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Sparks
Im Radio hatte der Meteorologe Regen für den Nachmittag angekündigt, doch der Tag war warm und ab und zu blinzelte die Sonne zwischen den dichter werdenden Wolken hervor. Es war ein Nachmittag im Juni und zahlreiche Passanten waren in der Fußgängerzone unterwegs. Schüler liefen lärmend in Gruppen durch die Straßen, voller Vorfreude auf die anstehenden Sommerferien. Eine Mutter versuchte ihre Zwillinge zu bändigen, die begeistert vor dem Schaufenster eines Spielwarenladens auf und ab liefen. In der Luft lag der Duft der leuchtend bunten Blumen, die von den städtischen Gärtnern vor dem Rathaus in großen Kübeln gepflanzt worden waren.
Sparks – so hieß das kleine Café am Marktplatz.
Bei gutem Wetter drängten sich die Gäste um die kleinen Tische mit farbenfrohen Tischdecken, die draußen standen. Jetzt waren nur wenige besetzt.
Eine junge Frau schlenderte unentschlossen darauf zu. Ein Kellner, der sie beobachtete, schätzte sie auf Mitte zwanzig, obwohl sie jünger wirkte. Sie war hübsch, aber keine Schönheit. Dunkle lange Haare fielen lose um das runde, fast noch kindliche Gesicht. Ihre Augen waren dunkel und ließen sie ein wenig verträumt aussehen. Am Café warf sie einen kurzen Blick zum Himmel. Ein warmer Sonnenstrahl ließ sie blinzeln und sie entschied sich für einen der Tische im Freien.
Von ihrem Platz aus konnte sie den Marktplatz überblicken. Gedankenverloren schweifte ihr Blick eine Weile über das lebhafte Treiben. An dem kleinen Brunnen gegenüber lehnte ein alter Mann. Das Mädchen fragte sich, wie alt er wohl sein mochte. Er hatte tiefe Falten im Gesicht, das Haar war hellgrau und er stand leicht gebückt. Von Zeit zu Zeit fasste er sich an sein Knie, als schmerzte es ihn, doch er setzte sich nicht hin. Er hatte eine Tasche bei sich, die aussah, als wäre sie mindestens ebenso alt wie er.
Den alten Mann hatte das Mädchen schon oft gesehen hatte. Er schien nie etwas anderes zu tun, als dort zu stehen und das Treiben auf dem Marktplatz zu beobachten. Vielleicht, so dachte sie, genießt er es, die Menschen zu sehen und das Leben zu beobachten, das für ihn schon fast zu Ende war.
Der Kellner trat an ihren Tisch und sie bestellte einen Cappuccino, ohne auf die Karte zu sehen. Sie schlug die Beine übereinander und sah dem Kellner nach, der zurück in das Café ging. Sie war einsam. Alleine saß sie im Café und wusste nicht, was sie mit dem Tag anfangen sollte. Es war keiner da, mit dem sie die ruhigen Nachmittagsstunden hätte teilen können. Doch die Einsamkeit fühlte sie kaum noch. Es war schon Gewohnheit geworden, die Tage allein zu verbringen. Eine Wolke, die vor der Sonne gehangen hatte, zog weiter und die junge Frau lehnte sich zurück und genoss die Wärme auf ihrem Gesicht.
Der alte Mann mit der Tasche ließ seinen Blick über den Platz und hinüber zum Café wandern und für einen Moment sah er das Mädchen an. Er spürte die traurige Ruhe, die von ihr ausging. Doch dann sprangen seine Augen zu einem jungen Mann, der mit schnellen Schritten am „Sparks“ ankam. Er sah ihm nach, wie er, leise vor sich hin pfeifend, kurz vor dem Café anhielt und dann zielstrebig auf einen freien Tisch in der Ecke zu ging.
Der Greis sah von dem jungen Mann zu dem Mädchen und nickte fast unmerklich.
Sie hatte kurz aufgeblickt, als der Mann an ihrem Tisch vorbei kam, hatte ihm kurz in das Gesicht gesehen. Als er ebenfalls in ihre Richtung blickte, hatte sie schnell ihre Augen abgewandt. Doch in der Sekunde, die sie ihn gesehen hatte, hatte sie vieles wahrgenommen: seine hellen Augen mit den langen Wimpern, seine etwas zerzausten Haare und leichte Fältchen an den Augenwinkeln, die ihr verrieten, dass er oft lachte. Er ging selbstsicher auf den Tisch in der Ecke zu und zwei Schulmädchen, die im Sparks ihre Cola tranken, guckten ihm schwärmend hinterher. Für einen Moment war sie ein wenig eifersüchtig, dass sie nicht so selbstsicher wie dieser junge Mann sein konnte. Ihr sahen keine Schuljungen bewundernd hinterher. Doch sie verwarf die Gedanken schnell. Was hätte sie davon ihr die Schuljungen hinterher pfiffen? Sie sehnte sich nach einem Mann, nicht einem Jungen. Nach einem Mann, der ihr bester Freund war, der sie liebte und mit dem sie die langen Nachmittage und Abende verbringen konnte. Sie wollte einen, der sie verstand, der akzeptierte, dass sie gerne Menschen beobachtete, ihnen aber nicht zu nahe kommen wollte.
Der alte Mann hatte sich tief über seine Tasche gebeugt und schien etwas zu suchen. Offensichtlich war die Tasche nicht sehr voll, denn er hatte beide Hände bis zu den Unterarmen in die Tasche gesteckt. Von Zeit zu Zeit hob er einen Gegenstand näher an sein Gesicht. Er war kurzsichtig und formte seine Augen zu schmalen Schlitzen, um besser sehen zu können.
Nach einer Weile schien er endlich das Gesuchte gefunden zu haben. Er schloss die alte Tasche und blickte zufrieden auf die kleine rechteckige Schachtel, die in seiner schwieligen Handfläche lag. Seine Finger waren plump und seine Hände sahen aus, als hätte er lange genug gearbeitet, um die ganze Welt zu erschaffen. Doch jetzt hielt er den kleinen Gegenstand mit größter Vorsicht. Es war eine Streichholzschachtel. Fast zärtlich strich er mit seinem großen Finger darüber. Dann öffnete er sie und holte mit zitternden Händen ein kleines, zerbrechliches Zündholz heraus.
Der junge Mann im Sparks verkroch sich hinter der Karte des Cafés. Der Kellner hatte schon ein einige Male herübergesehen, ob er bereit für die Bestellung wäre, doch offensichtlich konnte sich der vorher so zielstrebige Mann nicht entscheiden.
„Dabei müsste er die Karte kennen“, dachte der Kellner. Denn der Mann kam fast täglich hierher. Er war immer allein.
Das Mädchen sah sich im Café um. Ein älteres Ehepaar hielt sich die Hände, die in der Mitte ihres Tisches ruhten. Sie sprachen kein Wort. Ihr Schweigen war nicht unangenehm, sondern das stille Verstehen, dem ein langes gemeinsames Leben vorausgeht.
Zwei junge Väter versuchten ihre Kinder zu bändigen. Die Mütter der Kinder hatten wohl heute einen „kinderfreien Tag“ und hatten ihre Männer mit dem Nachwuchs losgeschickt. Etwas unbeholfen wischte einer der beiden seinem jüngeren Sohn den Mund ab, bevor dieser wieder unter den Tisch krabbelte, wo schon der ältere der beiden wie in einer Höhle saß. Die Tochter des anderen, ein kleines sommersprossiges Mädchen kippelte auf ihrem Stuhl.
Kinder hatte sie schon immer gemocht. Irgendwann, so überlegte sie, wollte sie auch so ein kleines Mädchen haben und freche Jungen, die sich unter dem Tisch versteckten. Voller Tatendrang und Fantasie, die ganze Unbeschwertheit der Kindheit.
Das Mädchen dachte an ihre eigene Kindheit. Damals war sie auch so unbeschwert gewesen, hatte mit den Freunden gelacht und gespielt. Und sie fragte sich, wann sie vergessen hatte, wie man auf andere Menschen zugeht.
Sie drehte ihren Kopf und sah zu dem alten Mann. Nachdem sie die Kinder betrachtet hatte, schien er ihr noch älter – so alt wie die Welt. In seinen Augen ruhte das Wissen von Generationen.
Als sie ihn ansah, schaute er zurück und lächelte. Es war ein zahnloses Lächeln, aber sie fand es schön, so voller Wärme.
Der Alte drückte den Streichholzkopf gegen die Seite der Schachtel und zog ihn über die Zündfläche. Ein kleiner Funken sprang von der Schachtel, doch das Streichholz blieb aus.
Der junge Mann – Das Mädchen dachte wieder an die Grübchen, die kleinen Lachfältchen an seinen Augen, den selbstsicheren Gang. Warum fiel ihr dieses Gesicht wieder ein? Warum konnte sie sich sein Lachen so gut vorstellen? Sie hatte ihn noch nie lachen sehen. Sie hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. Und doch hatte sie das Gefühl, er käme ihr irgendwie bekannt vor. Sie schüttelte den Kopf, um das Bild von dem Gesicht und den Grübchen daraus zu vertreiben.
Der junge Mann war nun für die Bestellung bereit. Er legte die Karte auf den Tisch und d. Der Kellner kam sofort. Wie jeden Tag bestellte er Milchkaffee und ein Croissant. Er bestellte immer das Gleiche, schon seit er das erste mal in das Sparks gekommen war.
Nachdem er seine Bestellung aufgegeben hatte, stützte er seine Ellenbogen auf den Tisch, legte seinen Kopf auf seine Hände und ließ den Blick über die Gäste im Café gleiten.
Der alte Mann sah enttäuscht auf sein Zündholz. Er steckte es zurück in die Schachtel und holte ein neues heraus. Mit einem Blick auf das Café riss er das Streichholz an der Schachtel an. Wieder kam ein Funken, doch auch diesmal blieb die Flamme aus.
Sie sieht zufrieden aus, dachte der junge Mann und betrachtete das Mädchen. Sie hatte sich zurückgelehnt und ihr Blick ging ins Leere.
Bestimmt denkt sie an ihren Freund, ihre Familie. Bestimmt genießt sie hier im Café ein paar ruhige Minuten, bevor sie wieder in das lebhafte Durcheinander ihres Alltags zurückkehrt. Ein kleiner Bruder, der gebändigt werden muss, eine kleine Schwester, die sie in die Geheimnisse des Lebens einweihen kann. Die Arbeit, die Uni, Freunde, mit denen sie die Abende verbringt.
Er spürte einen kleinen Stich. Er hätte auch gerne ein Leben wie sie. Eine Familie, Freunde, denen man alles anvertrauen kann. Jemanden an der Seite, der ihn wirklich kennt und auch ohne Worte versteht.
Das Mädchen sah zu ihm hin und schnell wendete er seinen Blick ab.
Der alte Mann hielt das Zündholz in der Hand und schüttelte traurig den Kopf. Mehr als einen oder zwei Funken gab es nicht her. Früher hatte er nie so lange gebraucht. Ein kleiner Funke, eine kleine Flamme und schon hatte das Feuer hell und lebhaft gebrannt.
Doch so schnell wollte er nicht aufgeben. Seine Finger griffen erneut in die Streichholzschachtel und suchten ein neues Hölzchen.
Die Wolkendecke hatte sich geschlossen. Bis zum Schluss hatte die Sonne noch einige Strahlen zur Erde schicken können, doch nun verdunkelte sich der Himmel.
Mehrmals hatte der alte Mann abgebrannte Streichhölzer aus der Schachtel geholt und immer wieder zurück gelegt. Endlich hatte er ein neues Streichholz gefunden. Der kleine Kopf leuchtete rot.
Die ersten dicken Regentropfen fielen auf seine Hände. Er sah besorgt hinauf zum Himmel und murmelte ein paar Worte, die nur er verstehen konnte.
Das Mädchen schreckte aus ihren Gedanken, als ein erster Regentropfen auf ihr Gesicht fiel. Schnell warf sie eine Blick nach oben. Der Himmel war schwarz. Die Regentropfen wurden größer und fielen immer schneller auf sie herab. Auf dem von der Sonne aufgeheizten Asphalt bildeten sich nasse Flecken. Die trockenen Stellen wurden immer weniger und schließlich war alles schwarz. „Der Himmel weint“, dachte sie und hätte am liebsten mitgeweint.
Der junge Mann sprang erschrocken auf, als die Regentropfen in einen Platzregen übergingen.
Die beiden Väter zogen ihre Kinder unter dem Tisch hervor und schoben sie vor sich her zur Eingangstür des Cafés. Das alte Ehepaar stand schnell auf und eilte zur Tür, ohne ihre Hände loszulassen. Die Schülerinnen nahmen ihre Taschen und ihre Cola und eilten ebenfalls in das Café.
Das junge Mädchen sprang auf, hielt sich ihre Tasche über den Kopf und schlängelte sich zwischen den Tischen durch.
Auch der junge Mann war aufgestanden. Kurz hielt er ratlos seinen Milchkaffee in den Händen, stellte ihn dann wieder auf den Tisch und ging den anderen Gästen nach.
Als sich das junge Mädchen kurz umblickte, sah sie den alten Mann, der versuchte, das Streichholz anzuzünden und gleichzeitig dabei die Hand schützend über die Zündfläche hielt. Der Regen schien ihn selbst nicht zu stören, er war nur besorgt, dass er wieder keine Flamme bekommen würde.
Schnell rieb er den Streichholzkopf über die Fläche. Ein Funken.
Das Mädchen drehte sich wieder zum Café um. Der junge Mann kam auf sie zugelaufen. Er ist hübsch dachte sie und vergaß ihre Traurigkeit.
Der alte Mann versuchte es erneut. Wieder ein Funken.
Der junge Mann sah das Mädchen an. Sie kam ihm so vertraut vor. Ihr könnte er seine Gedanken anvertrauen, sie würde ihn bestimmt verstehen.
Der alte Mann drehte den Streichholzkopf ein wenig. Er drückte die Streichholzschachtel wie einen Schatz an sich und schirmte sie mit seinem Körper vom Regen ab so gut er konnte. Dann schloss er kurz die Augen und zog das Zündholz erneut über die Seite der Schachtel. Eine kleine blaue Flamme schoss hoch.
An der Cafétür stauten sich die Gäste. Jeder wollte ins Trockene. Das Mädchen drängelte nicht. Der junge Mann stand dicht neben ihr und als er an der Reihe war, in das Café zu gehen, ließ er ihr den Vortritt. Er lächelte und die kleinen Lachfältchen an den Augenwinkeln zeigten sich.
Einer der kleinen Jungen lief wieder aus dem Café hinaus in den Regen und das Mädchen verlor kurz das Gleichgewicht, als das Kind sie anstieß. Der junge Mann lehnte sich schnell vor. Mit einer Hand hielt er die Tür fest, mit der anderen stützte er für eine Sekunde ihren Rücken, damit sie nicht fiel.
Die Wärme seiner Hand drang durch ihr dünnes Sommerkleid. Es prickelte auf der Haut und sie merkte, wie sie rot wurde.
Der Regen fiel nicht mehr in Tropfen, es war eine einzige Wassermasse, die vom Himmel goss. Der alte Mann sah glücklich auf das lodernde Hölzchen, doch eine Böe des aufkommenden Windes ließ schon im nächsten Moment die Flamme erlöschen.
Er hielt das schwarze, nasse Zündholz in seinen Fingern.
Schnell zog der junge Mann seine Hand zurück. Seine Handfläche kribbelte. Ihr Rücken war warm. Ihre nasse Haare rochen nach Shampoo.
Als sie ihm dankte, sah sie ihn mit ihren großen, braunen Augen an.
Sie ist nichts für dich, dachte er und nickte ihr kurz zu.
Nachdem er bei dem Kellner bezahlt hatte, drehte er sich um zur Tür.
Vollkommen durchnässt stand der alte Mann am Brunnen und suchte nach einem frischen Streichholz. Er öffnete die Schachtel und kippte alle Streichhölzer in seine Handfläche. Das Wasser sammelte sich in seiner Handfläche und ließ die Streichhölzer in seiner großen Hand schwimmen.
Immer wieder sah er jedes einzelne Hölzchen an, ob es noch zu entzünden wäre.
Der junge Mann verließ das Sparks. Einige Meter vor dem Café blieb er kurz stehen, als hätte er etwas vergessen. Der Himmel weint, dachte er und ging dann davon.
Das Mädchen stand an der Glastür des Cafés und sah ihm nach. Sie verstand nicht warum, doch es kam ihr vor, als würde ein guter Freund sie verlassen.
Der alte Mann ließ die Hand sinken und die abgebrannten Zündhölzer fielen in das Wasser auf dem Asphalt.