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Spuren im Schnee
Er hörte das Knarren der Tür, die hinter ihm in die Angeln fiel. Seine Stiefel drückten sich tief in den Schnee. Jeder seiner Atemzüge wurde durch eine Rauchwolke untermalt. Er schaute auf die Landschaft, die sich vor ihm auftat. Er konnte jedes Haus der Stadt erkennen, jedes einzelne von vielen Lichtern erleuchtet. An jeder fünften Ecke waren Lichterketten quer über die Straße gespannt. Der Wind trug von einer nahe gelegenen Kirche „Stille Nacht, heilige Nacht“ herüber. Die Straßen waren weitgehend leer. Nur am Glühweinstand tummelten sich ein paar Leute, die sich leise unterhielten. Zu diesem Zeitpunkt war die Stadt fast ausgestorben. Die Familien saßen in ihren Häusern und feierten - oder sie waren in der Kirche. Er ging ziellos durch die Gassen. Er verstand nicht, wieso er jedes Jahr aufs Neue in die Kälte ging. Die Wanderung durch die Gassen stimmte ihn nur traurig. Aber der Geruch von Nüssen, Orangen und Süßigkeiten, der die Luft zu Weihnachten erfüllte, rief ihm die Zeit davor in Erinnerung. Nun war er am Friedhof angekommen. Er wollte ein letztes Mal Abschied nehmen, da er zu Neujahr in eine andere Großstadt ziehen würde. Endlich mit dem Geschehenen abschließen zu können, das war sein Wunsch. Und da er es bis heute noch nicht geschafft hatte, versuchte er es jetzt damit, alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Nachdem er ein Gebet gesprochen hatte, setzte er sich auf eine Holzbank und schlief ein.
Der Weihnachtsbaum glühte regelrecht mit den, so schien es, hunderten winzigen, blauen, silbernen und goldenen Kugeln auf seinen Zweigen. Noch nie war ihr Christbaum so reich geschmückt gewesen. Die ganze Gruppe stand andächtig vor dem Baum und sang ein Weihnachtslied nach dem anderen. Alle lächelten, und doch lag eine gewisse melancholische Stimmung über der Szenerie. Es sollte ihr letztes gemeinsames Weihnachtsfest werden. Der Schauplatz wechselte. Jetzt sah er nur zwei grelle Scheinwerfer, die immer näher kamen. Und näher, und näher
Er schreckte hoch und verdeckte sich mit den Händen sein Gesicht, auf das eine Taschenlampe gerichtet war. Es war ein Polizist, der ihm sagte, dass der Park nun seine Tore schließe und er nicht hier bleiben könne. Auf dem Weg hinaus dachte er noch immer verstört über das nach, was er gerade geträumt hatte. Zuerst war da ein Weihnachtsfest gewesen. Es war der Heilige Abend vor ein paar Jahren, als sie noch alle zusammen waren. Vor dem Unfall. Er erinnerte sich nur ungern an dieses letzte Fest. Dann waren da wieder die zwei großen Scheinwerfer gewesen, die ihn jede Nacht in seine Träume verfolgten. Er wusste genau, um was für Scheinwerfer es sich handelte.
Es war ein lauer Frühlingsabend gewesen, er war mit Freunden in der Stadt und hatte sich amüsiert. Ein junger Mann, den sie getroffen hatten und der mit ihnen gefeiert hatte, bot ihnen an, sie nach Hause zu fahren. Er und zwei seiner Freunde nahmen das Angebot an und stiegen in das Auto ein. Das Auto war ein Kleinbus, der mehrere Sitze neben dem Fahrer besaß. Er saß auf dem Rücksitz. Seine Freunde saßen auf den Beifahrersitzen. Sie lachten zusammen über den heutigen Abend, als es passierte. Bis heute konnte er sich nicht erklären, wie es genau vor sich ging. Vielleicht waren sie zu schnell, aber er glaubte es nicht. Er sah nur zwei grelle Scheinwerfer auf sich zurasen, dann war es aus.
Er war so in Gedanken versunken, dass er nicht merkte, dass er fast wieder bei sich zuhause angekommen war. Seine Hände waren nun sehr kalt und abgefroren. Er war damals nicht schuld. Das hatten ihm auch alle Polizeibeamten und der Richter erklärt, aber er wusste es besser. Er hätte nicht einsteigen dürfen, sie aufhalten sollen, aber hatte es nicht getan. Ohne dass er es beeinflusst hatte, ging er nun wieder in den Spuren im Schnee, die er selbst vor einigen Stunden getreten hatte. Er trug die Hoffnung mit sich, dass er jetzt endlich in Frieden leben könne. Wie jedes Jahr, zu Weihnachten.