß zu klettern. Mit einem mulmigen Gefühl ließ sie ihn gewähren. Er lehnte sich gegen ihre Brust und seine kleine Hand fand den Weg zu ihren Haaren.
„Tante Rita schön!“, sagte er.
Verlegen suchte Marita nach einer Ablenkung.
„Du wolltest doch Kuchen essen, Marko. Magst du Apfelkuchen?“
„Ja! Apfelkuchen! Marko Apfelkuchen!“
Marita legte ihm ein Stück auf seinen Teller. Ihr Blick wanderte zu Sybille.
„Muss ich ihm dabei helfen? Ich meine … kann er schon?“
Marko nahm ihr die Gabel aus der Hand.
„Marko kann schon! Marko groß!“
Seine Bewegungen sahen ein wenig ungelenk aus und jede Menge Kuchenkrümel fielen auf das Tischtuch, aber Marita konnte nicht umhin, darüber zu lächeln, mit welcher Begeisterung der kleine Junge den Kuchen sezierte. Dann griff er nach dem Glas mit Limonade, trank es aus und rülpste.
„Tschuldigung“, sagte er.
Marita strich ihm über die Haare.
„Das macht nichts. Luft im Magen muss raus.“
Erst als Marko fertig war und von ihrem Schoß herunterzappelte, fiel Marita auf, dass Sybille und Knut die ganze Zeit nichts gesagt hatten.
„Oh, Entschuldigung! Ich war ganz in Gedanken! Wollt ihr noch Kaffee? Ihr habt ja noch gar keinen Kuchen. Mein Gott, ihr hättet einfach was sagen sollen, oder euch bedienen.“
„Schon gut! Es ist einfach zu schön unserem Sohn dabei zuzugucken, wie er seinen Charme spielen lässt. Er schafft es immer, dass die Frauen nur noch Augen für ihn haben“, sagte Knut.
„Bei Männern kann er das aber auch!“, grinste Sybille.
Marita nickte lächelnd. „Er ist aber auch ein drolliger kleiner Kerl.“
„Marko drollig!“, brüllte Marko, der auf dem Fußboden saß, und zappelte fröhlich mit den Beinen.