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Späte Erkenntnis
Horst wusste nicht mehr weiter. Völliger Stillstand. Anfangs war er so gut vorangekommen, ein Wort jagte das andere, er verlor sich in einem richtigen Schreibrausch. Doch plötzlich, von einem Tag auf den anderen - leer.
Gestern noch ein genialer Schachzug.
Der Mikrochip war unter die Vase geklebt. Willi sollte ihn dadurch finden, dass seine Haushälterin beim Staubsaugen das gute Stück umstiess und die Scherben direkt im Müllcontainer auf dem Hof entsorgte. Horst klatschte vor Freude in die Hände und tippte euphorisch sechzehn Seiten am Stück in sein Laptop.
Das war gestern. Heute entpuppte sich dieser angebliche Schachzug als gemeine Falle. Er hatte sich verrannt, war mit seiner Geschichte ungestüm in eine Sackgasse gelaufen.
Er blättere mit der Pfeiltaste nach oben und las den Text noch einmal von vorne. Der Beginn war gut, brilliant. Er gratulierte sich erneut zu seiner Idee. Beim Weiterlesen erschien ihm alles so vertraut, das Gefühl, den Plot genau richtig getroffen zu haben, machte sich wohlig breit und vertrieb für kurze Zeit seine Selbstzweifel.
'Gut, ja, das lasse ich so.'
Das Zehnfingersystem war ihm fremd und so schaute er beim Schreiben auf die Tastatur, war jedem getippten Buchstaben einen Augenblick voraus. Zwischendurch vergewisserte er sich, ob die Buchstaben sich auch richtig aneinander reihten.
Doch das Verdikt war eindeutig, bitte mal husten, tja, tut mir leid, Herr Neumann.
Markieren, löschen, neu.
'Schreibblockade'.
Horst blätterte und drückte rhythmisch, aber zugleich nutzlos auf der Pfeiltaste herum.
Kommt nix, und überhaupt. "Willi, das ist doch kein Name für einen Agenten", redete er auf den Bildschirm ein, als ob dieser und nicht er den Namen ausgesucht hatte.
"Willibald Krieg. Willi will Krieg. Kannste kriegen, Willi."
Horst schleuderte seine Computermaus wie einen Curlingstein über die Tischplatte. Scheppernd fiel sie über die Kante und baumelte nutzlos an der Schnur.
'Willi hat sich aufgehängt', dachte Horst und schnaubte.
Der Gedanke war so plötzlich und unerwartet, dass es ihn in der Magengegend zwickte. Vor seinem geistigen Auge erschien seine alte mechanische Schreibmaschine von Adler.
Das rhythmische Geräusch der auf die Walze schlagenden Stahltypen klang ihm in den Ohren. Zwischen Farbband und Walze spannte sich das feine, weisse Papier von Biber. Biberpapier sog die Farbe seiner Meinung nach am besten auf.
Auch waren die Texte irgendwie greifbarer, lebendiger und - eigenwillig. Der erste Gedanke liess sich nicht einfach so aus der Welt schaffen, man musste mit Bleistift darüber kritzeln. Dieser ursprüngliche Gedanke wollte leben, bereit, sein unerwünschtes Dasein zu verteidigen. Erst nach der Abschrift hörte er auf zu existieren. Bis dahin aber blieb er präsent, als hoffte er, vom Autor eine zweite Chance zu bekommen.
***
Horst tastete in der Dunkelheit nach dem Lichtschalter. Hier unten im Keller musste sie stehen, irgendwo hinter den alten Kisten vom letzten Umzug. Zehn Kilo filigraner Stahl. Karin hatte sich fürchterlich aufgeregt, doch Horst konnte sich einfach nicht trennen von dem Erinnerungsstück. Irgendwann hatte er sie jedoch vergessen und so verstaubte sie wohl hier unten vor sich hin. Aufgegeben, nutzlos. Wieder dieses Zwicken im Bauch, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Oder war es die Vorfreude, ein Anflug von Nostalgie?
Er fand den Schalter und eine einzelne Glühbirne tauchte den Kellerraum in gedämpftes Licht.
'Hier sollte ich auch wiedermal aufräumen', dachte Horst und kämpfte sich durch leere Flaschen, Kisten mit Büchern, einen alten Lampenschirm und leere Aktenordner. Es war kalt und roch nach altem Papier, Essig und Kies. Kleine Atemwölkchen bildeten sich vor Horsts Gesicht. Er mochte sich täuschen, doch je weiter er in die hintere Ecke vordrang, desto kälter wurde es.
Weshalb ging er so zielstrebig vor? Er wusste gar nicht, wo er die Maschine zuletzt hingestellt hatte. Er bekam eine Gänsehaut, unklar ob vor Kälte oder vor diesem Drang nach vorne.
'Was mache ich hier eigentlich?', dachte Horst und schob ein altes Bügelbrett zur Seite.
Da stand sie.
Dunkelgraues Gehäuse, der Chromstahlbügel an der Seite des Wagens glänzte und in der Mitte die Schwingen eines Adlers, das Symbol des Herstellers.
Horst stutzte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Irgend etwas stimmte hier nicht. Der Lampenschirm hinter ihm, ein Opfer von Karins Neueinrichtungsaktion letzten Jahres, lag nun schon mehrere Monate hier. Und oben drauf zierte eine dicke Staubschicht die vergilbte Birne. Er schaute auf das Bügelbrett. Auch hier, Staub auf dem Stoff, Staub auf der Halterung.
Die Adler hingegen hatte in der langen Zeit weder Staub noch Rost angesetzt. Sie war sauber und glänzte wie damals, als er sie zum ersten Mal im Schaufenster sah.
Nur für kurze Zeit. Sonderangebot. Er spürte sofort diese magische Anziehungskraft. Er hätte das Doppelte bezahlt. Das war bevor er Karin kennenlernte.
Aber hier, nach all den Monaten im Keller. Wie konnte sie da so staubfrei und - schön? - sein. Er schaute genauer zur Adler, und die Überraschung liess ihn keuchen. Das Papier musste er vorhin völlig übersehen haben. Zwischen dem Farbband und der Walze war ein Blatt eingespannt. Biberpapier mit Prägung. So wie er es jeweils nur für die finalen Abschriften verwendet hatte. Strahlend weiss, extra feine Fasern. Das Blatt schaute etwa drei Zentimeter aus der Maschine heraus.
Horst verspürte ein Kribbeln in der Magengegend. Trotz der stetig fallenden Temperatur traten Schweissperlen auf seine Stirn. Mit einem Mal kam Leben in die Schreibmaschine. Wie Gewehrschüsse hallte das Klappern von den Betonwänden, als die Metalltypen drauflos hämmerten, der Rücklaufhebel bewegte sich wie von Geisterhand und der Wagen knallte zurück in die Ausgangsposition. Die Maschine hatte nur einen Satz geschrieben. So plötzlich, wie der Spuk begann, hörte er auch wieder auf.
Horst war geschockt und fasziniert zugleich. Das Hämmern der Typen klang ihm noch im Ohr und er las den Satz, der in frischem Schwarz, ohne Farbfehler auf das blütenweisse Papier geprägt worden war.
'Hallo alte Freundin, hast du mich vermisst?', dachte er und das schlechtes Gewissen liess seinen Solarplexus erneut erschauern.
Tack-tackata-tack.
Die Maschine verzichtete diesmal auf einen Wagenrücklauf.
***
Es war eine stille Feier im engsten Kreis. Pfarrer Hubertus Kamm sprach ein paar tröstende Worte, Onkel Albert verlas den Lebenslauf. Kränze wurden niedergelegt, eine Rose fiel in die Grube. Das Rauschen des Regens verschluckte das stille Schluchzen der Angehörigen.
Karin hatte Horst neben der umgestürzten Schreibmaschine gefunden, sie wollte Kartoffeln für das Abendessen holen.
Der Rettungsarzt versicherte ihr, Horst müsse sofort tot gewesen sein.
Am nächsten Tag musste sie den Ermittlungsbeamten einige unbequeme Fragen beantworten.
Ob die Maschine schon immer auf dem Regal gestanden habe. Nein, hatte sie geantwortet, er musste sich das Scheissding wohl erst kürzlich besorgt haben. Sie erklärte ihnen, sie hätten mal eine Maschine des gleichen Fabrikats gehabt, die hätte sie aber vor zwei Jahren entsorgt, als sie sich beim Aufräumen den Knöchel daran gestossen hatte. Horst verfasste seine Texte seit ihrer Hochzeit sowieso nur noch mit dem Laptop.
"Ausserdem fehlte dem Klapperding das V".
Die beiden Beamten schauten sich kurz an, dann gab ihr der ältere von ihnen das Papier.
"Das sind wohl die letzten Worte, die ihr Mann geschrieben hat. Sieht aus wie ein Dialog ohne zweite Stimme. Möglicherweise wollte er eine Situation für eine Geschichte nachstellen?"
Karin hielt das beschriebene Blatt mit zittrigen Händen und las.
Ja, zutiefst!
Klar helfe ich dir. Und wie ich dir helfe!
Nein, ich bin nicht nachtragend.
Karin? Wieso?
Du musst mich auf die oberste Kante stellen.
Nein, weiter nach vorne.
Ja, so ist es gut. Und jetzt. \ /ersprochen ist \ /ersprochen