Spieglein, Spieglein an der Wand
Ich habe schon immer gewusst, dass es eine Welt hinter den Spiegeln gibt.
Pass auf, wenn du in eine Pfütze trittst, nicht dass du hineinfällst in die Anderwelt.
Als Kind hatte ich immer Angst, in Pfützen zu treten, und auch heute noch bin ich hin- und hergerissen zwischen Faszination und Furcht. Pfützen sind Tore zur Anderwelt, doch unzuverlässige – ein Sonnenstrahl, und hinfort sind sie. Es gibt bessere Pforten.
Spiegel.
Ich will gar nicht wissen, wie viele Stunden meines Lebens ich schon damit verbracht habe, mein Gegenüber im Spiegel anzustarren. Derselbe Mensch, und doch anders.
Die ganze Welt ist verändert, ohne fremd zu wirken – im Gegenteil. Der gleiche vertraute Raum, und doch seitenverkehrt. Der gleiche gehasste Mensch, doch mit einemal sympathisch.
Die gleiche Familie, und doch anders, harmonischer.
Die gleiche Welt, und doch ist jene dort drinnen freundlich, erfrischend, lebenswert.
Die Frage, wie ich in jene Anderwelt gelangen könne, beschäftigt mich seit Kindertagen. Einmal habe ich mich bei Vollmond vor den großen Spiegel im Schlafzimmer meiner Eltern gesetzt und stundenlang die Augen jener Person dort fixiert. Habe all meine Gedanken auf sie gerichtet. Starr in die Augen geblickt. Mir nicht erlaubt, mich zu jucken oder die schmerzenden Muskeln zu entspannen. Ich starrte unentwegt.
Als die ersten Sonnenstrahlen das Spiegelglas berührten und ich immernoch dieseits saß, kamen mir die Tränen vor Wut und Enttäuschung. In den folgenden Jahren streckte ich meinem Spiegelbild jedesmal die Zunge raus oder spuckte es verachtungsvoll an.
Doch etwas hat sich geändert... die alte Sehnsucht ist wieder erwacht... stärker denn je.
Spieglein, Spieglein an der Wand
so reiche mir doch bitte deine Hand
Spieglein, Spieglein an der Wand
zeig mir den Weg in ein bessres Land...
Am Morgen des 14. Oktobers fand man die verblutete Leiche eines jungen Mädchens inmitten den Scherben eines zerborstenen Spiegels. Auf ihrem zerschnittenen Gesicht lag ein glückliches Lächeln.