Spurensuche
„Er geht einer Arbeit nach, die in der Gesellschaft ein denkbar schlechtes Image hat. Als Leichenwäscher steht er weit außerhalb des gesellschaftlichen Lichtkegels, eigentlich im tiefsten Schattenbereich. Doch dabei ist auch er nur ein normaler Mensch, der in seinem Leben Nähe und Liebe sucht.“
Seine ruhige Stimme trägt die Worte direkt zu ihr, ihm schon relativ nahe, nur durch einen kleinen Stehtisch voneinander getrennt. Dem prüfenden Blick aus seinen graublauen Augen hält sie mit einem leichten Lächeln stand, nickt und stellt die ihr unvermeidlich erscheinende Frage: „Ist Ihr Text teilweise auch autobiographisch?“ Das Aufblitzen in seinen Augen verrät, dass er sie für einen kurzen Moment als ziemlich frech empfindet, aber das scheint ihn eher zu einer ehrlichen Antwort zu motivieren. Immer noch den Blick in ihre Pupillen brennend, legt er den Kopf schief, um noch weiter in ihre Augen einzudringen und gibt ohne den geringsten Funken Unsicherheit zurück: „Ja. Auch ich suche Nähe und Liebe.“
Er öffnet ihr schneller sein ganzes Herz, als er es je wieder verschließen könnte, um sich gegen Verletzungen zu schützen, scheint dabei gar nicht zu merken, welch tiefen Einblick er ihr in sein Innerstes gewährt, hat nur das Gefühl, ihr erzählen zu müssen, ihr zu schildern, wer er ist und was ihn zu derartig einfühlsamen Texten treibt.
So gesteht er ihr, dass er mit exakter Treffsicherheit immer den Außenseiter in einer Schulklasse, die gerade zufällig an ihm vorbeigeht, erkennt, ohne viele Worte, Fragen oder Erklärungen, einfach so. Er spürt den Menschen in der Menge, den unglückliche Umstände zum Sündenbock gemacht haben und der jetzt dazu verdammt ist, mit diesem Stigmata seinen Lebensweg bis zum nächsten Einschnitt zu gehen. Wohl auch aufgrund persönlicher Erfahrungen, die heute noch seine, die Stimme eines attraktiven Mannes in den besten Jahren seines Lebens zittern lassen. Und doch scheint er gerade in diesem Augenblick dem Martyrium seiner eigenen Schulzeit näher als je zuvor.
Wie gerne hätte sie ihm in diesem Dunkel die Fackel der Gemeinsamkeit voraus getragen, denn auch ihr selbst waren solche Erlebnisse nicht erspart geblieben, auch sie fühlte sich im Laufe ihres Lebens immer wieder dafür verantwortlich, sich schützend vor Außenseiter zu stellen, ihre Partei zu ergreifen und die eigene Stimme als Sprachrohr für jene zu verwenden, für die Schweigen das einzig noch verbliebene Privileg zu sein schien. Doch den folgenschweren Fehler des Mitleidens begeht sie nicht, obwohl diese Falle sehr verlockend wäre. Stattdessen stellt sie mit sicherer Stimme fest: „Dann interessieren wir uns für dieselben Menschen. Wir scheinen also dieselbe treibende Kraft für unsere Texte zu nützen.“
Dass sie einander daraufhin duzen, ist inzwischen nur mehr reine Formsache, denn die Brücke war lange zuvor schon zwischen ihnen erbaut worden, auch wenn es am Anfang ihrer Begegnung nur durch Blicke geschah.
„Dabei bin ich normalerweise ein sehr zurückgezogener Mensch, der den größten Teil der Zeit traurig und schwermütig unter der eigenen Einsamkeit leidet,“ charakterisiert er sich selbst weiter, so als müsse er vermeiden, dass sie möglicherweise ein falsches Bild von ihm bekäme. Sie, die so offen und ohne Hemmungen auf ihn zugegangen war, verdient in seinen Augen eine ehrliche Warnung vor seinem Wesen. Er will ihr das Entsetzen nicht antun, ihn irgendwann einmal demaskiert als das Ungeheuer zu erleben, als das er sich nun vorstellt. Doch glauben kann sie das trotzdem nicht, hat nur die Eindrücke zur Verfügung, die er ihr durch das intensive Gespräch vermittelt und stellt fest, dass es sich bei seinen Schilderungen wohl um eine fremde Person handeln müsse, einer der Protagonisten seiner Texte, einer jener Menschen am Rande der Gesellschaft, für die nur er sich interessiert, weil er selbst einmal Außenseiter war.
Innerlich begehrt alles in ihr auf, die Stimme der Beschützerin nimmt wieder überhand, schreit, dass er nicht das Recht hätte, so über sich selbst zu sprechen, und sie muss mit aller Kraft gegen die Revolte eines einmal selbst unterdrückten Kindes kämpfen. Die Wut darüber, dass die Suggestivkraft seiner Umgebung wohl über das eigene Selbstbewusstsein gesiegt hatte, zerreißt sie nahezu. Fast möchte sie ihn schütteln, um die Attribute des Monsters zu entfernen, die ihm als Kind solange erfolgreich Schneebällen gleich von allen Seiten hinaufgedonnert wurden, bis sie ihr Ziel, nämlich seinen Selbstwert erreicht hatten.
Doch in dem Moment, als sie artikulieren möchte, was da in ihr vorgeht, als sie dabei ist, die Dämme ihres aufgestauten Zornes gegen die Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend im Allgemeinen und sein scheinbares Unvermögen, Identitäten abzulehnen, die seiner nicht würdig sind, im Speziellen einzureißen, hält sie plötzlich inne. Die Hände, die sie schon erhoben hat, um damit auch den letzten Zweifel ein für allemal auszuradieren, lässt sie langsam wieder nach unten sinken, verliert ihn dabei nicht aus ihren Augen und schüttelt schließlich den Kopf. Sie erkennt, dass er den Menschen, den man ihm in den Jahren seines Außenseiterdaseins aufgezwungen hat, nur durch dieses Buch verlieren kann. Dass der Mensch, der als Synonym des Gerichtsmediziners am Rande der Gesellschaft Einzug in seinen so einfühlsamen Text gefunden hat, erst jetzt, da er aus dem Buch kommt, die Chance erhält sich selbst zu entfalten.
Erleichtert umrundet sie den Tisch, stellt sich direkt vor ihn und greift nach seiner Hand, genauso offen und unbefangen, wie sie das Gespräch mit ihm begonnen hat. Dabei lächelt sie und meint nur: „Vielleicht solltest Du einmal ein Buch über einen sympathischen, humorvollen Menschen schreiben, der sich selbst lebt, wie er ist und mit seiner stillen, liebevollen Art Menschen für sich gewinnt.“