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Späte Rache
Späte Rache (geänderte Fassung)
Der hintere Raum der Gaststätte war zum Bersten voll. Alle waren sie nach der Beisetzung des Bauunternehmers Toni Bauer der Einladung zum Leichenschmaus gefolgt. Nur der Bürgermeister ließ sich bei Margarete Bauer, der Mutter des Verstorbenen, wegen dringender Geschäfte entschuldigen, was diese sehr bedauerte.
Wie es in dem kleinen Ort üblich war, gab es ein deftiges Mittagessen mit Schweinsbraten, Knödeln und Salat.
Die Familie Bauer genoss hohes Ansehen im Tal. Der Vater des Verstorbenen hatte der kleinen Gemeinde durch seine Baufirma zu Wohlstand verholfen. Da war es nur Recht, dass man zur Beerdigung seines Sohnes kam, der die letzten Jahre das Geschäft geführt hatte.
Emsig lief Margarete im Saal umher, um sicherzustellen, ob auch jeder genug Essen bekam, während die Kellnerinnen die letzten Schüsseln aus der Küche herein trugen.
Susanne, die junge Witwe, saß stumm und in sich gekehrt am Kopf der Tafel. Um sie herum Stimmengewirr und verhaltenes Lachen, das sie kaum wahrzunehmen schien. Der appetitliche Geruch der Speisen, der den Raum erfüllte, konnte Susanne nicht dazu bewegen, etwas davon zu probieren. Bewegungslos starrte sie vor sich auf ihren leeren Teller.
Plötzlich hob sie lauschend ihren Kopf. Wortfetzen drangen an ihr Ohr, wie „Selbstmord“, „zu schnell gefahren“, „Alkohol am Steuer“. Susanne konnte sich lebhaft vorstellen, was die Dörfler über den Unfall ihres Mannes dachten. Langsam braute sich in ihrem Inneren ein Gewitter zusammen, das sie krampfhaft unter Kontrolle zu halten versuchte. Doch dann hörte sie etwas, was es zum Entladen brachte.
„Aber ja, man kennt das doch“, wetterte die Krämerin. „Jung verheiratet. Da bleibt man morgens schon etwas länger in den Federn.“ Dabei kicherte sie leise vor sich hin. „Da noch ein Küsschen, dort noch ein Schmusen. Die Zeit verstreicht und man ist zu spät dran. Ist doch kein Wunder, dass Toni zu schnell gefahren ist.“
„Vielleicht war er auch mit seiner jungen Frau überfordert“, setzte die Bäckerin Huber nach. „Und dann noch aus der Stadt. Da hat man halt andere Ansprüche wie hier bei uns. Da kam ihm der Brückenpfeiler gerade recht.“
Mit einem Satz sprang Susanne von ihrem Stuhl auf. Erschrocken sahen die Anwesenden auf. Vor Schreck fiel dem Metzger Moosgruber der aufgespießte Knödel von der Gabel zurück in den Teller, so dass die Soße auf sein nagelneues Hemd spritzte.
„Was sollen diese Anspielungen?! Ihr wisst ja überhaupt nicht, was geschehen ist. Nur Klatsch und Tratsch könnt ihr verdammten Weiber im Ort verbreiten. Die Wahrheit, die ist euch doch allen egal!“
„Susanne, was ist denn in dich gefahren“, raunte ihr ihre Schwiegermutter zu und legte ihre Hand beschwichtigend auf ihren Arm. Trotzig schüttelte die junge Frau sie ab und bewegte sich zu dem Platz, auf dem die Krämerin saß und sie herausfordernd ansah.
„Gar nichts wisst ihr von dem Tag, als Tonis Unfall geschah“, fuhr Susanne mit aufgewühlter Stimme fort. „Toni musste vor seiner Abreise noch einmal zum Pfarrhaus wegen den Umbauarbeiten. Dabei bekniete ihn der Pfarrer so lange, die Tombola bei eurem Kirchfest zu übernehmen, bis er einwilligte.“
„Ja, und?“, entgegnete die Krämerin schnippisch. „Da hätte er halt früher aufstehen sollen.“
„Und beim Pfarrer gibt es zur Überredung immer ein kleines Schnäpschen oder auch zwei, nicht wahr?“, mischte sich die Bäckerin wieder ein, der die Bratensoße aus den Mundwinkeln lief.
„Was willst du damit sagen?“, fuhr Susanne auf und sah sie mit funkelnden Augen an. „Toni hat nichts getrunken. Das ist alles erstunken und erlogen von euch. Vielleicht tragt ihr sogar einen Teil der Schuld am Tod meines Mannes.“
„Wie kommst du dazu, solche Anschuldigungen zu äußern?“, zischte die Stimme der Schwiegermutter neben ihr.
„Ich sage nur die Wahrheit. Toni in seiner Gutmütigkeit kam euch doch gerade recht. Nie hatte er jemanden etwas verweigert. Ständig hatte er Bauarbeiten für euch ausgeführt“, fuhr die junge Witwe fort. „Aber die Rechnungen, die wurden gar nicht oder nur schleppend bezahlt. Soll ich die Summen und Namen nennen, von denjenigen, die noch nicht ihre Schulden beglichen haben?“
Dabei ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Einige hielt den Kopf gesenkt und stocherte in ihrem Essen herum.
„Zähle ich alles zusammen, ist es ein kleines Vermögen. Aber irgendwo mussten wir ja zu Geld kommen, damit die Arbeiter und das Baumaterial bezahlt werden konnten. Also hatte Toni auch Aufträge mit weiten Anfahrtswegen angenommen, obwohl es über seine Kräfte ging.“
Susanne traten Tränen in die Augen.
„Du lügst“, ließ sich Margarete Bauer vernehmen. „Unsere Firma stand immer gut da. Du warst es, die Toni dazu trieb, mehr zu arbeiten. Dir war doch alles nicht gut genug, du, die immer neue Ansprüche und Wünsche äußerte, die dir mein Sohn auch erfüllte, damit du bei ihm geblieben bist.“ Dabei wurde ihre Stimme immer schriller.
Susanne stöhnte gequält auf.
„Das ist nicht wahr“, verteidigte sie sich. „Ich wollte nie die vielen Geschenke und Reisen, die mir Toni in den drei Jahren unserer Ehe gemacht hat. Oft habe ich mich dagegen gewehrt.“
„Aber wohl nicht heftig genug“, gluckste die Krämerin.
„Und was ist mit dem Pferd, das du erst letztes Frühjahr bekommen hast?“, hetzte Margarete weiter. „Ständig hattest du nur den Reitstall und den Gaul im Kopf, statt dich um den Haushalt zu kümmern. Dafür hattest du ja eine Putzfrau. Die gnädige Frau sollte sich nur ja nicht die Finger dreckig machen.“
Bei all den Anschuldigungen konnte sich Susanne kaum noch auf den Beinen halten. Halt suchend klammerte sie sich an die Stuhllehen der Krämerin.
„Jetzt spiel nur noch die schwache, kranke Witwe.“ Schon wieder diese boshaften Vorhaltungen der Schwiegermutter.
Da erhob sich eine junge zierliche Frau vom Tisch, nahm ihren Stuhl und stellte ihn hinter Susanne. Sanft drückte sie die Zitternde auf den Sitz, reichte ihr ein Glas Wasser und legte beschützend den Arm um sie.
„Warum macht ihr das mit Susanne? Warum könnt ihr sie in ihrem Schmerz nicht in Ruhe lassen? Ihr seht doch, dass es ihr schlecht geht“, sagte sie dann mit leiser Stimme.
„Du musst ganz still sein, Anette“, spritzte die Bäckerin ihr Gift in die Runde. „Dein Mann, der Selbstmörder. Hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Einfach gegen den erst besten Brückenpfeiler gefahren. Hach, und sich jetzt so aufspielen.“
„Sei vorsichtig, mit dem, was du sagst, Huberin“, verteidigte Susanne ihre Beschützerin. „Auch ihren Mann hat das Dorf auf dem Gewissen.“
„Hört, hört. Jetzt sollen wir noch einen umgebracht haben?“, ließ sich die Krämerin vernehmen.
„Genau so ist es“, entgegnete Susanne, die sich inzwischen etwas erholt hatte, und trank einen Schluck Wasser.
„Auch ihren Mann habt ihr in den Bankrott getrieben. Auch Peter habt ihr oft seine Elektroarbeiten nicht gleich oder Kleinigkeiten überhaupt nicht bezahlt. Die Schulden wuchsen ihm über den Kopf. Da sah er keinen Ausweg mehr.“
Anette brach verzweifelt in Tränen aus.
„Fast jeden Abend saßen Toni und Peter bei uns in der Wohnstube und überlegten, wie sie ihre Finanzen ordnen konnten“, fuhr Susanne mit leiser Stimme fort. „Toni hat ihm öfters vorgeschlagen, Arbeiten an seinen Bauten zu übernehmen. Doch Peter konnte nicht so weit entfernte Aufträge annehmen, da du seine Unterstützung bei der Pflege der kleinen Mia brauchtest.“ Dabei blickte sie Anette mit traurigen Augen an.
„Bei dem Treffen werden sie auch die Brücke für ihren Selbstmord ausgesucht haben“, setzte die Bäckerin noch einen oben drauf.
„Es war kein Selbstmord, jedenfalls nicht bei Toni“, entgegnete ihr Susanne mit fester Stimme. „Ich habe einen Beweis dafür.
Die junge Frau stand auf und griff mit zittrigen Fingern zwischen die Falten ihres Kleides. Aus der Rocktasche holte sie ein kleines Fetzchen Papier. Sie entfaltete es und hielt es den beiden Frauen unter die Nase.
„Das soll ein Beweis sein?“, fragte die Bäckerin Huber hämisch. „Ein Blatt, herausgerissen aus einem Schulheft und …“
„Aber hier steht es ‚Tonis Tod war kein Selbstmord’“, fiel ihr Susanne ins Wort.
„… und das in einer kaum zu entziffernde Schrift?“ Höhnisch vollendete die Huberin ihren Satz.
„Wie naiv bist du eigentlich, Susanne“, fuhr die Krämerin dazwischen. „Ein Lausbubenstreich wird es gewesen sein, sonst nichts. Da erlaubt sich jemand einen kleinen Scherz mit dir. Mein Mann hat es doch genau auf dem Unfallprotokoll gelesen.“
„Und der muss es ja wissen, als Polizeihauptwachtmeister“, ergänzte die Huberin.
„Aber…“, wollte Susanne beginnen.
„Wirf ihn weg! Und sieh den Tatsachen ins Aug. Es war Selbstmord.“
„Genug jetzt mit dem Gehetze!“, beendete Margarete mit einem herrischen Ton die Rede der Bäckerin.
Das war zu viel für Susanne. „Ich bekomme keine Luft mehr hier drinnen“, presste sie hervor, fasste sich mit den Händen an den Hals und stürzte aus dem Saal.
Wenige Sekunden später lehnte sie sich erschöpft an die Wand im Waschraum der Damentoilette. Die Kühle der Kacheln tat ihrem erhitzen Körper gut. Tränen des Zornes über die Gehässigkeit der Dorfbewohner liefen ihr die Wangen hinunter.
Nur einen Moment, nur einen kurzen Moment der Stille wollte sie genießen und dann wieder in den Saal zurückkehren.
Nach ein paar Minuten wischte sie mit immer noch zittrigen Händen die letzten Tränen aus dem Gesicht, löschte das Licht im Waschraum und trat auf den spärlich beleuchteten Gang hinaus.
Plötzlich wurde die Tür zur Herrentoilette aufgestoßen und zwei Männer kamen heraus. Sie waren so sehr in ihren Streit vertieft, dass sie die junge Frau nicht bemerkten, die sich ängstlich an die Wand drückte. Susanne erkannte die aufgebrachten Stimmen. Sie gehörten den beiden Dorfpolizisten Carsten und Sebastian, Freunde von Toni.
„Mensch, Carsten, das kannst du doch nicht machen“, redete Sebastian auf seinen Kollegen heftig ein. „Es langt schon, dass du ihr diesen Zettel zugesteckt hast.“
„Ich kann nicht anders“, entgegnete dieser mit zittriger Stimme. „Das kann ich Susanne nicht antun. Schau sie dir doch an, wie … wie fertig sie ist. Wenn das mit dem Selbstmord, …. mit dem Unfall von Toni nicht aufgeklärt wird, dann …“ Carsten zögerte kurz.
„Du, du, immer nur du!“, fauchte Sebastian und versetzte Carsten einen schmerzhaften Stoß gegen die Schulter, dass dieser aufstöhnte. „Denkst du dabei vielleicht auch mal an mich! Ich sitze genauso in dem Schlamassel! Ich habe auch das gefälschte Unfallprotokoll unterschrieben! Nur ich habe im Gegensatz zu dir Familie. Ich brauche den Job. Wenn du jetzt auspackst, dann sind wir ihn beide los!“ Er packte seinen Kumpel grob am Ärmel und schüttelte ihn. „Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“
Einige Sekunden herrschte Schweigen. Dann wieder die leise Stimme von Carsten: „Ich sage Susanne, dass der anonyme Hinweis von mir war. Das bin ich ihr schuldig.“ Es folgten schnelle Schritte Richtung Saal.
„Verdammt, das tust du nicht!“, brüllte Sebastian und setzte ihm nach.
Kurz darauf fiel die Saaltür hinter ihnen ins Schloss.
Nun wusste Susanne, wer sie informiert hatte. Jetzt war es an ihr, zu erfahren was man ihr verheimlichen wollte und vor allem warum.
Kurz entschlossen putzte sie sich noch einmal die Nase, richtete ihren Körper gerade auf und ging nach einem tiefen Atemzug hoch erhobenen Hauptes zur Trauergemeinde zurück.
Ohne auf die erstaunten Blicke der Dörfler zu achten, die ihren Auftritt interessiert beobachteten, bahnte sie sich schnurstracks den Weg zu den beiden jungen Männern, die inzwischen wieder auf ihren Plätzen gegenüber der Krämerin saßen.
„Carsten“, fuhr sie den Jüngeren der Beiden an. „Ich glaube, du bist mir eine Erklärung schuldig!“
„Ich…? ….wieso? … was soll ich dir erklären?“, stotterte dieser und schob nervös die Knödelstücke auf seinem Teller herum.
„Wie wäre es mit der Wahrheit? Sag doch einfach nur die Wahrheit“, entgegnete Susanne und wedelte mit dem Papierfetzen vor seiner Nase herum.
„Welche Wahrheit soll dir Carsten sagen?“, mischte sich Sebastian ein.
„Carsten soll nur das wiederholen, was er eben auf dem Gang zu dir gesagt hat“, sagte Susanne in einem ruhigen Ton.
„Du … du hast es gehört?“ Bei dieser Frage geriet sogar Sebastian ins Stottern.
„Ja. Jetzt redet endlich. Was verheimlicht ihr Beiden mir über die Todesursache meines Mannes?“ Diese Frage klang sehr eindringlich.
Sekundenlang herrschte Stille. Auch die anderen Trauergäste waren inzwischen aufmerksam und neugierig geworden. Nur die alte Kräuter-Kathi setzte ihre Mahlzeit fort, ohne sich dabei unterbrechen zu lassen.
„Carsten, sei so gut und red“, schrie die junge Frau den Polizisten an, der immer noch zögerte und ängstlich zu seinen Kollegen sah.
„Red endlich, wenn du etwas weißt!“ Kraftlos ließ sie die Schultern hängen.
Leise, dass es kaum zu hören war, kamen die Worte über seine Lippen: „Toni hat nicht Selbstmord begangen.“
„Und was war die Todesursache?“, fragte Susanne. Ihre Kehle war schier zugeschnürt.
„Toni hatte während der Fahrt einen Infarkt erlitten“, antwortete Carsten tonlos, „bevor der Wagen gegen die Brücke raste. Dass … dass er an genau derselben Stelle verunglückte wie Peter, war Ironie des Schicksals.“
Totenstille trat ein. Noch nicht einmal die Krämerin oder die Bäckerin waren fähig, eine bissige Bemerkung zu machen.
Susanne sah den Dorfpolizisten ungläubig an. Dann packte sie den Mann an den Schultern und schüttelte ihn wild: „Warum hast du dann die ganze Zeit geschwiegen und zugelassen, dass sich die Dörfler das Maul über Toni zerreißen konnten?“
„Der Bürgermeister“, jammerte Carsten. „Es war seine Idee.“ Er machte eine kurze Pause. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. „Ja, es war die Idee des Bürgermeisters. Er wollte, dass es wie Selbstmord aussehen sollte. Sebastian und ich konnten nichts dagegen tun. Wir mussten das Protokoll unterschreiben.“ Carsten schluckte heftig. Es ging ihm sichtlich nahe.
„Er hätte uns beide entlassen“, fuhr Sebastian fort. „Und ich brauche meine Anstellung. Ich habe doch Familie.“
„Und warum wollte das der Bürgermeister so?“, fragte Susanne sichtlich schockiert.
„Vor einige Zeit äußerte er, dass sein Bruder Willi scharf auf euer Baugeschäft sei“, berichtete Carsten stockend weiter.
„Susanne hätte hier im Ort keinen Fuß mehr fassen können, nach der Blamage und Willi hätte die Firma für ‚nen Appel und e’n Ei bekommen. Des Bürgermeisters Schulden sollten natürlich auch noch unter den Tisch gekehrt werden.“
„Fein hat sich das unser Gemeindeoberhaupt ausgedacht.“ Susannes Stimme klang recht zynisch, als sie dies sagte. Eher nachdenklich fügte sie hinzu: „Doch er schien noch irgendetwas gegen Toni in der Hand gehabt zu haben. Die Schulden vom Bau seiner Luxusvilla und des angrenzenden Hoteltraktes am Ortsrand konnten es nicht alleine sein.“
Die Sensation war zu Ende und die Dörfler widmeten sich wieder dem Essen zu.
Auch Susanne wollte mit ihrer Schwiegermutter zu ihrem Platz zurückkehren, als sie vom Metzger Moosgruber am Ärmel ihres Kleides festgehalten wurde.
„Warte mal Susanne“, sprach er sie an. Umständlich tupfte er sich die Mundwinkel und räusperte sich lautstark. „Ich glaube der Tod von Julius war Schuld am Verhalten des Bürgermeisters.“
„Was noch ein Toter?’“ Entsetzt sah Susanne den Metzger an und ihre leise Stimme klang fast hysterisch als sie hinzufügte: „Wer um Gottes Willen ist jetzt auch noch Julius?“
„Julius ist der Sohn des Bürgermeisters“, klärte Margarete ihre Schwiegertochter auf. „Vielmehr er war es, denn er kam bei einem Sturz in die Schlucht ums Leben. Mein Gott, was war das damals für eine Tragödie.“
„Ja und, was hat Toni damit zu tun?“, fragte Susanne und schaute Hilfe suchend von einem zum andern.
„Toni, Peter und ich waren in einer Gruppe Jugendlicher“, begann der Moosgruber zu erzählen und knüllte dabei nervös seine Serviette zusammen. Man konnte ihm ansehen, dass ihm nicht ganz wohl bei der Sache war.
„An euch kann ich mich noch gut erinnern“, ließ sich die Kräuter-Kathi vernehmen. „Ständig habt ihr mit euren Streichen die Bauern zur Weißglut gebracht.“
„Ähm, ja“, stotterte der Metzger. „Es waren nur kleine Sachen. Ein paar geklaute Äpfel und Birnen oder ….“
„Ein paar Äpfel“, rief die Huberin dazwischen. „Einen ganzen Baum habt ihr leer gepflückt. Ich wollte das Obst noch in meinem Laden verkaufen. Fast ruiniert habt ihr mich!“
Moosgruber schaute verlegen auf seinen Teller. Dann sprach er stockend weiter: „Eines Tages wollte auch Julius, …ja also, wollte der Sohn unseres Bürgermeisters mit uns gehen. Da beschlossen wir, dass er sich vorher einer Mutprobe stellen müsse.“ Er machte eine kurze Pause und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. „Na ja, er sollte auf der Hängebrücke die Schlucht überqueren. Toni und Peter hatten dies vorgeschlagen.“
„Das marode Ding?“ Entsetzt schaute Carsten den Metzger an.
„Damals war sie noch in Ordnung“, verteidigte sich der Moosgruber. „Eigentlich keine große Aufgabe, aber für jemanden der Höhenangst hat, war es schon sehr schlimm.“
„Und das bei dem fürchterlichen Regen damals“, erinnerte sich Susannes Schwiegermutter.
„Ja, trotzdem trieben wir Julius an, hinüber zu gehen. Doch in der Mitte der Brücke geriet er in Panik und zappelte so sehr herum, dass er auf den nassen Holzplanken ausrutschte und in die Tiefe stürzte.“ Die letzten Worte brachen förmlich aus ihm heraus.
„Ja, so war das damals gewesen“, sagte Margarete in Gedanken. „Ich erinnere mich noch gut daran, wie verstört Toni nach Hause gekommen war. Und dann diese Anzeige!“
„Toni und Peter wurde die Schuld an diesem Unglück in die Schuhe geschoben. Obwohl wir alle beteuerten, dass es ein Unfall gewesen war, kam es zum Prozess."
"Aber man konnte ihnen nichts beweisen", unterbrach ihn Margarete.
"Ja, es stand Aussage gegen Aussage und der Strafantrag des Bürgermeisters wurde abgewiesen“, berichtete Moosgruber weiter, der sich inzwischen wieder gefangen hatte.
„Und was hat das alles mit Tonis Unfall und den Schulden zu tun?“ Susanne sah sie fragend an.
„Nachdem Toni und Peter die Firmen ihrer Väter übernommen hatten, setzte der Bürgermeister die beiden unter Druck. Er drohte die Sache noch einmal aufzurollen, wenn sie ihm nicht bei seinem Bauvorhaben preiswert unterstützen würden.“
„Wie sollte er das machen? Seine Klage wurde doch bereits abgewiesen“, hakte Susanne nach.
„Angeblich hätte er erst nach dem Prozess beim Aufräumen der Sachen seines Sohnes ein Tagebuch von Julius gefunden, ….“
„Ja so was, hat der Jung ein Tagebuch geschrieben“, Die Krämerin schüttelte ungläubig den Kopf.
„… in dem dieser darauf hinwies“, fuhr Moosgruber fort, „dass Toni und Peter eine gefährliche Mutprobe von ihm verlangt hätte, um in die Gemeinschaft von uns aufgenommen zu werden. Wir mussten ja davon ausgehen, dass es dieses Buch wirklich gab.“
„Damit erpresste der Bürgermeister Toni und Peter“, folgerte Susanne und legte dem Metzger dankbar für sein Geständnis freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
„Und da entschuldigt er sich bei mir. Wegen dringender Geschäfte, könne er nicht zur Beerdigung kommen.“ Margaretes Stimme klang zornig.
„Von wegen, dringende Geschäfte“, keifte die alte Kräuter-Kathi und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Abgehauen ist er! Hatte bestimmt schon seine Flucht geplant, der feige Hund.“
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Margarete.
„Was ich gesehen hab, hab ich gesehen.“
„Ja, Mensch, Kathi“, meldete sich Susanne. „Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Was hast du gesehen?“
„Er hat halt heute in aller Herrgottsfrühe drei schwere Koffer in sein Auto geladen. Das hab ich gesehen. Was das zu bedeuten hatte, könnt ihr euch ja wohl denken. Aber Gottes Strafe entgeht keiner, nicht einmal der Bürgermeister!“
Susanne hatte genug erfahren. Zielstrebig verließ sie den Saal.
Anette und Susanne haben inzwischen ihre Firmen vereinigt und die Geschäfte beginnen langsam aber sicher Gewinne abzuwerfen.
Die Kräuter-Kathi ist im letzten Monate an einer schweren Lungenentzündung gestorben und der Metzger Moosgruber hat den Ort vor einer Woche verlassen, um in der Stadt eine Schlachterei zu übernehmen. Auch vom Bürgermeister hat keiner der Dorfbewohner mehr etwas gehört. An seine ehemalige Existenz erinnert nur noch die Bauruine seiner Luxusvilla am Ortsrand.
Aber an die Ereignisse im vergangenen Jahr sind noch viele Geschichten im Umlauf. Dafür sorgt schon der Klatsch und Tratsch, der nach wie vor im Bäckerladen und bei der Krämerin ausgetragen wird.
Späte Rache (ältere Fassung)
Der hintere Raum der Gaststätte war zum Bersten voll. Alle waren sie nach der Beisetzung des Bauunternehmers Toni Bauer der Einladung zum Leichenschmaus gefolgt. Nur der Bürgermeister ließ sich zum Leidwesen von Margarete Bauer, der Mutter des Verstorbenen, wegen dringender Geschäfte entschuldigen.
Wie es in dem kleinen Ort üblich war, gab es ein deftiges Mittagessen mit Schweinsbraten, Knödeln und Salat.
Die Familie Bauer genoss hohes Ansehen im Tal. Der Vater des Verstorbenen hatte der kleinen Gemeinde durch seine Baufirma zu Wohlstand verholfen. Da war es nur Recht, dass man dem Sohn, der in der Generation nachgerückt war, das letzte Geleit gab.
Und nun hatte man ihn, der viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde, auf dem Friedhof zu Grabe getragen.
Emsig lief Margarete im Saal umher, um nachzuschauen, ob auch jeder genug Essen bekam, während die Kellnerinnen eine Schüssel nach der anderen aus der Küche herein trugen.
Susanne, die junge Witwe, saß stumm und in sich gekehrt am Kopf der Tafel. Um sie herum Stimmengewirr und verhaltenes Lachen, das sie kaum wahrzunehmen schien. Der appetitliche Geruch der Speisen, der den Raum erfüllte, konnte Susanne nicht dazu bewegen, etwas von dem Essen zu probieren. Bewegungslos starrte sie vor sich auf ihren leeren Teller.
Plötzlich hob sie lauschend ihren Kopf. Wortfetzen drangen an ihr Ohr, wie „Selbstmord“, „zu schnell gefahren“, „Alkohol am Steuer“. Susanne konnte sich lebhaft vorstellen, was die Dörfler über den Unfall ihres Mannes dachten. Langsam braute sich in ihrem Inneren ein Gewitter zusammen, das sie krampfhaft unter Kontrolle zu halten versuchte. Doch dann hörte sie etwas, was den Vulkan in ihr zum Ausbruch brachte.
„Aber ja, man kennt das doch“, wetterte die Krämerin. „Jung verheiratet. Da bleibt man morgens schon etwas länger in den Federn. Da noch ein Küsschen, dort noch ein Schmusen. Die Zeit verstreicht und man ist zu spät dran. Ist doch kein Wunder, dass Toni zu schnell gefahren ist.“
„Vielleicht war er auch mit seiner jungen Frau überfordert, konnte ihre Wünsche nicht erfüllen und fuhr deshalb absichtlich an den Brückenpfeiler, um dem Allen zu entkommen“, setzte die Bäckerin Huber nach.
Mit einem Satz sprang Susanne von ihrem Stuhl auf, der nach hinten kippte und polternd auf die Steinplatten der Gaststube aufschlug.
Erstaunt sahen die Anwesenden auf. Vor Schreck fiel dem Metzger Moosgruber der aufgespießte Knödel von der Gabel zurück in den Teller, so dass die Soße auf sein nagelneues Hemd spritzte.
„Was fällt euch ein, solche Vermutungen zu äußern. Ihr wisst ja überhaupt nicht, was geschehen ist. Nur Klatsch und Tratsch könnt ihr verdammten Weiber im Ort verbreiten. Die Wahrheit, die ist euch doch allen egal!“
„Susanne, was ist denn in dich gefahren“, raunte ihr ihre Schwiegermutter zu und legte ihre Hand beschwichtigend auf ihren Arm. Trotzig schüttelte die junge Frau sie ab und bewegte sich zu dem Platz, auf dem die Krämerin saß und sie herausfordernd ansah.
„Gar nichts wisst ihr von dem Tag, als Tonis Unfall geschah“, fuhr Susanne mit aufgewühlter Stimme fort. „Toni musste vor seiner Abreise noch einmal zum Pfarrhaus, wo er in der Woche darauf einige Umbauarbeiten in Angriff nehmen sollte. Nach diesem Gespräch bekniete ihn der Pfarrer noch, die Tombola des Kirchfestes am kommenden Sonntag zu übernehmen, die für die Renovierung der Orgel ins Leben gerufen wurde. Und ließ ihn nicht weg, bevor er eingewilligt hatte.“
Alle Augen der Anwesenden waren auf die beiden Frauen gerichtet.
„Ja und?“, entgegnete die Krämerin schnippisch. „Da hätte er halt früher aufstehen sollen.“
„Und beim Pfarrer gibt es zur Überredung immer ein kleines Schnäpschen oder auch zwei, nicht wahr?“, mischte sich die Bäckerin wieder ein, der die Bratensoße aus den Mundwinkeln lief.
„Was willst du damit sagen?“, fuhr Susanne auf und sah die dicke Bäckersfrau mit funkelnden Augen an. „Toni hat nichts getrunken. Das ist alles erstunken und erlogen von euch. Von euch allen, wie ihr hier in vereinter Runde zusammensitzt. Vielleicht tragt ihr sogar einen Teil der Schuld am Tod meines Mannes.“
Nach dieser Anschuldigung war es so still im Saal geworden, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.
Dann zischte die Stimme der Schwiegermutter neben Susanne: „Wie kommst du dazu, solche Anschuldigungen zu äußern?“
„Ich sage nur die Wahrheit. Toni war doch das geborene Opfer für euch. Nie hat er jemanden etwas verweigert. Ständig hat er Bauarbeiten für euch ausgeführt“, fährt die junge Witwe fort.
„Das ist wahr“, pflichtete ihr der Huber bei.
„Aber die Rechnungen, die wurden gar nicht oder nur schleppend bezahlt. Soll ich die Summen und Namen nennen, von denjenigen, die noch nicht ihre Schulden beglichen haben?“
Dabei ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Jede zweite Person hielt den Kopf gesenkt und stocherte in ihrem Essen herum. Keiner konnte ihr in die Augen sehen.
„Zählt man sie zusammen, dann kommt eine horrende Zahl zustanden. Aber irgendwo mussten wir ja zu Geld kommen, damit die Arbeiter und das Baumaterial bezahlt werden konnten. Also hat Toni ständig neue Aufträge im ganzen Land angenommen, obwohl es über seine Kräfte ging, immer weitere Strecken in Kauf zu nehmen.
Susanne traten Tränen in die Augen, die langsam an ihren Wangen hinunter liefen und auf ihr schwarzes Kleid tropften.
„Du lügst“, ließ sich Margarete Bauer vernehmen. „Unsere Firma stand immer gut da. Du warst es, die Toni dazu trieb, mehr zu arbeiten. Dir war doch alles nicht gut genug, du, die aus der Großstadt kommt, und immer neue Ansprüche und Wünsche äußerte, die dir mein Sohn auch erfüllte, damit du bei ihm geblieben bist.“ Dabei wurde ihre Stimme immer schriller.
Susanne ließ hörbar Luft ab, um nicht platzen zu müssen.
„Das ist nicht wahr“, verteidigte sie sich. „Ich wollte nie die vielen Geschenke und Reisen, die mir Toni in den drei Jahren unserer Ehe gemacht hat. Oft habe ich mich dagegen gewehrt.“
„Aber wohl nicht heftig genug“, kicherte die Krämerin.
„Und was ist mit dem Pferd, das du erst letztes Frühjahr bekommen hast?“, hetzte Margarete weiter. „Ständig fuhrst du zum Reitstall, wo der Gaul stand, statt dich um den Haushalt zu kümmern. Dafür hattest du ja eine Putzfrau. Die gnädige Frau sollte sich nur ja nicht die Finger dreckig machen.“
Bei alle den Anschuldigungen konnte sich Susanne kaum noch auf den Beinen halten. Halt suchend klammerte sie sich an die Stuhllehen der Krämerin.
„Jetzt spiel nur noch die schwache kranke Witwe.“ Schon wieder diese boshaften Vorhaltungen der Schwiegermutter.
Da erhob sich eine junge zierliche Frau vom Tisch, nahm ihren Stuhl und stellte ihn hinter Susanne. Sanft drückte sie die Zitternde auf den Sitz und legte beschützend den Arm um sie.
„Warum macht ihr das mit Susanne? Warum könnt ihr sie in ihrem Schmerz nicht in Ruhe lassen? Ihr seht doch, dass es ihr schlecht geht“, sagte sie dann mit leiser Stimme.
„Du musst ganz still sein, Anette“, spritzte die Bäckerin ihr Gift in den Raum. „Dein Mann, der Selbstmörder. Hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Einfach gegen den erst besten Brückenpfeiler gefahren. Hach, und jetzt den Moralapostel spielen.“
„Sei vorsichtig, mit dem, was du sagst, Huberin“, verteidigte Susanne ihre Beschützerin. „Auch ihren Mann hat das Dorf auf dem Gewissen.“
„Hört, hört. Jetzt sollen wir noch einen umgebracht haben?“, ließ sich die Krämerin vernehmen.
„Genau so ist es“, entgegnete Susanne, die sich inzwischen etwas erholt hatte und einen Schluck aus dem Wasserglas nahm, das ihr die junge Frau gegeben hatte.
„Auch ihr Mann wurde in den Bankrott getrieben. Auch Peter habt ihr eure Elektroarbeiten machen lassen und habt sie nicht bezahlt. Doch er konnte nicht in der Gegend herumreisen, um Aufträge einzuholen. Er hatte Kinder zu Hause, die ihren Vater brauchten. Doch dann sah Peter keinen Ausweg mehr. Die Schulden fraßen ihn immer weiter auf. Er sah kein Land mehr.“
Anette brach in Tränen aus. Noch immer sah sie das zerbeulte Auto vor sich, wie es am Brückenpfosten stand.
„Fast jeden Abend saßen Toni und Peter bei uns in der Wohnstube und überlegten, wie sie ihre Finanzen ordnen konnte.“ Susanne sagte dies mit sehr leiser Stimme. Aber es war so still geworden, dass man sie trotzdem bis in die hinterste Ecke des Raumes verstand. „Toni hat ihm öfters angeboten, die Elektroarbeiten bei seinen Bauten auszuführen. Doch er musste ablehnen, da er bei den weiten Entfernungen zu lange von seiner Familie getrennt war. Und Anette brauchte Unterstützung bei der Pflege von Mia. Und ihr wisst wie schwierig das ist mit ihrer Behinderung.“
„Noch nicht einmal ein gesundes Kind hat er zeugen können“, keifte die Krämerin. Obwohl sie einen Rüffler von ihrem Mann bekam, der mit hochrotem Kopf neben ihr saß, fuhr sie ungebremst fort: „Bei den Treffen werden sie auch die Brücke für ihren Selbstmord ausgesucht haben.“
„Genug, Mutter!“, unterbrach sie ihr Mann barsch. „Jetzt hältst du dein Maul und gibst Ruhe. Ich glaube die beiden jungen Frauen haben schon genug Leid erfahren müssen, indem sie ihre Männer auf so tragische Weise verloren haben. Da brauchst du nicht auch noch die Glut zu schüren.“
Plötzlich wurde die Tür zum Saal mit einem Ruck aufgerissen und ein dickleibiger Mann in Polizeiuniform stolperte atemlos in den Raum.
„Habt ihr es schon gehört?“, begann er und rang nach Luft.
„Was soll denn diese Störung, Jupp?“, unterbrach ihn sofort Margarete. „Kannst du nicht später wiederkommen? Du störst. Wir wollen in Ruhe meines verstorbenen Sohnes gedenken.“
„Tut … tut mir leid“, stotterte Jupp. „Aber es ist sehr wichtig.“
„Na, dann“, erteilte Margarete Bauer ihm wieder das Wort. „Aber schnell.“
„Gerade habe ich es über Funk erfahren“, setzte der Polizist seinen Bericht fort. „Unser Bürgermeister ist heute in den Vormittagsstunden…“ Jupp holte noch einmal tief Luft. „…in den Vormittagsstunden auf der Autobahn Richtung Österreich verunglückt.“
„Oh, Maria und Josef!“, rief die Huberin aus.
„Ist ihm was passiert?“, wollte ihr Mann erfahren.
„Man weiß nichts Genaues. Hieß er liege auf der Intensivstation im städtischen Klinikum. Wie schwer die Verletzungen sind und ob Schäden zurückbleiben werden, ist noch nicht bekannt.“
„Es gibt doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt. Jetzt ist der Tod von Toni doch noch gerächt worden.“ Susanne, die immer noch auf dem Stuhl hinter der Krämerin saß, drangen diese geflüsterten Worte ans Ohr. Erstaunt sah sie auf und erblickte den jungen Wachtmeister Mayer, der neben der Krämersfrau seinen Platz hatte.
„Was meinst du damit?“, fragte sie ihn.
Nervös schob der Polizist mit seinem Besteck die Knödelstücke von einer Seite des Tellers auf die andere.
„Mensch Carsten“, mischte sich sein Kollege Sebastian ein. „Sei ruhig. Liefere dich nicht ans Messer. Noch lebt der Bürgermeister.“
„Was soll das? Was verheimlicht ihr beiden? Was hat der Unfall des Bürgermeisters mit dem Toni zu tun? Und warum Rache?“ Eindringlich sah Susanne die beiden jungen Männer an.
Sekundenlang herrschte Stille. Die anderen Trauergäste waren aufmerksam und neugierig geworden. Nur die alte Kräuter-Kathi setzte ihre Mahlzeit fort, ohne sich dabei unterbrechen zu lassen.
„Carsten, sei so gut und red“, flehte die junge Frau den Polizisten an, der immer noch zögerte und ängstlich zu seinen Kollegen sah.
„Red endlich, wenn du etwas weißt!“ Susanne schrie förmlich die Worte heraus.
Leise, so leise, dass es kaum zu hören war, kamen die Worte über seine Lippen: „Es war kein Selbstmord. Toni hat nicht Selbstmord begangen.“
„Aber wieso stand es dann als mögliche Ursache im Protokoll?“, mischte sich Jupp ein, der inzwischen wieder zu Atem gekommen war.
„Und was war die Todesursache?“, fragte Susanne dazwischen, die Kreide bleich war.
„Herzinfarkt“, antwortete Carsten. „Toni hatte während der Fahrt einen Infarkt erlitten und war an den Brückenpfeiler gerast. Dass er an genau derselben Stelle verunglückte wie Peter, war Ironie des Schicksals. Schuld an dem Unfall war Herzstillstand und nicht Selbstmord.“
Totenstille trat ein. Jeder musste das eben Gehörte erst verkraften. Noch nicht einmal die Krämerin oder die Bäckerin waren fähig, eine bissig Bemerkung zu machen. Es verschlug ihnen schier die Sprache.
Susanne sah den Polizeibeamten ungläubig an.
„Warum, warum sagst du das erst jetzt. Weshalb hast du die ganze Zeit geschwiegen und zugelassen, dass sich die Dörfler das Maul über Toni zerreißen konnten?“
Mit diesen Worten packte sie den jungen Mann an den Schultern und schüttelte ihn wild. „Warum? Warum nur?“, schrie sie all ihren Kummer aus ihrer Seele heraus.
„Es ist schwer zu erklären“, setzte Carsten an. „Wir hatten Befehl vom Bürgermeister, die eigentliche Todesursache zu verschweigen. Es sollte wie Selbstmord aussehen. Danach wollte sein Bruder das landesweit angesehen Baugeschäft der Witwe abkaufen.“
„Für nen Appel und en Ei wohlgemerkt“, fügte Sebastian hinzu. „Denn Susanne hätte hier im Ort keinen Fuß mehr fassen können, nach der Blamage. Die Schulden sollten natürlich auch unter den Tisch gekehrt werden.“
„Fein hat sich das unser Gemeindeoberhaupt ausgedacht.“ Susannes Stimme klang recht zynisch als sie dies sagte. Eher nachdenklich fügte sie hinzu: „Doch er schien noch irgendetwas gegen Toni in der Hand gehabt zu haben. Der Bürgermeister schuldet Toni zwar eine Menge Geld, denn er hatte sich mit dem Bau seiner Luxusvilla und des angrenzenden Hoteltraktes am Ortsrand übernommen. Ich höre noch Toni und Peter darüber diskutieren, wie sie bei ihm die ausstehenden Schulden eintreiben könnten. Aber war das alles?“
Da die Gäste der Überzeugung waren, dass die Frage heute und hier sowieso nicht beantwortet werden konnte, widmeten sie sich wieder ihrer Mahlzeit. Besteck klapperte und leise Gespräche kamen auf.
Auch Susanne wollte zu ihrem Platz zurückkehren, als sie vom Metzger Moosgruber am Ärmel ihres Kleides festgehalten wurde.
„Warte mal Susanne“, sprach er sie an. Umständlich tupfte er sich Soßenreste von den Mundwinkeln die kaum vorhanden waren und räusperte sich lautstark. „Ich glaube der Tod von Julius war Schuld am Verhalten des Bürgermeisters.
„Was noch ein Toter?’“ Entsetzt sah Susanne den Metzger an und ihre Stimme klang fast hysterisch als sie hinzufügte: „Wer um Gottes Willen ist jetzt auch noch Julius?“
„Julius ist der Sohn des Bürgermeisters“, klärte Margarete ihre Schwiegertochter auf. „Vielmehr er war es, denn er kam bei einem Sturz in die Schlucht ums Leben. Mein Gott, was war das damals für eine Tragödie.“
„Ja und, was hat Toni damit zu tun?“, fragte Susanne und schaute Hilfe suchend von einem zum andern.
„Toni, Peter und ich waren in einer Gruppe Jugendlicher“, begann der Moosgruber zu erzählen und knüllte dabei nervös seine Serviette zusammen. Man konnte ihm ansehen, dass ihm nicht ganz wohl bei der Sache war. „Wir machten Tag für Tag das Tal unsicher.“
„An eure Lausbubenstreiche kann ich mich noch gut erinnern“, ließ sich die Kräuter-Kathi vernehmen, denn das neu entfachte Gespräch hatte die Trauergäste wieder hellhörig gemacht. „Ständig habt ihr mit euren Streichen die Bauern zur Weißglut gebracht.“
„Ehm, ja“, stotterte der Metzger. „Es waren nur kleine Sachen. Hier ein kleines Feuer, das wir natürlich immer unter Beobachtung hielten, dort ein paar geklaute Äpfel oder Birnen.“
„Ein paar Äpfel“, rief die Huberin dazwischen. „Einen ganzen Baum habt ihr leer gepflückt. Ich wollte das Obst noch in meinem Laden verkaufen. Fast ruiniert habt ihr mich!“
Unwillkürlich musste Susanne lächeln. Ihr war die krankhafte Knauserigkeit der Krämersfrau wohl bekannt.
Moosgruber wurde ganz rot im Gesicht, vor Verlegenheit. Nur stockend sprach er weiter: „Eines Tages wollte auch Julius, …ja also, wollte der Sohn unseres Bürgermeisters, in unsere Gruppe aufgenommen werden. Da beschlossen wir, dass er sich vorher einer Mutprobe stellen müsse.“ Er machte eine kurze Pause und tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn. „Na ja, er sollte halt auf der Hängebrücke die Schlucht überqueren. Toni und Peter hatten dies vorgeschlagen.“
„Das marode Ding?“ Entsetzt schaute Carsten den Metzger an.
„Damals war sie noch in Ordnung. Wie oft sind wir Jungs da rüber und nüber gesprungen“, verteidigte sich der Moosgruber. „Eigentlich keine große Aufgabe, doch für jemanden der Höhenangst hat, war es schon sehr schlimm.“
„Damals hatte es doch so furchtbar geregnet, als es passierte. Ich weiß das so genau, denn ich hatte gerade Dienst“, ergänzte Jupp. „Und ihr habt ihn trotzdem über die glitschige Brücke geschickt.“
„Ja, wir trieben Julius an, hinüber zu gehen. Doch in der Mitte der Brücke geriet er in Panik und zappelte so sehr herum, dass er auf den nassen Holzplanken ausrutschte und in die Tiefe stürzte.“ Die letzten Worte brachen förmlich aus ihm heraus, so als hätte er das Ganze gerade eben noch einmal durchlebt.
„Ja, so war das damals gewesen“, sagte Margarete in Gedanken. „Ich erinnere mich noch gut daran, wie verstört Toni nach Hause gekommen war. Und dann diese Anzeige!“
„Toni und Peter wurde die Schuld an diesem Unglück in die Schuhe geschoben. Obwohl wir alle beteuerten, dass es ein Unfall gewesen war, kam es zum Prozess. Da man nichts beweisen konnte, stand Aussage gegen Aussage und der Strafantrag des Bürgermeisters wurde abgewiesen“, berichtete Moosgruber weiter, der sich inzwischen wieder gefangen hatte.
„Ja, und was hat das alles mit Tonis Unfall und den Schulden zu tun?“, wollte Susanne wissen.
„Nachdem Toni und Peter die Firmen ihrer Väter übernommen hatten, setzte der Bürgermeister die beiden unter Druck. Er drohte die Sache noch einmal aufzurollen, wenn sie ihm nicht bei seinem Bauvorhaben preiswert unterstützen würden.“
„Wie sollte er das machen? Seine Klage wurde doch bereits abgewiesen“, unterbrach ihn der Huber interessiert.
„Angeblich hätte er erst nach dem Prozess beim Aufräumen der Sachen seines Sohnes ein Tagebuch von Julius gefunden, in dem dieser darauf hinwies, dass Toni und Peter eine gefährliche Mutprobe von ihm verlangt hätte, um in die Gemeinschaft von uns aufgenommen zu werden. Wir mussten ja davon ausgehen, dass es dieses Buch wirklich gab.“
„Damit erpresste der Bürgermeister Toni und Peter“, folgerte Susanne, die dem Geständnis des Meztgers aufmerksam gelauscht hatte. „Beide sollten sich selbst umbringen und so ihre angebliche Schuld am Tod seines Sohnes abtragen. Bei Peter ist es ihm gelungen. Doch Toni war stark genug, dem zu widerstehen.“
„Und da stand er seelenruhig an Tonis Grab und hielt eine Rede, in der er die Hilfsbereitschaft meines Sohnes lobte. Danach verschwand er, wegen dringender Geschäfte, wie er betonte.“ Margaretes Stimme klang zornig.
„Von wegen, dringende Geschäfte“, keifte die alte Kräuter-Kathi und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Abhauen wollt er. Hatte bestimmt schon seine Flucht geplant, der feige Hund.“
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Margarete.
„Was ich gesehen hab, hab ich gesehen.“
„Ja, Mensch, Kathi“, meldete sich Susanne. „Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Was hast du gesehen?“
„Er hat halt heute in aller Herrgottsfrühe drei schwere Koffer in sein Auto geladen. Das hab ich gesehen. Was das zu bedeuten hatte, könnt ihr euch jetzt wohl denken. Aber Gottes Strafe entgeht keiner!“
Susanne hatte genug erfahren für heute. Zielstrebig ging sie zur Tür, um den Saal zu verlassen. Noch einmal blickte sie zurück in die Runde der Anwesenden und konnte nur bestürzte, aber auch zornige Gesichter ausmachen. Keiner konnte die Kaltblütigkeit, mit der der Bürgermeister vorgegangen war, begreifen.
Noch heute werden die Bewohner des Dorfes jedes Mal an die nun ein Jahr zurückliegenden Geschehnisse erinnert, wenn eine Krankenschwester ihren ehemaligen Bürgermeister mit dem Rollstuhl durch die Straßen fährt. Er kann nur die vorwurfsvollen Gesichter in seiner Gemeinde nicht mehr ausmachen, da er bei dem Unfall erhebliche Hirnverletzungen erlitten hat.