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Speyer
München Pasing. Auf seinem Weg durch den Bahnhof quält sich Speyer von Süden nach Norden durch das Gedränge. Sein Mantel ist durchnäßt, über der Stadt entlädt sich ein Gewitter.
Speyer ist hellwach und hat Gänsehaut. Bratfett. Geruchsmoleküle brüllen auf die Nervenenden seines fünften Sinnes ein und erobern die Poren seiner Haut. Eine Minderjährige zieht an ihm vorbei und hüllt ihn in eine Wolke penetrant lauten Parfüms. Der Schweiß der Unternehmensberater, Sachbearbeiter, Abteilungsleiter und Konzertkartenkäufer zeugt von Hast, Effizienz und schnell eingeschobenem Mittagessen. Ein Kind an der Hand seiner Oma schreit. Im Gewölbe herrscht ein latenter Zustand der Panik.
Während ein Güterzug über dem Tunnel hinwegrollt und die Gleise schleift, bittet eine neblige Lautsprecherstimme die verehrten Fahrgäste um ihre Aufmerksamkeit. Sie geht im Bremsengekreisch unter, stößt sich mehrmals an den Kachelwänden wie an Eisbergen und verhallt unbeachtet in den blubbernden Akkorden einer alten Drehorgel.
Leuchtreklame beißt sich in Speyers Blickfeld, um seinem Fleisch unbekannte Wünsche zu entreißen und sie ihm vor Augen zu führen, so lange sie noch zucken. Von einer Wand beugen sie sich über ihn und spielen mit ihm Katz und Maus, lecken ihn von Kopf bis Fuß ab, überfluten ihn, überziehen seinen Körper mit einem Film froher Botschaften, um ihn zu ersticken. Durch sämtliche Öffnungen dringen sie ein in seinen Körper, nisten sich in Lunge und Rückenmark ein und schwängern sein Gehirn. Eutrophierung. Erosion der karstigen Landschaft unter der Schädeldecke. Speyer ist ein Krisengebiet.
Trotz des Gedränges schließt Speyer die Augen, in der Annahme, daß die ihm entgegenschwappende Menschenmenge seinen geraden Schritten ausweicht, um durch einen Zusammenprall nicht ein paar wertvolle Sekunden des Lebens sinnlos zu vergeuden. Das klappt ganz gut. Speyer kennt diesen Bahnhof, einhundertneunundsiebzig Schritte sind es durch die Halle, und am Ende führen neun Stufen zu einem Paar nebeneinanderstehender Glastüren hinauf. Er zählt die Schritte in der Dunkelheit und genießt die zeitweise Ruhe auf dem optischen Kanal, so daß ihn das Dudeln der Drehorgel links beinahe angenehm erscheint, als es an ihm im Schrittempo vorüberzieht. Nebenher versucht er im Geiste zu dichten.
„Alas, my dear ...“
Mit geschlossenen Augen durch einen Bahnhof zu schreiten ist ein Privileg. Speyer fühlt sich gleich ein paar Zentimeter größer, weil er einen entscheidenden Vorteil genießt. Im Unterschied zu einem, der den Rücken gebeugt und die Augen starr auf den Boden gerichtet hält, um sich vor den in Kopfhöhe umhersausenden Botschaften zu ducken, bewegt sich Speyer unbekümmert durch das Schlachtfeld der Werbebudgets hindurch. „Eigentlich“, denkt er, „ist es doch ganz gut, daß ich kein Geld habe, das ich ausgeben könnte“ und fügt etwas inkonsequent hinzu: „Ob ich wohl die Innenseite meiner Augenlider als Werbefläche vermieten könnte? Denkbar wärs ja. In ein paar Jahren wäre die Kybernetik sicherlich soweit.“ Speyers linke Fußspitze stößt auf Stein; er hat die Treppe erreicht, öffnet die Augen und steigt hinauf, um das Gebrodel hinter sich zu lassen. Durch eine der Glastüren tritt er ins Freie und atmet ein. Es gießt wie aus Kannen. Speyer trieft.
Schwarzes Wasser quillt aus einem Gulli, es riecht nach feuchter Erde. Speyer biegt in eine Seitenstraße ein, überquert bei Grün eine Kreuzung und schwenkt dann in eine Allee.
Naß bis auf die Haut beobachtet er das Wasser im Rinnstein, wie es fließt und dabei Laub und aufgeweichte Zigarettenstummel mit sich reißt. Wolken hängen dunkel berstend über der Stadt.
Kybernetik. Sie wird sicher noch eine Rolle spielen. Den Gedanken verscheuchend fügt Speyer weiter Verse zusammen. Verse, wie er schon viele gereimt hat für seine Freundin. Heute auf Englisch.
„Alas, my dear, something I miss -
I fear it might be thy sweet kiss ...“
Das ärgert ihn plötzlich. Englisch, warum eigentlich englisch? Das fängt ja wieder mal voll pathetisch an. Noch dazu auf alt gemacht, ein ganz banales Shakespeareversatzstück. Naja, egal. Vielleicht findet sies ja witzig. Der Regen läßt nach, das Donnergrollen wirkt jetzt ferner.
Speyer sperrt die Haustür auf. Die Schuhe seiner Vermieter stehen nicht an ihrem Platz, es ist niemand da. Er hängt den Mantel und das meiste seiner übrigen Kleidung zum Trocknen in die Waschküche und geht in sein Zimmer. Ein Prozessorlüfter summt leise und gleichmäßig. Speyer greift sich ein Hemd und eine Hose aus dem Schrank, welche er anzieht, setzt sich an den Schreibtisch und tippt die Maus kurz an. Der Monitor flackert einen Moment auf, die Bildröhre beginnt Elektronen gegen den Schirm zu feuern.
Von einhunderteinundzwanzig Emails werden einhundertsechzehn sofort gefiltert, fünf weitere löscht Speyer manuell. Einige Minuten sitzt er brütend vor dem Bildschirm, dessen Licht fahl auf sein Gesicht fällt. Schließlich tippt er hastig ein paar Zeilen ein und adressiert sie an seine Freundin. Ein über die Maus ausgesandter Elektroimpuls bewirkt eine Reihe von Vorgängen, welche schließlich in folgendem Dialog münden:
Einaktiges Drama
ZEITGEIST, ein Server
ZEITGEIST < 220 mail.*********.** SMTP Zeitgeist Mailserver
DANTE > HELO mail.*********.**
ZEITGEIST < 250 Ok
DANTE > MAIL FROM: < speyer@*********.** >
ZEITGEIST < 250 Ok
DANTE > RCPT TO: < da_grl@*********.** >
ZEITGEIST < 250 Ok
DANTE > DATA
ZEITGEIST < 354 End data with .
DANTE > From: < speyer@*********.** >
DANTE > To: < da_grl@*********.** >
DANTE > Subject: Für Dich.
DANTE >
DANTE > Alas, my dear, something I miss -
DANTE > I fear it might be thy sweet kiss.
DANTE > Thou art, oh, so FUNKY!
DANTE > I swear by Jove: I love thee.
DANTE >
DANTE > .
ZEITGEIST < 250 Ok
DANTE > QUIT
ZEITGEIST < 221 Bye
Mit einem Ächzen lehnt sich Speyer zurück. Mal abwarten, wies ankommt. Das Internet ist schon eine feine Sache. „Vernetzung“ ist eines der Zauberworte dieser Zeit. Häufig tauscht Speyer Ideen mit Menschen aus, die Tausende von Kilometern entfernt leben und arbeiten. Sie kommunizieren fast täglich mit ihm, ohne daß er sie jemals zu Gesicht bekäme. Speyer fällt auf, daß er in vielen Fällen lediglich in Kontakt mit einigen ihrer Gedanken kommt. Noch nie hat er sich aber darüber Gedanken gemacht, was und wie diese Menschen eigentlich fühlen.
„Kommunikationszeitalter ...“ Speyer läßt das Wort genüßlich auf der Zunge zergehen und lächelt spöttisch. Aus seinem Hinterkopf kichert ein kleiner grüner Zweizeiler mit der Stimme von Gustaf Gründgens:
„Bin täglich vierundzwanzig Stunden
mit der ganzen Welt verbunden!“
„Was kommunizieren wir eigentlich? Kommunizieren wir überhaupt?“ führt Speyer den Gedanken fort. „Seit einigen Jahren arbeitet man an der globalen Vernetzung geistiger Ressourcen. Das Internet repräsentiert insofern den derzeitigen Stand dieser Entwicklung. Die Frage ist, ob das nicht ein Holzweg ist. Nicht umsonst ist das Internet so voller ... Müll ...“ Er schnauft erschöpft. Der Gang nach Hause hat ihn doch etwas geschlaucht.
„Könnte man nicht stattdessen eine globale Vernetzung der Herzen anstreben? Ginge das? Was würde dabei herauskommen?“
Speyer fällt hierzu nichts ein. Er überläßt den Rechner sich selbst und geht duschen. Als er durch die Tür tritt, wirft der Bildschirm auf seinen Rücken ein fahles Licht.