Sonntagsspaziergang
Mit leichten Schritten ging ich über die belebte Straße. Links und rechts von mir drängten sich Leute, ebenso wie ich Bewohner dieser Stadt, an mir vorbei. Von Zeit zu Zeit streifte mich ein Mantel, eine Tasche, eine Hand, wie es so oft vorkommt auf der großen Einkaufsmeile. Eine junge Mutter schob einen Kinderwagen vor sich her, bahnte sich langsam einen Weg zwischen den Menschen, die sich nach dem Wagen umdrehten, einen kurzen Blick hinein warfen und beim Anblick des unschuldigen Kindes lächelten. Alle lächelten sie an diesem wundervoll sonnigen Tag und das Kind strahlte mit der Sonne um die Wette.
An beiden Seiten der großen Straße saßen Menschen in den Cafés, tranken fröhlich einen Cappuccino, hielten ihre Gesichter ins Licht und redeten über die neusten Gerüchte in der Klatschpresse. Von überall her drang Gelächter an mein Ohr, vermischte sich mit dem Geräusch der Absätze auf dem Asphalt und dem Gerede. Aus den Läden, welche mit bunten Schaufenstern warben, schallte Musik. Der Bass pulsierte und mit ihm pulsierte das Blut in den Adern aller Menschen, die genau wie ich heute unterwegs waren.
Ich spürte die Wärme meiner Hände, welche ich in den Jackentaschen verborgen hielt. Um mich herum stolzierten junge Mädchen in knappen Shirts und engen Hosen, die glitzernden Gürtel warfen das Licht der Sonne zurück. Sie plapperten und kicherten, drehten sich nach links und rechts wie Mannequins. Ihre kleinen Handtaschen an den dünnen Handgelenken schwangen dabei zur Seite, doch ich störte mich nicht daran und ging weiter auf der langen geraden Straße, welche mich an vielen weiteren Läden und Cafés vorbeiführte, aber ich betrat kein Geschäft, keine Bar, und mein Blick wanderte seltener zu meinen Mitmenschen und blieb öfter an meinen eigenen Schuhen hängen. Alt und ausgetreten sehen sie aus, dachte ich, vielleicht sollte ich mir neue kaufen. Und obwohl ich mir ernsthaft überlegte, wie meine Füße wohl mit weißen Ballerinas oder roten Stiefeln aussehen würden, blieb ich stur auf meinem Wege, lief an immer mehr Menschen vorbei, die ebenfalls auf dem Gehweg schlenderten, standen oder an den kleinen Tischen saßen.
In meinen alten und völlig aus der Mode gekommenen Schuhen lief ich weiter geradeaus und immer noch schien die lange Straße kein Ende zu nehmen. Soweit ich blicken konnte, waren nur Häuser und Menschen zu sehen. In der Ferne schienen die Häuser immer größer zu werden, immer imposanter und zugleich auch bedrohlicher. Ich tat noch einige Schritte auf die gewaltigen Häuser zu, immer noch inmitten von Menschenmassen, die sich fröhlich drängten, dabei lachten, riefen, telefonierten. Schritt um Schritt lief ich weiter, die Hände immer noch in den Jackentaschen, die Ohren offen für alles, was um mich herum geschah.
Kurz blickte ich mich um, fast suchend, obwohl ich nichts suchte. Immer noch ging ich geradeaus auf der schnurgeraden Straße, die bis zum Horizont zu reichen schien. Die Häuser wurden immer größer um mich herum und als ich mich so umblickte, bemerkte ich die kleinen Straßen, aus denen immer mehr Menschen drängten, Menschen die lachten, in freudiger Erwartung auf das, was es zu sehen gab. Flüchtig sah ich sie an und bemerkte keinen Unterschied zu denen, die mir auf der breiten Straße entgegenkamen oder in die gleiche Richtung wie ich drängten.
Wieder richtete ich meinen Blick geradeaus, versuchte das Ende der endlosen Straße zu erspähen und sah doch nur wieder die Häuser, die mir so unwirklich groß erschienen. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Masse, die mir entgegenkam. Unter den Menschen sah ich einige bekannte Gesichter, aber ich grüßte nicht. Auch von ihnen schien mich niemand zu bemerken. Sie liefen weiter und ich blieb stur auf meinem Weg, ohne mich umzudrehen oder anzuhalten. Es war Sonntag und ich hatte noch zu tun, aber trotzdem hatte ich mir die Zeit genommen für einen kleinen Spaziergang. Ähnlich wie ich schienen die meisten Menschen es heute nicht in ihren engen Wohnungen ausgehalten zu haben, und so hatten auch sie sich auf die Straße geflüchtet. Und obwohl am Himmel erste Wolken aufzogen, hinderte es sie nicht daran, weiterzulaufen zu den großen Geschäften, den gemütlichen Restaurants an der breiten und überfüllten Straße.
Der warme Schal, den ich heute trug, kratzte an meinem Hals und ich lockerte ihn beiläufig, während sich meine Augen wieder ganz auf meinen Weg konzentrierten. Ich lies die Häuser hinter mir, vereinzelte Geschäfte und Kneipen, die vor Gästen beinahe zu platzen schienen. Mein Blick hatte sich wieder an den Boden geheftet. Ich sah die Schuhe der Menschen, die dicht an mir vorbeiliefen, sah braune Mokassins oder blank geputzte Herrenschuh auf den dreckigen Pflastersteinen. Immer schmutziger wurden diese Steine, je mehr Schritte ich getan hatte, immer neue Schuhe und deren Besitzer kamen an mir vorbei. Ich war so fasziniert von den Schuhen, dass ich nicht mehr aufblickte zu den Gesichtern ihrer Besitzer, nicht mehr hinaufsah zu den Häusern um mich herum. Immer noch drangen die gewöhnlichen Stimmen der Großstadt an mein Ohr. Autos hupten, Motoren brummten, Menschen redeten, Absätze klapperten. Das Grau der Steine vermischte sich mit den Farben der Schuhe. Ich war mittendrin.
Ein kalter Windstoß bließ mir meine Haare ins Gesicht. Mit einer Hand schob ich die Sträne zurück hinter das Ohr, wobei mein Blick sich nach langer Zeit einmal wieder vom Boden löste. Die Straße schien voller geworden zu sein, noch mehr Menschen drängten mir entgegen und weniger mit mir mit, und doch streifte mich immer seltener ein Mantel, eine Tasche oder eine Hand. Am Horizont zeigten sich einige graue Wolken und unwillkürlich zog ich den Schal wieder enger, vergrub meine Hände tiefer in den Taschen.
Immer noch drängten Menschen aus allen Gassen auf die große Straße. Alle zusammen schoben sie sich vorwärts, hin zu den Läden, während ich in die andere Richtung lief, weg von all dem. An den Häuserwänden bröckelte der Putz, alte halb abgerissene Plakate flatterten bei jeder Böe. Immer dunkler wurde es, je mehr Wolken aufzogen, doch keine Laterne schickte sich an, den Weg zu erhellen. Auch hinter den Fenstern der Häuser war es dunkel, nirgendwo ein Licht, und so manche Fensterscheibe blitzte mir schwarz entgegen, ganz ohne Vorhänge oder Gardinen. Ich fröstelte, zog die Mütze tiefer ins Gesicht. Auch jetzt, obwohl ich schon so lange gelaufen war, konnte ich das Ende der Straße nicht sehen. Immer noch war sie gleich breit, immer noch fuhren die Autos, immer noch liefen die Menschen mir entgegen, ganz unbehelligt trotz der im Hintergrund nahenden Dunkelheit.
Unwillkürlich hatte ich meinen Schritt beschleunigt. Ich war ausgebrochen aus dem Schlendern, dem Bummeln, lief nun schneller als die Menschen um mich herum, ohne es recht zu bemerken. Immer neue Häuser tauchten am Horizont auf, je mehr Gebäude ich hinter mir lies. Egal wie schnell ich lief, sah sich niemand gezwungen mir auszuweichen und zu meinem eigenen Erstaunen rempelte ich niemanden an. Ohne Mühe lief ich weiter und weiter, weiter auf das unsichtbare Ende der langen Straße zu ohne es zu sehen. Immer mehr Leute umgaben mich, es wurde immer lauter, kälter, enger. Mein Blick hing nicht länger am Boden, ich sah mich um, rastlos, haltlos. Menschenmassen kamen mir entgegen, sie alle sahen mich an und durch mich hindurch, sahen nur die bunten Warenhäuser, die ich schon längst hinter mir gelassen hatte. Vor ihnen lag Vergnügen, Spaß und Freude, vor mir die eisige Dunkelheit. Ich wollte stehen bleiben, mich umdrehen, ihnen folgen, doch meine Füße gehorchten mir nicht. Immer weiter trugen sie mich, die Schuhe klapperten auf den Steinen, und obwohl mich so viele Menschen umgaben hörte ich nur noch dieses Klappern, das von den Wänden der riesigen Häuser widerhallte. Die grauen Wolken hatten sämtliches Blau verschluckt und auch die Sonne war nicht mehr zu erkennen. Ich lief im Schatten der grauen Häuser, die bei dieser Tageszeit zwischen Abend und Nacht alle gleich aussahen. Ich lief immer schneller, meine Brust hob und senkte sich stark. Schweißtropfen perlten von meiner Stirn und verfingen sich in den Augenbrauen. Immer hastiger blickte ich mich um, ohne zu wissen wonach. Schließlich begann ich zu rennen.
Ich rannte und rannte, ohne Rücksicht zu nehmen auf meine Umgebung. Ich rannte, doch immer tauchten nur mehr graue Wände neben mir auf. Vor mir blieb die Dämmerung, unklare Gebilde aus Schatten, und die Menschenmassen. Ich rannte ihnen entgegen, durch sie hindurch. Ich keuchte, rannte, gab nicht auf. Auf einmal jedoch strauchelte ich, versuchte mich zu fangen, ruderte mit den Armen, doch konnte ich mich nicht halten, stürzte zu Boden. Der Aufprall war kurz, hart, schmerzlos. Doch schon bevor ich den Boden berührt hatte, schrie ich, schrie mit ganzer Kraft aus vollem Halse. Auch als ich lag schrie ich weiter, schrie bis zur Bewusstlosigkeit...