Mitglied
- Beitritt
- 26.11.2004
- Beiträge
- 34
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Spieluhr
Er hatte sie in der Hand, ihr Klang, wunderschön und klar, hallte in seinen Ohren wider, bis der Schlüssel auf der Rückseite klickte, und so auch die Melodie, die er so liebte, verstummte. Automatisch, und ohne es zu merken, zog er den Schlüssel wieder auf, er begann zu drehen, während gleichzeitig die Musik wieder erklang, schön, wie ein Tautropfen auf einem Gräschen im Frühling. Seine Seele schwebte weit fort, irgendwo, im Himmel, in der Hölle, im Paradies, er wusste es nicht genau, wusste nur, dass er nicht bei Sinnen war, und er hilflos dem Spielzeug, das er eben in der Hand hielt, völlig ausgeliefert war. Seine Gedanken waren verschwommen, er sah Schatten, sah Dinge, die er sich nicht bewusst war, sah nur, was ihm die Melodie zu denken erlaubte, eine Fee, ein Wald, wunderschön, in ein sattes grün getaucht, und da: Wieder die Fee, schwebend, kaum eine fingerbreite über dem moosbedeckten Boden. Immer klarer wurden die Umrisse, dessen was er sah, träumte, er sah Rehe, die fröhlich über Wurzeln sprangen, immer ein Männchen, ein Weibchen und ein Rehkind, das, unschuldig, unwissend, den Eltern hinterher sprang. Er hörte das Zwitschern der Vögel, schöner noch als eine Symphonie eines Streichorchesters und er realisierte, dass es seine Melodie war, die Melodie, die ihm so gefiel. Die Fee schwebte weiter, winkte ihm zu, ihr grünes Kleid glitzerte wie tausend Sterne in der Nacht, als sei es diamantenbesetzt, dennoch schien es ein schlichtes, einfaches Kleid zu sein, ohne protzen zu wollen, ohne anzugeben. Es gefiel ihm. Ja, es gefiel ihm so sehr, dass er Zeit und Raum vergass, er vergass, wo er war, was er tat, und warum überhaupt. Wieder verstummte die Melodie, und wieder zog er die kleine Spieluhr auf, die ihm sein Vater damals schenkte, als er ein kleiner Junge war, unerfahren, fröhlich, ähnlich dem Rehkind, dass er in seiner Vision, seinem wunderbaren Traum, sah. Kaum begann die Spieluhr zu spielen, ertrank er wieder in seinem Traum, versoff schier in der Schönheit der Bilder, die sein inneres Augen projezierte, sah Schmetterlinge, farbenfroh flatternd, mit reflektierenden Farben auf den Flügeln. Die Fee flog davon, ihm zuwinkend, er rannte ihr nach, einen weichen, mit Laub bedeckten Weg entlang, kam an einem glucksenden Bach vorbei, der den Weg überfloss, klar und kalt; das Wasser umströmte seine Füsse; es tat ihm gut. Er spürte unerwartete Kraft, als er immer tiefer in den Wald eindrang, der Fee hinterher, die sich immer wieder umdrehte, um auf ihn zu warten, und dann weiterflog, als sie sah, dass er kam. Doch dann entschwand die Fee, schien endlos weit weg zu sein, doch er rannte weiter. Als er dachte, er könne nicht mehr, und die Hoffnung, die Fee je wieder zusehen, am begraben war, trat er auf eine Lichtung, die Sonne schien, bestrahlte Blumen, die sich, leicht mit dem Wind bewegend, gen Himmel reckten, und ihr prachtvolles Farbenspiel ihm offenbarten, ihm allein. Die Fee schwebte in der Mitte der Lichtung, immer noch lächelnd, rief im zu, er solle kommen, und er ging zu ihr. Wiederum unterbrach sich der Traum für einen kurzen Moment, er zog die Spieluhr erneut auf, zum hundertsten Male heute. Niemals hätte er gedacht, dass so etwas Unbedeutendes, wie eben diese Spieluhr, so eine magische Wirkung auf ihn haben könnte, fasziniert war er von ihr, süchtig nach ihr, wie von einer Droge; er konnte nicht genug bekommen. Noch ein Schritt, und er wäre bei ihr, er roch bereits den würzigen Duft, der von ihrem Waldkleid ausging, konnte ihre Energie bereits fühlen, ihre Wärme und ihre Kraft.
Ein Schrei zerriss die Stille, furchterregend, markerschütternd. Er drehte sich um, Flammen, überall, Asche fiel zu Boden, schwarz die Sonne, dunkel, mit finsteren Gewitterwolken bedeckt der Himmel, der nur ein Augenblick zuvor blau gewesen war, brennend der Wald, tot die Rehe und aus den Schmetterlingen waren schwarze Krähen geworden, gierig darauf wartend, endlich Beute machen zu können. Er sah die Fee an: Sie war keine Fee mehr, ihr Gesicht, satanisch grinsend, wies nichts mehr schönes auf, war entstellt, dämonisches Lachen um ihn herum - sie kam auf ihn zu. Es war keine Fee, ein Teufel eher, ihre Augen blitzten, waren schwarz vor Hass und Zorn; er versuchte zu rennen, konnte nicht. Er wurde umschlungen von Feuer: Es brannte auf der Haut, verbrannte ihn, er spürte Schmerz, überall. Der Wald kam näher, bösartig, umschloss ihn, wollte ihn zerdrücken. Seltsam war ihm zu Mute, als die teuflische Fee ihre Hände um seinen Hals legte, und zu drücken begann, er verstand nicht, wollte nicht verstehen, er spürte nur unerträglichen Schmerz. Sein Gesicht begann zu brennen, seine Augen quollten hervor, traten aus, während die Fee, der Dämon, immer noch versuchte, ihn zu erdrosseln. Verzweifelt fuchtelte er mit seinen Armen, die, zerfressen von den Bäumen, versengt von den brennenden Blumen, nur noch Stümpfe waren, zu keinem Kraftakt mehr fähig, schrecklich stinkend und dampfend. Er schrie sich die Lunge aus dem Leibe, erbrach sich, aber was aus seinem Mund trat, war Asche, und die Fee, immer fester zudrückend, lachte, tief und schrecklich. Er brach zusammen, bewusstlos, tot wahrscheinlich, fiel in die Blumen, die seinen Leib sogleich freudig in Empfang nahmen, die Krähen stürzten auf ihn, zerhackten sein Gesicht, Augen, Ohren, und erlabten sich an seinem Körper. Er spürte jetzt nichts mehr.
Er schrak auf. Schweissüberströmt sein Gesicht, verzerrt seine Miene. Ängstlich tastete er sein Gesicht, seine Augen und zuletzt seine Arme ab, in schrecklicher Vorahnung. Doch alles war noch rechtens, keine Verletzungen, nicht der kleinste Kratzer, weder Verbrennungen, noch Blut irgendwo. Ungäubig starrend sass er nun da. Die Spieluhr lag neben ihm auf dem Bett, sie dudelte immer noch, doch ihre Melodie war nicht mehr die, die sie mal war, so faszinierend wie zu Beginn: Sie krächzte jetzt, wie ein schwarzer Rabe vor seinem Aas, er erinnerte sich an den Traum, den er hatte, an die Krähen, die auf ihn fielen, grausam, kalt. Dann klickte es, der Schlüssel hörte auf zu drehen, das Krächzen verstummte und er atmete auf. Er nahm die Spieluhr, öffnete den Kasten, es war äusserst leicht, nur ein Hebel zum Umlegen, und tat die Spieluhr auf. Ein Rädchen war defekt, aus seiner Verankerung gesprungen, lag, hilflos, am Boden des Kastens. „Die ist hin“, sagte er sich, und schmiss die Spieluhr in die Kiste mit den anderen Sachen, die er nicht mehr benötigte, und die er, wie immer, einfach so hinwarf, unbeachtet. Er stand auf, ging aus dem Zimmer, leicht kopfschüttelnd, weil er geträumt hatte, was er sich nie im Leben hätte ersinnen können. Er drehte sich nicht um, und sah so auch nicht den Schatten, der sich ausbreitete, aus dem offenen Kasten der Spieluhr hinaus, auf die Wände, die Bilder, das Bett, auf dem er eben gelegen hatte. Er schloss die Tür, doch er sah nicht, dass das Bett zu brennen anfing, das aus der Spieluhr bizarre Gestalten stiegen, hässlich, mit entstellten Gesichtern, Fratzen ähnlicher, die mit ihren dunklen Augen um sich sahen, alles zerstörend, böse. Er hörte nicht, dass die Krähen flatternd aus der Uhr entflogen, und schrill ihr fürchterliches Klagelied anstimmten. Zuletzt kam auch sie, die Fee, der Teufel, lauthals lachend, ihre flammenden Haare schüttelnd, Funken verspeiend.
Er bemerkte erst, als das Böse bereits über jegliches Leben obsiegt hatte.