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Spießgesellen
Von drei Seiten umschloss ihn turmhoch der dichteste Dschungel, den er je betreten hatte. Nur direkt vor ihm tat sich eine große Lichtung auf. Seine vom Schweiß ausgelaugten Augen versuchten angestrengt, im spärlichen Mondlicht irgendwelche Strukturen zu erkennen. Ein großes Haus, das mitten im Urwald völlig deplatziert wirkte, und einige Gestalten, die sich dagegen lehnten oder langsam hin und her gingen. In der Schwüle der Nacht war es sehr ruhig, aber nur, wenn man sich nicht auf die Geräusche des Dschungels konzentrierte. Dann wurde aus dem beständigen leichten Säuseln ein Konzert von tausenden Tierarten, sie sich zu dieser späten Stunde herumtrieben, um Beute zu jagen oder sich zu paaren. Obwohl Nik seine Haut dick mit feuchter Erde eingerieben hatte, fanden einige der kleineren Jäger immer wieder Gelegenheit ihre dickflüssige, duftende Beute zu erwischen. Dutzende Mückenstiche hatten seine junge Haut in eine rotgepunktete, raue Oberfläche verwandelt.
Neben ihm kauerten einige Männer, die er als seine Freunde, Kameraden oder Arbeitskollegen bezeichnet hätte, auch wenn keiner der Begriffe der Art von Beziehung, die sie untereinander hatten, gerecht wurde. Spießgesellen, dachte er, dieser altmodische Ausdruck kam der Wahrheit vielleicht noch am nächsten. Alle vier lagen auf der Lauer, warteten den richtigen Zeitpunkt ab, den es wahrscheinlich nicht geben würde. Egal wie lange sie warteten, an ihrer Unterzahl und unterlegenen Ausrüstung würde sich nichts ändern. Einzig die undurchdringliche Nacht gab ihnen einen Vorteil. Sie hatten die unbefestigten Straßen und deren Sprengfallen gemieden und waren quer durch den Dschungel gestapft, bis sie die Lichtung mit ihrem Zielobjekt erreicht hatten. Beim Angriff würden sie sich so lange wie möglich bedeckt halten, schnell töten und sich wieder in den Dschungel zurück ziehen. Nik, der unerfahrenste unter ihnen, hatte noch nie einen Menschen absichtlich verletzt oder umgebracht. Und als vermutlich einzigem der Vier würde es ihm kein Vergnügen bereiten.
Laszlo, der links neben ihm lag, tippte ihm auf die Schulter und zeigte in eine bestimmte Richtung. Nik folgte dem Blick. Eine der Wachen neben dem Haus, in dem ihre Opfer ahnungslos schliefen, bewegte sich plötzlich auf sie zu. Der Mann ging ohne Eile und hatte auch seine Waffe nicht gehoben. Nik legte sich flach auf den Bauch und entsicherte die abgenutzte Kalaschnikow. Der Schweiß floss ihm noch dichter als zuvor über die Stirn. Falls sie den Mann erschießen mussten, wäre ihr Überraschungsangriff gescheitert. In dem Fall würden sie den Auftrag abbrechen und hoffen, durch den dichten Dschungel zu entkommen. Die Rache von Isabel und ihrem Bruder Sebastián würden dann vermutlich die Arbeiter, oder besser gesagt Sklaven, der Hacienda zu spüren bekommen. Die Leute, die Niks Trupp angeheuert und vertraut hatten.
Der Wächter war bis auf drei Meter an sie herangekommen und stehengeblieben. Nik konnte deutlich die Reflektion des Mondlichts an seiner automatischen Waffe sehen und die Ausdünstung des Mannes riechen. Noch immer baumelte das Gewehr nachlässig an seinem Schultergurt, und nichts deutete darauf hin, dass etwas sein Misstrauen geweckt haben könnte. Plötzlich hörte Nick ein kurzes, reißendes Geräusch. Er musste sich mit aller Kraft zwingen, nicht augenblicklich aufzuspringen. Dann hörte er ein Plätschern und entspannte sich. Es war ihm peinlich, wegen eines pinkelnden Mannes fast alles verdorben zu haben. Nach einer recht langen Zeit, die auf eine außerordentlich große Blase oder ebensolchen Bierkonsum hindeuten mochte, schloss die Wache die Hose wieder, spuckte in die Hände und rieb sie gegeneinander, in dem Versuch sie zu reinigen. Nik atmete lautlos durch. Gleich würde der Wächter zum Haus zurück kehren, und nichts wäre geschehen. Sein Blick fiel auf Perez, der rechts von ihm lag. Die Muskeln des wohl brutalsten Söldners der Truppe zitterten vor Anspannung. Er war rot angelaufen und hatte zudem ein unangenehmes Glänzen in den Augen. Kein Zweifel, Perez wollte Blut sehen. Noch ehe jemand etwas dagegen unternehmen konnte, sprang er auf, riss sein Kampfmesser aus der Scheide und schnitt dem Mann die Kehle durch. Er wartete nicht darauf, dass er umfiel, sondern zog den Sterbenden lautlos zu Boden. Sein Kopf kam direkt neben Nik zu liegen. Die breite Schnittwunde sah entsetzlich aus. Das Blut floss nicht, es spritzte druckvoll aus dem Hals. Der Mann röchelte. Seine weit aufgerissenen Augen fanden Niks, der sich abwenden musste. Nach einigen Sekunden war es vorbei. Nik war sich in diesem Moment sicher, dass Abenteuerlust auch zu weit gehen konnte.
Mit Abenteuerlust hatte alles angefangen. Als eher ungewöhnlicher Rucksacktourist hatte er viele Monate lang nur die vom Fremdenverkehr unberührtesten Flecken Mittel- und Südamerikas bereist. Nachdem er Entführungsversuche, Schlangenbisse, Drogenbarone, wütende Mayastämme und die Bruchlandung des wohl ältesten noch im Einsatz stehenden Propellerflugzeugs er- und überlebt hatte, dachte er nicht, dass es noch besonders aufregende Dinge zu erleben gab. Eines Tages rettete er einem Mann, der mit seinem Jeep von einer zusammenbrechenden Brücke in einen reißenden Fluss gestürzt war, vor dem Ertrinken. Der Mann war Laszlo, der charismatische Anführer der bandoleros sucio. Aus Dankbarkeit bot er Nik einen trabajo an. Da ihm sowieso langsam das Geld ausging, dachte Nik, es wäre an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren.
Anfangs bekam er vom eigentlichen Gewerbe der bandoleros nicht viel mit. Er reiste mit ihnen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, während er Botengänge und Schreibarbeiten machte und sich um die Finanzen kümmerte. Die restlichen Mitglieder der Truppe waren zwar durchwegs komische Kauze, aber wie Laszlo verfügten sie über derben Humor und einen gewissen Charme. So freundete sich Nik mit der ganzen Truppe an. Es blieb nicht aus, dass er bald begriff, dass es sich bei der "Putztruppe", wie sie sich selbst nannten, um bezahlte Söldner handelte. Sie wurden von den Ärmsten der Armen angeheuert, an Orten, die von korrupten Regierungen ignoriert und von überforderten Behörden vergessen worden waren. Räuberbanden, Sklavenhändler, Drogenbosse die Anbauflächen benötigten und dafür ganze Dörfer ausbeuteten – Armut und Unterdrückung gingen Hand in Hand. Die einzige Hoffnung für solche Menschen waren oft die Söldner, für deren Bezahlung die Dörfer häufig jahrelang Teile der Ernte unaufällig beiseite schufen und ihre letzten, gut verborgen gehaltenen Besitztümer verkauften.
Nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, hatte Nik kurz überlegt, das Weite zu suchen, aber inzwischen war er ein voll akzeptiertes und integriertes Mitglied der bandoleros. Er hatte während seiner Reisen gar nicht gemerkt, wie sehr es ihm gefehlt hatte, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Vor langer Zeit von den Eltern entfremdet, fand er in den Söldnern eine Art zweiter, wenn auch äußerst ungewöhnlicher Familie. Und auch wenn er es sich selbst immer wieder einreden musste, hatte er doch das Gefühl, bei einer guten Sache dabei zu sein.
Seine große Bewährungsprobe kam, als eines der Mitglieder bei einem Auftrag sein Leben verlor und Laszlo nach einigen Tagen der Trauer einen Nachfolger benötigte. Nik hatte zwar in seinem Leben ein paar Mal eine Waffe abgefeuert, verfügte aber über keine echte Kampferfahrung. Laszlo lehrte ihn alles über sein Handwerk. Er selbst hatte jahrelang in einer Spezialeinheit gedient, bevor er wegen eines Vorfalls, über den er nie sprach, entlassen worden war. Danach hatte er sich sozusagen selbstständig gemacht und seine Truppe aus alten Armeekameraden, ehemaligen Häftlingen und Vertriebenen zusammengesucht. Unter ihnen lernte Nik tarnen, schleichen und schießen – eine vollständige Guerillaausbildung innerhalb weniger Wochen.
Der Einsatz auf der Hacienda war der erste Auftrag, in dem er nicht als Sanitäter oder Lastesel gebraucht wurde, sondern als vollwertiger Kämpfer. Die schwere Waffe in seinen Händen hatte Miguel, dem getöteten Teammitglied gehört. Als Nik sie bekommen hatte, hatte er es vermieden darüber nachzudenken, für wieviele Menschen der schmutzige Lauf der letzte Anblick in ihrem Leben gewesen sein musste.
Das Team konnte nun nicht länger warten. Die anderen Wachen hatten vom gewaltsamen Tod des einen nichts mitbekommen, aber in wenigen Minuten würden sie misstrauisch werden. Auch die stärkste südamerikanische Blase lief nicht für eine viertel Stunde. Von Niks Position aus konnte er noch drei Wachen sehen. Wieviele sich hinter dem Haus oder im Inneren befanden, wusste er nicht. Laszlo schlug die Faust zweimal in Richtung Boden, das Zeichen zum Angriff. Nik, Laszlo und Perez robbten im Schutz der Dunkelheit zu einigen leeren Ölfässern, die zwischen dem Haus und ihrer Position standen. Alessandr, der beste Schütze des Teams, blieb zurück und legte sein Gewehr an. Nik konnte sehen, dass sich zwei der Wachen inzwischen auf den Boden gesetzt hatten und leise miteinander sprachen. Einer zündete sich eine Zigarette an und bot auch dem anderen eine an. Der dritte Mann, den er von seinem Versteck aus nicht sehen konnte, schien als einziger halbwegs aufmerksam zu sein. Von Zeit zu Zeit sah er den Leuchtkegel seiner Taschenlampe aufblitzen. Die Wache rief plötzlich eine kurze Frage in Richtung des Dschungels. Niks Spanisch war war nicht sehr gut, aber es war klar, dass der Ruf dem getöteten Mann gegolten hatte.
Nach wenigen Augenblicken hörte Nik die Schritte des Wächters, die rasch näher kamen. Der Mann würde auf der Suche nach seinem Kameraden genau an ihrem Versteck vorbei gehen. Niks Atem beschleunigte sich, gleichzeitg versuchte er, nicht das geringste Geräusch zu machen. Eine Schlange, die in diesem Moment über sein Bein kroch, machte es ihm nicht leichter. Der Wächter musste jetzt fast auf ihrer Höhe sein. Nik sah, dass Perez das Kampfmesser in der Hand hielt. Er presste den Griff so fest, dass die Venen seines Unterarms angeschwollen waren. Jede Faser seines Körpers war konzentriert, bereit hochzuschnellen und zuzustechen. Zusätzlich zielte Laszlo mit dem Gewehr auf die Stelle, an der der Wächter erscheinen würde. Doch das Schrittgeräusch verstummte. Der Mann war direkt vor den Ölfässern stehen geblieben. Nik hörte ein kaum wahrnehmbares Plopp-Geräusch, danach erklangen erneut die Schritte. Allerdings rannten sie diesmal in die Gegenrichtung. Laszlo brüllte etwas und stürmte von den Fässern weg. Nik rannte ihm augenblicklich nach. Der langsamere Perez schaffte es nur wenige Meter weit, bevor die Granate explodierte. Sein Körper verschwand in einer Wolke aus zerfetzten Blechteilen, Gras und seinem eigenen Blut. Nik wurde von der Wucht der Explosion zu Boden gerissen. Er überschlug sich und blieb in einem Gebüsch liegen. Nach wenigen Sekunden hatte er den ersten Schock verdaut. Ein kleiner Splitter hatte seinen Hals knapp verfehlt und steckte unterhalb des Schlüsselbeins in seiner Brust. Er hatte Abschürfungen ganzen Körper und sein Schienbein war schmerzhaft auf eine Baumwurzel geknallt. Ansonsten schien er unverletzt zu sein. Er nahm Deckung hinter dem großen Baum und sah sich fieberhaft nach Laszlo um, als ringsum Schüsse und Schreie ertönten. Scheinbar hatte Alessandr zumindest eine der Wachen ausschalten können. Die anderen hatten sich in das Innere des Hauses zurückgezogen und schossen durch die Fenster Salven auf seine Position. Dieser Übermacht konnte Alessandr unmöglich standhalten.
Nik entdeckte Laszlo. Er kroch verletzt und vollkommen ungedeckt mehrere Meter von ihm entfernt durch das Gras. Zwei der Wachen sahen ihn und legten ihre Waffen an. Nik riss das Gewehr hoch und drückte den Abzug durch. Er deckte die Fenster des Hauses mit einem Kugelhagel ein, während er gegen den Rückstoss der Waffe kämpfte. Er traf keinen der Schützen, aber zumindest gingen sie in Deckung und verschafften ihm damit einige Sekunden Zeit. Er sprang zu Laszlo und zog ihn unter Aufbietung aller Kräfte in seine Deckung. In diesem Moment setzte das Feuer aus dem Inneren des Hauses wieder ein. Nik flogen die Kugeln buchstäblich um die Ohren. Splitter des Baumes regneten zu beiden Seiten auf ihn herab. Noch nie zuvor war er unter direktem Feuer gestanden. Der Lärm war ohrenbetäubend. Am liebsten hätte er sich in der Erde vergraben, um erst herauszukommen, wenn die letzte Kugel verschossen war. Er war nicht einmal in der Lage, Laszlo zu untersuchen. Er konnte nur sehen, dass er von der Granatenexplosion schlimm erwischt worden war. Aus seinem Hemd quoll dickes Blut. "Nik", sagte Laszlo schwach, aber darum bemüht, den Lärm des Gewehrfeuers zu übertönen, "was tust du hier noch. Zieh Leine, der Auftrag ist gescheitert."
"Und was ist mit dir, el comandante?" stieß Nik hervor.
"Ich bin auch gescheitert, hab's versaut. Ich bleib hier und versuch die pendejo von dir abzulenken." Er wollte seine Pistole heben, aber Nik sah, dass ihm schon das Atmen schwer genug fiel. Mit einem Stöhnen gab Laszlo auf und lies die Waffe fallen. "War ein verfickter erster Einsatz für dich, Gringo, was? Verschwinde jetzt endlich!" Nik kämpfte mit sich. Er war klug genug zu wissen, wann es aussichtlos war, den Helden zu spielen. Aber auch wenn er Laszlo zurücklassen würde: Konnte er es riskieren, die Deckung zu verlassen? Würde er es mit seinem schmerzenden Bein durch den mörderischen Dschungel schaffen? Plötzlich fiel ihm etwas auf. Das Feuer in seine Richtung war fast versiegt. Nur gelegentlich krachte noch ein Schuss in seine Deckung oder an ihm vorbei. Er wagte es, einen Blick in Richtung des Hauses zu werfen, und bemerkte den Grund. Alessandr hatte seine sichere Deckung aufgegeben, um seine Kameraden zu retten. Hinter dem Motorblock von Isabels teurem Geländewagen kauernd lieferte er sich mit den zwei noch lebenden Wächtern eine Schießerei aus nächster Nähe. Der Wagen war vollkommen durchlöchert und Alessandr schien gerade die Munition auszugehen. Aus seinem verrußten Gesicht war jede Zuversicht gewichen, die ihn sonst auszeichnete. Nik fasste einen Entschluss. Er schrie Alessandr eines der Codewörter der bandoleros zu. Der antwortete mit einem grimmigen Kampfschrei und gab jede Vorsicht und Sparsamkeit in Bezug auf seine letzte Munition auf. Statt einzelner gezielter Schüsse spuckte sein Gewehr nun automatisches Feuer in Richtung der Fenster. Die Gestalten dahinter suchten Schutz, als der Mauerputz um sie herum weg spritzte. Nik rannte mit aller Kraft los, ignorierte den Schmerz und die Angst. Als das Gewehr seines Kameraden mit der letzten verschossenen Patrone verstummte, hatte er das Haus erreicht. Er kauerte sich neben eines der Fenster. Als einer der Wächter wieder aus der Deckung auftauchte, um seinen Gegner endgültig zu erledigen, wurde er von Niks Gewehr überrascht, das ihm direkt vor den Augen hing. Nik ging kein Risiko ein, wartete nicht ab, ob sein Gegner sich vielleicht ergeben würde. Das Gesicht des Mannes explodierte unter den schweren Projektilen der Waffe. Auch der zweite Wächter war zu langsam, um auf die neue Bedrohung reagieren zu können. Er wurde in die Brust getroffen und starb ebenfalls.
Schwer atmend hielt Nik das Gewehr noch eine Minute in das Innere des Hauses gerichtet. Adrenalin durchströmte ihn und verdrängte den pochenden Schmerz in seinem Bein und seiner Brust. Es gab keine Gegenwehr mehr. Fünf tote Männer lagen, teils schmerzverzerrt, teils mit leeren Gesichtern, in ihrem eigenen Blut.
Alessandr tauchte neben ihm auf. Die beiden blickten sich an, sagten aber kein Wort. Wie in Trance ging Nik zu der Stelle, an der er Laszlo zurück gelassen hatte. Bleich, aber mit einem friedlichen Ausdruck in den Augen lag er noch an derselben Stelle hinter dem verwüsteten Baum. Er war verblutet. Ein leichter Tod, bei dem man langsam in eine Ohnmacht gleitet, aus der man nicht mehr aufwacht.
Nik war von der Schießerei, der Todesgefahr, seinen beiden Morden und schließlich dem Tod seines besten Freundes wie gelähmt. Es gab aber noch eine Sache zu tun. Eine Schlange konnte man am einfachsten töten, indem man ihr den Kopf abschlug. Oder in diesem Fall, die beiden Köpfe. Genau dafür hatte ihn Laszlo hier her gebracht, genau dafür war er gestorben. Langsam ging Nik zum Haus zurück. Er wusste, dass Alessandr Isabel und Sebastián nicht entkommen lassen würde, und lies sich Zeit. Jahrelang hatten die beiden Geschwister die Bevölkerung von Arruba unterdrückt. Früher hatte sie sich selbst versorgt, den übrigen Teil der reichen Ernte verkauft und gut gelebt. Dann waren die Beiden gekommen. Mit ihren bewaffneten Untergebenen hatten sie die Leute dazu gezwungen, fast die gesamte Landwirtschaft auf den Anbau von Coca-Sträuchern umzustellen, aus denen Kokain gewonnen wurde. Die Menschen arbeiteten mehr als 15 Stunden am Tag. Isabel und Sebastián strichen den gesamten Erlös am Verkauf ein.
Nik betrat das Haus. Er ging von Raum zu Raum, sah sich in Ruhe all den Luxus inmitten des Urwalds an. Das Blut auf seiner Brust war längst getrocknet, als er seine beiden Zielobjekte fand. Alessandr hielt sie mit entsichertem Gewehr in Schach.
Isabel sah jünger aus, als Nik gedacht hatte, jedenfalls unter dreißig. Sie lag wimmernd auf dem Fußboden. Ihre Augen waren von einem Sturzbach von Tränen gerötet. Ihr Bruder kniete neben ihr und hielt sie im Arm. Er schien etwa zehn Jahre älter zu sein. Beide zitterten vor Angst.
"Warum tut ihr das alles?" fragte Sebastián. Nik musste konzentriert zuhören, um ihn mit seinem Akzent zu verstehen. "Pierro Agnosta", sagte Alessandr, "kennt ihr ihn? Als er vor längerer Zeit auf dem Markt von Abájo war, um Dünger für eure wunderbaren Pflänzchen zu kaufen, ist er unserem Chef über den Weg gelaufen. Besser gesagt, wir haben dafür gesorgt, dass er ihm über den Weg läuft. Jeder in der Gegend weiß über euch Bescheid, aber alle hatten zu viel Schiss, euch in die Suppe zu spucken. Zum Glück kann man unseren Schiss wirksam mit Geld bekämpfen.Wir sind immer wieder erstaunt, welche Summen noch die Ärmsten der Armen auftreiben können, wenn sie verzweifelt genug sind. Auch wenn Leute wie ihr versuchen, ihnen noch den letzten Grashalm abzunehmen, geben sie ihn lieber uns als euch. Also einfach gesagt, wir tun das alles für die Kohle."
"Wir zahlen euch das dreifache von dem, was diese Leute aufbringen können!" rief Sebastián.
"Vergiss es, hombre. Neben unserer Vorliebe für Pesos haben wir noch so eine blöde Eigenschaft, nennt sich Ehrgefühl. Ihr habt schon genug Schaden angerichtet. Außerdem denke ich, dass ihr in eurem Haus noch ein paar hübsche, wertvolle Sachen für uns habt."
Nik runzelte die Stirn. Ein Dieb und Leichenfledderer wollte er eigentlich nicht sein.
"Aber wir haben die Leute doch beschützt! Seit wir hier sind wurden sie nicht mehr überfallen. Keine der Frauen ist vergewaltigt oder verschleppt worden, und kein Mann wurde mehr von einer Räuberbande umgebracht."
Alessandr zündete sich eine Zigarette an. Sein Gesicht drückte Verachtung aus. "Jetzt willst du also noch der Heiland persönlich sein. Mir wird das langsam zu blöd. Hey Gringo, hast du Lust die Ärsche selber abzuknallen?" fragte er Nik. "Vorher hast du das ja schon ganz ordentlich gemacht." Nik trat einen Schritt nach vorne.
"Wartet!" rief Sebastián, dessen Gesichtsfarbe inzwischen ins violette übergegangen war. "Ich... ich kenne dich Jungen doch! Verdammt noch mal, du heißt doch... warte... jetzt weiß ich's wieder, Nikolas! Isabel, es ist Nik! Erinnerst du dich nicht an uns?" fragte er mit Verzweiflung in der Stimme.
Nik starrte die beiden an. Wenn er sich Sebastián mit einer etwas gesünderen Gesichtsfarbe vorstellte... und Isabel ohne die verheulten Augen... tatsächlich. Vor Jahren hatte er die beiden während eines Kletterkurses in den Anden kennen gelernt. Ihre Namen hatte er längst vergessen gehabt, aber jetzt erinnerte er sich an sie als freundliche und intelligente Menschen. Isabel hatte er während ihrer letzten Nacht in den Anden dann noch etwas besser kennen gelernt. "Sieh mal an", sagte er, "hätte mir nicht gedacht dass wir uns einmal wiedersehen. Eine interessante Karriere habt ihr beiden gemacht." Isabel öffnete zum ersten Mal den Mund. "Du aber auch" sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. Sie versuchte zu lächeln, was ihr halbwegs gelang. "Du warst letztes Mal fast noch ein Kind. Jetzt zielst du mit einem Gewehr auf mich." Sie schlug die Augen nieder und sprach auf Englisch weiter. "Nik, ich weiß nicht, was du dir von diesen Leuten erhoffst. Als Söldner wartet nur ein frühes Grab auf dich. Wir beide dagegen könnten dir vieles ermöglichen. Wir haben Einfluss in Kreisen, mit denen du noch nie in Berührung gekommen bist."
"Sei still. Viele Menschen sind wegen euch verhungert. Mein bester Freund liegt tot draußen vor eurem Haus, weil er das ändern wollte." Isabel sah ihm direkt in die Augen. "Ich und Sebastián haben deinen Freund nicht umgebracht. Glaubst du wirklich, es ging ihm um die Leute, statt einfach nur um deren Geld?
Wenn Menschen verhungert sind, dann nur weil sie aus Trotz nicht mehr gearbeitet und ihre Felder bestellt haben. Wir haben dafür gesorgt, dass jeder seine Familie ernähren kann, und uns auch um die Kranken und Alten gekümmert. Niemand hätte sterben müssen, gäbe es keine Leute wie deine Söldnerfreunde. Tötest du denn gerne andere Menschen?"
"Ich muss sagen, man gewöhnt sich daran", bemerkte Nik. Doch seine gespielte Lässigkeit war brüchig.
Isabel bemerkte, dass sie ihrem Ziel näher kam, und beeilte sich weiter zu sprechen. "Du musst nicht kämpfen, um ein gutes, aufregendes Leben zu führen. Du warst immer ein Abenteurer. Abenteuer kannst du auch erleben, ohne unschuldige Menschen umzubringen und mitten im Dschungel zu schlafen. Du hast viele Talente, das habe ich in unserer kurzen gemeinsamen Zeit gemerkt. Mit uns... mit mir wirst du es weit bringen."
Ihr letzter Blick war sehr vielsagend gewesen. Nik sehnte sich nach dem, was dieser Blick versprach. Er dachte eine Weile nach und musste sich eingestehen, dass er zu lange ein im Grunde armseliges und vor allem liebloses Leben geführt hatte. Aber er schuldete Laszlo und den Arbeitern der Hacienda, dass er auf diesen Blick nicht reagierte.
Alessandr, der sich vor einiger Zeit auf einen Stuhl gesetzt und die Unterhaltung argwöhnisch betrachtet hatte, stand auf. "Diese Turtelei halte ich nicht mehr aus. Baby, mein Englisch ist leider gar nicht so schlecht wie du denkst. Also, Gringo, wenn du den Job nicht erledigen willst, geh aus dem Weg und lass es mich tun. Diese Frau verspricht nur Lügen."
Nik überlegte noch eine Zeit lang, wog die Alternativen gegeneinander ab. Dann traf er seine Entscheidung und trat zur Seite. Isabel sah ihn flehend und ungläubig an. "Nik, bitte!" Er schwieg. Alessandr hob das Gewehr. "Adios." Er wollte gerade abdrücken, als sein Kopf ruckartig nach vorne gerissen wurde. Nik hatte ihm in den Hinterkopf geschossen. Er blickte Isabel und Sebastián an, deren fassungslose Gesichter von Alessandrs Blut bedeckt waren. "Wie gesagt, man gewöhnt sich daran."
Es war wieder Zeit, etwas neues auszuprobieren.