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Soziopath II
Soziopath II
Dergleichen hat fast jeder Mensch mittleren Alters schon erlebt: eine nahe stehende Person verstirbt unerwartet, oder eine intensive Liebesbeziehung ist unverhofft und jäh perdu`; man erleidet also einen plötzlichen Verlust dieser oder jener Art. Die Folge ist Eingeweide nach außen stülpender, unerträglicher, hartnäckig anhaltender Schmerz.
Nach einiger Zeit völliger Verzweiflung glaubt man schließlich, ihn innerhalb einer flexiblen Blase tolerierbar im harten Kern des Bewusstseins eingekapselt zu haben, dann sticht der Schmerz aus dem Hinterhalt erneut zu, wenn wir ihm völlig unvorbereitet, ohne Deckung, hilflos und splitternackt ausgesetzt sind. Er tut dies vielfach täglich. Es scheint, als lauere der Schmerz nur auf unsere spärlichen Momente erleichterter Selbstvergessenheit, um mit voller Kraft aufs Neue seine unerbittliche Präsenz zu zeigen. Und wir hören nicht auf, immer wieder in seine Falle zu tappen. Jedes Mal, wenn er sich unerwartet zurück meldet, erwischt er uns voll und tut uns jedes Mal gleich stark weh.
Man verliert schon jede Hoffnung auf Erlösung, aber im Lauf der Zeit härtet man doch gegen den Schmerz ab, bildet eine Hornhaut über der Nacktheit, und beginnt, ihn im Alltag zu integrieren, plant ihn pragmatisch ein, damit die Routine möglichst reibungslos weiter funktionieren kann. Der Schmerz macht schließlich ein paar Zugeständnisse an die Sachzwänge des Lebens.
Dann kommt der Tag, der Moment, an dem sein Stachel sich wieder einmal durch die Hornhaut hindurch ins Fleisch hinein bohrt, und man akzeptiert einfach und augenblicklich, dass dieser Schmerz einen wohl für den Rest des Lebens nie mehr verlassen wird. Gleichsam gekoppelt daran ist die andere Erkenntnis, dass man tatsächlich mit ihm leben kann. Man tut es ja schließlich schon seit geraumer Zeit, und die Welt ist dabei nicht untergegangen. – Man lebt noch. – Na schön, also warum nicht? Soll der Schmerz doch da bleiben, wo er ist! Das ist ein Gefühl der Gleichmut gegenüber dem Schmerz und radikaler Fatalismus gegenüber der Wichtigkeit des eigenen Lebens, oder dem scheinbarem Anrecht auf persönliches Glück. Und erst ab dem Moment dieser Einsicht beginnt der Schmerz tatsächlich langsam nachzulassen – bis er schließlich und unverhofft ganz verpufft. Er löst sich in ein solches Nichts auf, dass wir ihn rückblickend oft nicht mehr nachzuempfinden oder sogar zu verstehen vermögen, da ein Teil von uns gestorben ist: der Teil, für den der Schmerz von Anfang an unerträglich gewesen war; und wir vermissen diesen Teil nicht. Er ist so vollständig ausgelöscht, als hätte es ihn niemals gegeben.
So ist also das ganze Leben ein gemächliches, Schritt weises Sterben auf Raten. Wer oft solchen Schmerz erfahren hat, fügt als Folge anderen Menschen viel Schmerz zu und verursacht dadurch weiteres Sterben, um die völlig Lebendigen auf sein eigenes Level zu bringen. Dies ist eine tiefere Wahrheit hinter all den scheinbar so unrealistischen Zombie-Filmen: Die Toten fressen die Lebenden.
Seit ich solchen Schmerz ein einziges Mal erfahren musste – mit fünf Jahren, als meine Katze auf der Straße überfahren wurde –, ziehe ich es vor, zu denen zu gehören, die Schmerz zufügen. Klingt hart, aber während dieser wenigen Sekunden, als ich mit ansah, wie meine geliebte Katze in den mit Vollgas fahrenden Reisebus hinein rannte und dabei buchstäblich zerfetzt wurde, verlor ich im Mikro-Zeitraffer meinen gesamten Vorrat an Illusionen über das Leben, ein Prozess, den andere während ihrer gesamten Lebenszeit durchlaufen.
Danach war ich lange Zeit ein sehr ernstes, introvertiertes Kind.
Mit sechs Jahren besuchte ich mit meiner Großmutter einen Zoo. Wir wollten bei der Fütterung der Krokodile zuschauen und gingen frühzeitig ans Becken, um Plätze in der ersten Reihe zu bekommen. Die Krokodile sahen hungrig aus. Von anderen Besuchern unbemerkt gab ich meiner lieben Omi einen Schubs auf den dicken Po und sie purzelte über die Reling ins Becken hinein, wo sie von Krokodilen umzingelt war.
Blitzschnell schossen die Panzerechsen mit diesen schlangenartigen Bewegungen von allen Seiten auf sie zu, schnappten nach ihr und verbissen sich in sie. Die Omi machte ein riesiges Gezeter.
Auffällig war dabei, dass die Umstehenden mehr auf mich starrten, mit offenen Mündern, fassungslosem Entsetzen in den Augen, als auf das Geschehen im Becken: Ich hüpfte auf und ab, krähte vor Lachen und klatschte dabei in die Hände. Die Krokodile hatten sich meine Omi inzwischen geteilt. Sie reckten ihre Hälse und langen Schnauzen und spreizten ihre Kiefer fast im rechten Winkel nach oben. Sie verschlangen meine Omi mit Haut und Haar, samt Zobeljacke und Krokodil-Handtasche. Man konnte richtig sehen, wie die dicken Brocken ruckartig die Hälse hinunter rutschten. Schwerkraft und Peristaltik. Welch ein blutiges Spektakel!
Nachdem ich den ganzen Ärzte- und Seelenklempner-Quatsch hinter mich gebracht hatte und abends in meinem Kinderbett lag, wurde mir klar, warum die Zoo-Besucher mehr auf mich als auf die verschnabulierte Omi geachtet hatten. Das Ganze war ein großes Ereignis: Mein tiefer innerer Schmerz hatte sich in etwas Vergnügliches verwandelt, nach über einem Jahr hatte ich mein Lachen wiedergefunden! Ich hatte den Schmerz in mir so ausgelöscht, dass er mir künftig nie wieder etwas anhaben konnte: Mein Lachen würde ihn jeder Zeit übertönen.
Mir fehlte nun nichts mehr, weder meine Katze, noch meine Omi, noch meine früheren Illusionen über das Leben. Sie waren einfach nicht mehr da, in der Erinnerung etwa wie eine überstandene Kinderkrankheit. Ein Teil, den man nicht vermisst.
So wurde ich älter, die Tage und Jahre vergingen – wenn auch nicht immer so spektakulär wie bei Omi, aber doch amüsant –, und ich wurde erwachsen, ein Genießer und Bohemien. Einer, der das Leben im Rausch und Überfluss suchte. Einer, der an nichts mehr glaubte, auch nicht an sich selbst. Einer, der im Unverstand die üppige Erbschaft seiner steinreichen Omi verjuxte. Heute bin ich neununddreißig und kann auf beachtlich viele Jahre des konsequenten Hedonismus zurückblicken. Die Kräfte haben jetzt nachgelassen. Zu viele Ausschweifungen. Zu viel Routine mit ihnen. Die Freuden sind schal geworden und das Geld etwas knapp. Dafür geschehen ganz neue Dinge:
Letztes Jahr Silvester verbrachte ich nicht auf einer rauschenden Party, sondern schlicht in meiner Alltags-Stammkneipe, offen gesagt, um mich dort sinnlos zu betrinken. Tatsächlich ermangelte es auch an besseren Einladungen. Die meisten Leute, die ich kannte, waren inzwischen verheiratet, mit Kindern und sparten auf eine Eigentumswohnung. Für die Generation, die jetzt auf der Szene war, war ich ein Opa, zumal bei meinem verlebten Aussehen. Aber ich hatte (und habe) immer noch einen guten Schlag bei Frauen.
Meine Stammkneipe war eigentlich ein reiner Männertreff, wo gewürfelt und gepokert wurde und die Schnäpse reichlich flossen. Heute war das anders, schließlich war Silvester, und es hüpften ein paar Weibliche rum. Zu vorgerückter Stunde ließen sie sogar ihre Oberteile fallen und schlenkerten ihre Titten vor sich her. Nach kurzer Inventur sah ich, dass nichts Besonderes darunter war. Ich ignorierte das Geschehen an den Tischen und saß mit dem Rücken dazu an der leeren Theke, konzentrierte mich auf den Oldie-Sender im Radio und von einem Bourbon auf den nächsten. Mein einziges Anliegen war es, mir möglichst schnell, aber doch mit spürbarem Übergang das Hirn zu vernebeln.
Eigentlich kann ich mich an später nur fragmentarisch erinnern; ich weiß etwa noch, dass plötzlich eine der barbusigen Bräute neben mir saß. Ihre Möpse waren schön rund, begannen aber schon ein wenig zu baumeln und erinnerten mich irgendwie an Kuhglocken. Die Warzen waren klein, rosa und schrumpelig. Einladend immerhin. Sie trank Wodka pur und war schon ziemlich hinüber. Rothaarig, vielleicht Mitte dreißig. Ihr Gesicht konnte ich nicht richtig sehen, da es durch das herunter hängende Haar verdeckt wurde.
„Nette Nippel“, sprach ich sie an. “So klein, rosa und schrumpelig.“
„Was?“ Sie wandte sich mir so ruckartig zu, dass ihr strähniges Haar durch die Luft flog; sie blitzte mich böse an mit zu Schlitzen verengten Augen, zurück gezogenen Lippen, beide Zahnreihen entblößt.
Ich hatte wirklich keine Lust auf irgendwelchen Stress und wiederholte meine Worte in beiläufigem Tonfall. Dann langte ich nach meinem Drink, führte ihn zum Mund und schaute demonstrativ an ihr vorbei.
Natürlich war die Unterhaltung damit noch nicht beendet.
„Meine Nippel gehen dich einen Scheiß an!“
„Na, wenn du sie so vor dir her schlenkerst“, sagte ich geübt nonchalant, „dann willst du auch, dass sie thematisiert werden. Wenn auch nur in Gedanken. Also was soll’s?“
„Hab ich vielleicht gesagt, dass ich sie mit dir thematisieren will?“ Ihre Stimme war zugleich rau und durchdringend – und vor allem ziemlich nervig.
Halbwegs nüchtern hätte ich in diesem Moment meiner Ruhe zuliebe eingelenkt, aber so konnte ich meine Zunge nicht im Zaum halten: „Du trägst auch kein Verbotsschild um den Hals mit meinem Gesicht drauf unter zwei diagonalen roten Balken.“
„Dann weißt du jetzt trotzdem Bescheid“, sagte sie, „dass ich hier nicht unter allem Niveau angebaggert werden will.“
Ich wandte mich von ihr ab. „Kein großer Verlust“, sagte ich. „He Bedienung! Noch ’n Bourbon, bitte, wie üblich doppelt, ohne Wasser, mit reichlich Eis.“ Ich rutschte auf der Theke ein langes Stück von ihr weg. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie mir mit großen Augen ungläubig nachstarrte.
Dieses Kosten von ihrem Schmerz gab mir ein Quäntchen Befriedigung. Die Frau hatte sowieso schon starke psychische Schlagseite. Entweder erlebte sie gerade Zoff mit oder eine Trennung von ihrem Partner; oder sie litt einfach unter großer Einsamkeit. Ich hatte das sofort erkannt. Trotz meiner Immunität gegen den Schmerz habe ich mir eine sensible Empathie für ihn bis heute bewahrt. Bei anderen spüre, verstehe und liebe ich ihn zutiefst. Ich hatte ihrem Selbstbewusstsein einen weiteren Tiefschlag verpasst und so ihren Schmerz intensiviert.
Ich genoss meinen frischen Drink mit dieser köstlichen Zutat und den Song von Paul Simon im Radio – und dämmerte selig in einen weiteren kurzen Filmriss hinüber.
Meine erste nächste Erinnerung setzt ein, als die Frau erneut eng neben mir saß. Ich hatte einen ihrer Nippel im Mund, lutschte und saugte genussvoll daran, spürte, wie er hart wurde und sich aufrichtete. Ich roch die Nässe der Frau. Das Beben der Thekenbank telegrafierte mir die Zuckungen ihres Unterleibs. Mit meinem Zeigefinger begann ich dann ihren anderen, noch weichen Nippel zu umkreisen. Durch ihre Erregung wuchs mir selbst ein gewaltiger Ständer in der Hose.
„Du sprichst gar nicht mit mir. Woran denkst du nur jetzt?“ seufzte sie.
Ich öffnete meinen Mund möglichst weit, saugte etwa die Hälfte ihrer Brust förmlich auf und ließ sie dann mit dem Nippel zuletzt hinaus flutschen. Das machte einen lauten Schmatz.
Beiläufig registrierte ich dabei die Stille im Lokal, nur untermalt vom Radio-Sound; zwei Dinge wurden mir dadurch gleichzeitig klar: Erstens hatte ich den Jahreswechsel verpasst, zweitens starrten alle noch verbliebenen Gäste fassungslos zu uns her, (einzig die junge Bedienung grinste still vor sich hin). Beides war mir egal. Weder war dies mein erster verpasster Jahreswechsel, noch das erste entsetzte Staunen von umstehenden Statisten in meinem Leben.
„Ich denke nur, dass diese Sache hier wahnsinnig Spaß macht“, sagte ich.
„Ich find ’s auch schön, was du da mit mir tust“, keuchte sie. „Aber wir haben kaum ein paar Worte miteinander gewechselt, seit ich mich vorhin wieder neben dich gesetzt hab.“
Daran erinnerte ich mich sowieso nicht. „Na und?“ lachte ich also. „Wir feiern Silvester!“
„Du hast ein freundliches Lachen“, sagte sie.
„Du hast ein freundliches Paar Nippel“, sagte ich.
„Was arbeitest du denn so?“ lenkte sie ab.
„Bin Kinderarzt, behandle diese an Leukämie erkrankten Kleinen in einer Klinik.“
„Wirklich?“ Sie blickte mich mit diesen großen, glänzenden blassgrünen Augen hoffnungsvoll und bewundernd an. Es war tatsächlich fast rührend. Was für ein verletzliches Kind voller Illusionen! Meine Leibspeise.
„War nur ein Scherz“, sagte ich. „Bin schlicht Lebenskünstler. Hab geerbt.“
Das mit der Erbschaft schien sie kaum zu interessieren, und das gefiel mir noch mehr: Sie war nicht auf Geld sondern auf Liebe aus. Sie sagte: „Aber dann musst du doch irgendwelche Hobbys haben, irgendwas, womit du dich beschäftigst.“
„Hm, ich schubse gern Blinde und Taubstumme vor die U-Bahn, wenn der Bahnsteig total überfüllt ist und man schnell in der Menge untertauchen kann. Überhaupt hat’s mir das Schubsen angetan.“
Ich schubste gegen einen ihrer Möpse.
„Du Spinner“, sagte sie. „Komm, lass uns noch einen trinken.“
Wir tranken noch einen, und ich glitt in den nächsten Filmriss hinüber.
Ich erwachte im Dunkeln, suchte instinktiv nach dem Lichtschalter und fand ihn an meiner Nachttischlampe, denn ich war zu Hause, lag in meinem Bett. Ich spürte die Wärme der Frau dicht neben mir, sah den hellroten, strähnigen Haarschopf, der sich mit mir das Kopfkissen teilte. Als ich mich aufsetzte, räkelte sie sich, streckte sich dann, die Arme weit ausgebreitet mit einem genussvollen „hmmm“. Dann schlug sie die Augen auf.
„Guten Morgen, mein Süßer“, seufzte sie. „Je, war das schön. So wie du hat’s mir noch keiner gemacht.“
Ich erinnerte mich an nichts, mein Schädel brummte, ich sagte: „Ich fand ’s auch gigantisch. Übrigens ist es nicht morgens. Die Sonne ist schon wieder untergegangen.“
Mit einem weiteren „hmmm“ vergrub sie noch einmal ihr Gesicht im Kissen, dann drehte sie sich ganz auf den Rücken und lächelte mich selig an. Dieses zerknautschte Lächeln in ihrem Gesicht mit den weichen, aparten Zügen, die vielleicht in fünf bis sieben Jahren durch härtere oder aber schlaffere Züge ersetzt werden würden – aber noch war es nicht so weit, noch befand sie sich in diesem magischen Niemandsland zwischen junger und reifer Frau! – versetzte mir einen unerwarteten Stich: Ich erkannte erst jetzt, dass sie wirklich sehr schön war.
„Möchtest du vielleicht ’n Kaffee oder ’n Glas Schampus?“ fragte ich.
Sie setzte sich auf, blickte sich in meinem Schlafzimmer um. „Hier war ich schon mal“, sagte sie.
Wieder dieser Stich. Etwas Merkwürdiges geschah mit mir, ich war völlig verkatert, fühlte mich Hunde-elend, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das mir die Brust zusammen schnürte und meinen Magen in einen Stein verwandelte. Ein Gefühl, das mir nur noch vage vertraut war. Ich musste mich für einen Moment weit in die Vergangenheit zurückversetzen, um zu erkennen: es war Angst.
„Kann nicht sein“, sagte ich. „Völlig unmöglich. Ich wohne schon fast zwanzig Jahre hier.“
„Und verdammt noch eins: Du kommst mir auch so bekannt vor!“ insistierte sie.
Ich wandte mich ihr zu und betrachtete ihr Gesicht noch etwas genauer, suchte nach Anhaltspunkten in der Physiognomie, empfand ein vages Deja Vu` beim Anblick der auffälligen Symmetrie ihrer Gesichtszüge.
„Wie heißt du eigentlich?“ fragte ich.
„Almut heiße ich natürlich“, sagte sie mit gespielter Empörung. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Ich bin Felix“, sagte ich. „Hm, das ist ja ulkig. Meine Katze aus Kindertagen hieß auch Almut.“
„Und du bist also Felix, der Glückliche.“
„Hä?“
„Felix kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‚glücklich’. Jedenfalls war ich hier schon mal, ich bin ganz sicher.“
„Hm, irgendwann war da noch mal was mit so ’ner Almut gewesen ...“
„Vor etwa fünf Jahren hast du mich schon mal abgeschleppt“, sagte Almut. „Wir waren genauso betrunken wie vergangene Nacht. Der Sex war Klasse, aber ich hatte grad ’ne frische Trennung hinter mir, wollte mich auf nix Neues einlassen. Die wahre Intimität beginnt erst mit dem gemeinsamen Frühstück danach; also bin ich lieber abgehauen, bevor du aufgewacht bist.“
„Jetzt erinnere ich mich ganz dunkel“, sagte ich mit (für meine Verhältnisse) ungewohnter Ehrlichkeit. „Ich bin aufgewacht, du warst weg, und ich hab dich praktisch sofort wieder vergessen.“
„Aber letzte Nacht bin ich wie durch Zufall wieder hier gelandet“, sagte Almut mit bedeutungsschwangerer Stimme. „Und dieses Mal bin ich geblieben. Das kann kein Zufall sein! Das ist Schicksal! Das war vorherbestimmt!“
Mein bis dahin vages Angstgefühl wurde plötzlich sehr konkret und fast überwältigend – und blieb mir doch zugleich unerklärlich. Tatsächlich erinnerte mich das Mädchen an meine überfahrene Katze Almut, aber das war ja völlig widersinnig: Ich war damals fünf Jahre alt gewesen. Ich kann mich bis heute kaum an die Fellzeichnung des Tieres erinnern – geschweige denn an sein Gesicht. Natürlich haben alle Katzen sehr symmetrische Gesichter, mal abgesehen von alten, im Kampf erprobten Katern, denen hier ein Ohr oder dort ein Auge fehlt, oder beides ... Aber selbst das offensichtliche Lebensalter der Frau passte ins Bild. Falls sie tatsächlich Anfang bis Mitte dreißig war, musste sie kurz nach dem gewaltsamen Ableben meiner Katze geboren worden sein.
Seit vielen Jahren war es mir eine Lust, tief empfundene Gefühle von Frauen auszubeuten und danach zu verletzen. Um so rätselhafter meine plumpe und zugleich sozial korrekte Reaktion jetzt:
„Quatsch mit Soße! Wir beide kennen uns praktisch nur vom Saufen und vom Ficken. Wir kennen uns eigentlich überhaupt nicht. Seit etwa ’ner Minute weiß ich erst, wie du heißt ...“
Sie war unerschütterlich: „Mir kommt’s vor, als kannten wir uns schon vor einem ganzen Lebensalter“, sagte sie und wurde dabei noch ernster.
Eigentlich klang das verlockend, aber warum gefiel mir dann diese Entwicklung so überhaupt nicht?
Ich antwortete ihr – dieses Mal unehrlich, aber immer noch sozial korrekt –, dass es mir gar nicht so vorkäme, als kannten wir uns schon vor einem Lebensalter. Und schlagartig änderte sich ihre Stimmung wieder. Sie lachte.
„Dann wird es Zeit, dass wir uns besser kennen lernen“, sagte sie. „Anstelle von Kaffee oder Sekt wäre mir lieber, du kommst noch mal zu mir ins Bett. Oder bist du wirklich so eiskalt, wie du tust?“
„Eiskalt?“ fragte ich. „Anscheinend kennst du mich doch schon länger ...“
Sie ließ die Bettdecke ein Stück an sich heruntergleiten und spreizte erneut aufreizend ihre Arme. So in halb liegender Stellung sahen ihre Brüste gar nicht mehr ausgeleiert aus, schienen genau zu allem Übrigen zu passen, so schneeweiß mit kleinen, rosa und schrumpeligen Nippeln. Winzige Schweißtröpfchen glitzerten zwischen dem hellroten Flaum in ihren geheimnisvollen Achselhöhlen. Sie begann sich auf der Matratze (katzenartig) zu winden.
Trotz oder gerade wegen meiner Übelkeit erwachte schlagartig meine Libido wie seit vielen Jahren nicht mehr. Die Angst explodierte in meinem Magen, und ihre Hitze breitete sich schockwellenartig nach allen Richtungen bis in meine Zehen- und Fingerspitzen aus. Das Einzige, an das ich in diesem Moment noch denken konnte, war alle Körperausbuchtungen dieser Frau eingehend und ausgiebig zu erforschen, mich mit Almut auf jede nur erdenkliche Weise zu paaren.
Und genau das tat ich dann die nächsten paar Stunden lang. Aber diesmal bei vollem Bewusstsein.
Als es mir endlich kam, war es wie ein Tod im Kugelhagel. Ich schrie und brüllte, während Wellen von unwillkürlichen Zuckungen über mich hinweg rollten wie Stromstöße, bis nicht nur mein Glied, sondern mein ganzer Körper völlig erschlaffte und ich gerade noch so viel Kraft hatte, mich von der schweißnassen Almut herunter zu wälzen.
Zugleich kehrte meine Übelkeit zurück und der dringende Wunsch meinen Rausch endgültig auszuschlafen. Ich drehte der Frau meine Kehrseite zu und war fast augenblicklich weggedöst, denn ich war mehr als nur müde: es war, als hätte ich mir meinen letzten Rest von Seelenleben aus dem Leib gespritzt.
Ich erwachte davon – es kann nur wenig später gewesen sein –,dass Almut sich von hinten an mich presste und ihre Muschi (ihr hellrotes Kätzchen) an meinem Hintern rieb. „Ich liebe dich, Felix“, stammelte sie. „Ich weiß, du willst nicht, dass ich so etwas sage, also liebe ich dich eben nicht. Aber in Wahrheit liebe ich dich doch ...“
Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich solche Angst verspürt wie in diesem Moment.
„So jetzt reicht ’s aber“, knurrte ich. „Jetzt aber raus! Sofort!“
Ich spürte, wie sie sich schnell aus dem Bett schwang, hörte noch, wie sie ihre Sachen vom Boden aufsammelte, sich anzog und leise schluchzend und fluchtartig mit lautem Türknallen meine Wohnung verließ. Dann schlief ich gleich wieder ein.
Es war etliche Wochen später; einer meiner Aktienfonds hatte kurzfristig überraschend viel Dividende abgeworfen, und ich hatte, um das zu feiern, eine ganze Samstagnacht im Bordell verbracht. Ein unglaublicher Marathon war das gewesen. Ich hatte mich völlig verausgabt, sämtliche Sado-Maso-Register gezogen, nichts und keines der Mädchen ausgelassen; dennoch blieb das Ganze im Letzten unbefriedigend, irgendwie rein mechanistisch, völlig angestrengt und ohne echte Leidenschaft. Solch spontane Erlebnisse wie mit Almut ließen sich nun mal nicht beliebig wiederholen. Dennoch war ich am Sonntagmorgen völlig ausgelaugt, geradezu dehydriert, ein guter Grund also zum Frühschoppen in meine Stammkneipe zu pilgern, um die verlorene Flüssigkeitsmenge wieder aufzutanken.
Als ich an kam, war ich – klar – der erste und einzige Gast, denn es war noch ziemlich früh. Die junge Bedienung, ich glaube sie hieß Bettina oder Beate, stand mit dem Rücken zu mir hinter dem Tresen und schraubte am Radio herum.
„Stell den Oldie-Sender ein“, sagte ich.
Sie wandte sich um. „’Guten Morgen’, sagt man, wenn man ’reinkommt!“
„Warum denn gleich so schnippisch?“ fragte ich. „Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden?“
„Was darf ’s sein, Felix?“, fragte sie.
„Du bist wirklich mit dem falschen Fuß aufgestanden. Ich nehme das Übliche.“
Sie machte mir einen doppelten Bourbon, stellte ihn vor mich hin, blieb vor mir stehen und starrte mich wortlos an, während ich meinen Drink hinunter kippte und mir eine Zigarette anzündete. Einen Moment lang erwog ich, ihr den Rauch ins Gesicht zu blasen, aber, wie ich schon lange wusste, lohnt es nie, sich unbeliebt zu machen ...
„Willst du mich hypnotisieren?“ fragte ich also.
„Ich bin vielleicht schnippisch. Aber wie kommst du denn damit klar?“
„Womit klar?“
„Hast du ’s nicht gehört?“
„Was gehört?“
„Das mit Almut“, sagte Beate oder Bettina. „Sie hat sich vorletzte Nacht vor einen Schnellzug geworfen. Sie ist buchstäblich zerfetzt worden.“
Was ich bei dieser Nachricht empfand, war – nichts. Keine Furcht, keine Trauer, keinen Schmerz, keine Freude, keine Lust. Selbst mein legendäres Lachen war mir vergangen, denn da war nichts mehr übrig, das es noch hätte übertönen müssen, nur dieses Vakuum in meinem Innern. Nun war es an mir, wortlos zu starren, diese Leere zu fühlen.
„Tja, so kann das gehen“, sagte ich dann philosophisch. „Man sieht in niemanden hinein.“
„Ich gebe noch einen aus“, sagte Bettina oder Beate.
Und so geht das nun seit Wochen und Monaten: diese Leere, dieses schwarze Nichts! Da ist nicht einmal mehr ein Schatten oder ein Echo von irgend etwas in meinem Empfinden. Häufig beschäftigen mich inzwischen die vagen Erinnerungen an die Zeit zwischen meinem fünften und sechsten Geburtstag: diese Verzweiflung, diese Melancholie, dieses innere Ringen um Begreifen. Ich war ein introvertiertes Kind gewesen. Aber versteckt im Innern: so lebendig. Wie reich war mein Leben damals gewesen!
Beschäftige ich mich mit dieser Zeit (und dem, was darauf folgte), verschafft mir das immerhin noch ein Faksimile von echter Empfindung: Ich trauere um meine Fähigkeit zu trauern. Ich empfinde Sehnsucht nach der Sehnsucht, empfinde Trennungsschmerz aufgrund meiner Trennung vom Schmerz.
Ich bin zu einem untoten Glied dieser Gesellschaft und der gesamten Menschheit geworden. Ich wandle Lust- und schmerzlos zwischen den Lebenden wie ein Geist – und dabei noch nicht einmal wie ein böser Geist! An mir prallt alles ab wie an einer Regenhaut. Ich bin selbst zu einem Schatten, einem Echo geworden, einem Echo, das vergeblich nach seinem eigenen Echo lauscht. Und ein Geist, der ich bin, kann noch nicht mal sterben wie ein lebendiger Mensch.
Dieser Zustand ist unhaltbar geworden, aber ich habe schon einmal einen (für mich damals) schlimmen inneren Zustand überwunden, und ich weiß jetzt, wie ich diesen für immer beenden kann. Ich werde wieder Schmerz empfinden. Den schlimmsten Schmerz.
Morgen werde ich den Zoo dieser Stadt besuchen. Ich werde der Fütterung der Krokodile beiwohnen. Und dieses Mal werde ich selber über die Reling hüpfen. Oh ja, das wird solch ein schmerzvolles blutiges Spektakel.