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Spaziergänge zwischen Grabsteinen
Sie war zufrieden mit ihrem Arrangement der Blumen, das ihr der Fröhlichkeit, mit der Frau Guyer ihr immer begegnet war, angepasst schien. Vor dem schlichten Holzkreuz waren die weissen Blüten des Rosenstocks in voller Entfaltung. Das üppig gelb, blau, rot, violett und rosa blühende der übrigen Blumen dazu bildeten eine farbenfrohe sommerliche Komposition. Morgen soll es schön aussehen, dann ist es ein Jahr her, dass Frau Guyer gestorben ist. Es war zu spät, als sie bemerkte, dass Frau Guyer ihr schon seit Tagen nicht mehr begegnet war und nachsehen ging. Sie lag hübsch gekleidet auf dem Bett wie friedlich schlafend, auf dem Nachttisch eine Vase mit weissen Rosen die trotz des warmen Klimas noch frisch wirkten. Ihr Hausarzt, der nur zwei Häuser weiter seine Praxis führt, kam sofort vorbei, Frau Guyer war auch seine Patientin. «Sie hat ihren Frieden gefunden», bemerkte er. «Alte Menschen vergessen manchmal zu trinken und bei anhaltend starker Hitze verkraften ihre Körper dies nicht.»
Von Weitem schon bemerkte sie die hagere Gestalt des Mannes, der ihr in letzter Zeit verschiedentlich aufgefallen war. Manchmal sass er auf einer Bank, der Haltung nach anscheinend schreibend. Zuweilen spazierte er zwischen den Grabsteinen, bei einzelnen sich bückend um an einer Blume zu riechen. Auch sah sie ihn schon an einer der Birken gelehnt, den Blick nach oben gerichtet, als beobachte er die Vögel, welche da herumhüpften. Den grossen Teich mochte er anscheinend sehr, dort erblickte sie ihn ab und zu, gedankenversunken vor dem aquarellartigen Bild der Seerosen. Sobald ein Windhauch das Wasser streifte, ein Kräuseln an der Oberfläche, im Schilfgürtel, in dem ab und zu Frösche quakten, ein leises Rauschen. Doch diesmal stand er direkt vor dem Grab von Frau Guyer, wie in Andacht.
Mit leisen Schritten näherte sie sich von hinten, sie wollte ihn nicht stören. Vielleicht war er ja ein entfernter Verwandter oder ein früherer Bekannter von Frau Guyer. Doch sie würde den Blumen Wasser geben und zum ersten Jahrestag an ihrer letzten Ruhestätte auch eine kurze Weile an sie denken. In fünf Meter Entfernung blieb sie stehen, den Rücken des Mannes vor sich. Er trug verwaschene hellblaue Jeans und ein weisses Hemd, seine leicht ergrauten Haare waren stoppelig kurz geschnitten. An der linken Seite baumelte eine lederne Umhängetasche. Als ob er ihren Blick verspürte, drehte er sich nach einem Moment um.
«Oh, entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht stören.» Seine Stimme klang angenehm, sein fein geschnittenes, aber ernstes Gesicht und die hellblauen Augen schienen die Milde seiner Worte zu unterstreichen.
«Sie stören mich überhaupt nicht, ich bin nur eine ehemalige Nachbarin von Frau Guyer. Ich wusste nicht, dass sie noch Angehörige oder nähere Bekannte hat. Bei ihrem Begräbnis waren nur einige Leute aus der Nachbarschaft zugegen.» Sie musterte ihn verstohlen, so nah hatte sie ihn noch nie gesehen. Er ist in seiner Erscheinung unauffällig und doch wirkt er nicht gewöhnlich, ging ihr durch den Kopf.
Ihre Worte lösten ein Lächeln bei ihm aus. «Mein Name ist Marc Dahinden,» stellte er sich vor. «Ich bin kein Verwandter oder Bekannter von Frau Guyer, ich wusste bis anhin nicht einmal, dass es sie gab. Ich sah die schöne Sommerbepflanzung und beim Lesen der Inschrift bemerkte ich, dass heute ihr Jahrestag ist.»
Eigenartig, ein Fremder, der vor einem ihm unbekannten Grab verweilt. «Marianne Bleibtreu», stellte sie sich vor.
Eine Weile standen beide stumm vor dem Grab, dessen Inschrift schlicht aufzeigte: Rosemarie Guyer, 25.09.1928 – 28.07.2008.
«Ich muss Ihnen merkwürdig erscheinen», begann er die Stille brechend. «Vor einigen Monaten war ich zur Beerdigung meiner Tante auf dem Zentralfriedhof in Wien. Vor meinem Rückflug nach Zürich wollte ich nochmals nachsehen, ob alles wie vereinbart arrangiert wurde. Es war ein düsterer Novembertag, der die melancholische Stimmung des Ortes noch betonte. Wie ich dem Ausgang zustrebte, fiel mein Blick im Vorbeigehen auf einen Grabstein mit zwei maskenartigen, erhabenen Gesichtern. Der Name auf dem Stein, ein seinerzeit berühmter deutscher Filmschauspieler, war mir aus meiner Jugend bekannt. Es war eine unverhoffte Begegnung, die ich nicht suchte, die mich aber berührte. Im späten Frühjahr kam ich zufällig an der Anlage hier vorbei, was mich an das Erlebnis in Wien erinnerte. Aus Neugierde betrat ich diesen Ort der Stille und fand eine wunderbare Parkanlage. Ich hielt Friedhöfe stets für etwas Beklemmendes, eher Abschreckendes in ihrer Endgültigkeit, doch entdeckte ich hier eine friedliche Idylle. Dass diese den Toten gewidmet ist, erscheint mir schon magisch, eine letzte Ruhestätte in einem Paradiesgarten. Manche Grabsteine erwecken in mir den Eindruck, sie erzählten eine Geschichte, legten Zeugnisse ab von den dahinter stehenden Schicksalen. Manchmal kam ich auch mit Leuten ins Gespräch, die mir das eine oder andere dazu berichteten. Es ist, als würde man als Gast ein fremdes Haus betreten und die Menschen darin kennenlernen.»
Mit Verwunderung hatte Marianne Bleibtreu ihm zugehört. Ein Mensch, der sich Zeit nahm, um sich über die Schicksale von ihm unbekannten Verstorbenen Gedanken zu machen, war ihr noch nie begegnet. Sie stimmte ihm jedoch zu, dass hier eine herrliche Parkanlage war, die viel Raum zur Besinnung in der Natur gewährte. Es ist zutreffend, man sollte diese Idylle viel mehr wahrnehmen, das Zauberhafte darin entdecken, verweilen und sich nicht dagegen sträuben, da die Verstorbenen zugegen sind. Es war wohl dieser Gedanke, wie sie sich später zu erinnern vermeinte, der sie veranlasste, ihm die trotz Altersbeschwerden stets fröhliche Frau Guyer zu beschreiben und wie sie vom Leben Abschied nahm.
Sie sah ihn an einem andern Tag nur noch einmal von fern, auf der Bank sitzend schreiben, als sie die Blumen mit Wasser versorgte, dann begegnete er ihr nicht mehr.
Es war später Herbst, als Marianne Bleibtreu beim Durchblättern der Tageszeitung auf das Foto von Marc Dahinden stiess. Sein hageres Gesicht, die leicht ergrauten Stoppelhaare, ganz so, wie sie ihm vor wenigen Monaten begegnet war. Verwundert las sie den Text darunter. Ein neues Buch von Marc Dahinden war erschienen. Natürlich, wie konnte ich es damals nicht bemerken, bei den Gesprächen mit ihm war seine Feinsinnigkeit doch kristallisiert, er ist der Schriftsteller. Sein Name ist zwar nicht alltäglich, doch genug verbreitet um nicht aufzufallen. Das neue Werk, welches in der Edition Pegasos erschien, führte den Titel »Zwiegespräche mit längst Vergangenen«. In dreizehn Essays erschliesse er eine ihm typische Atmosphäre von Poesie und besinnlicher Ruhe, wie sie jedermann auch selbst finden könne, die in der Hektik des Lebens jedoch oft nicht wahrgenommen würde. Ein Stundenbuch um die Zeit für einen Moment anzuhalten.