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Ssssex, sprach das Geräusch
Vor neun Jahren, am dritten August, sprach mein Tinnitus zum ersten Mal zu mir. Deshalb erinnere ich mich an jenen Abend noch sehr genau.
Mein Freund Roland hatte die Tiefkühlpizza wieder nicht lange genug im Ofen gelassen und ich traute mich nicht, ihm das zu sagen. Er sah mir beim Essen zu und fragte, ob ich glücklich sei mit Annette.
»Es ist ziemlich toll«, sagte ich vorsichtig kauend. Roland starrte schweigend auf die Spitzen seiner schwarzen Straßenschuhe, die er auch zu Hause immer trug. Annette hatte ihm einen Korb gegeben. Wegen mir.
In diesem Moment meldete sich mein Tinnitus mit einem modulierten Summen, durchzogen von Ruckeln und Quietschen. Ich lauschte, bis Roland aufhörte, meine verkniffene Gesichtshaltung zu ignorieren. »Ist was mit der Pizza?«
Ja, aber das war es nicht. Mein Tinnitus, geboren aus einem Hörsturz aufgrund zu vieler 12-Stunden-Schichten, war mir all die Jahre wie ein alter Freund gewesen – immer da und manchmal zu nah. Aber er hatte noch nie wie eine Straßenbahn geklungen.
Ich sah zur Uhr. Es war später als »spät genug«.
»Weißt du, wann die letzte Straßenbahn fährt?«
»Keine Ahnung«, meinte Roland. Seine Mundwinkel zuckten.
»Dann gehe ich besser gleich zur Haltestelle«, murmelte ich.
Unsere Freundschaft endete mit einem endgültig klingenden »Bis morgen«.
Auf dem Weg zur Haltestelle horchte ich konzentriert, aber mein Tinnitus summte nur noch zufrieden. Irgendwann kam die Straßenbahn. Irgendwann gab Annette mir einen Korb.
Mein Tinnitus hört am liebsten Alan Parsons Project. Dann säuselt er leise vor sich hin, verzichtet auf dröhnende Resonanzen und fatale Einflussnahme auf meinen Gleichgewichtssinn. Lange Jahre mit meinem unsichtbaren Freund namens Morbus Menière im Ohr haben mich geprägt wie wohl kaum jemanden sonst, abgesehen vielleicht von Vincent van Gogh.
Wegen meines Geräuschs kehrte ich vor zwei Jahren in die Welt des Medienwahnsinns zurück. Als der menschenverachtende Moderatoren-Vertrag vor mir lag, nahm ich den Füllfederhalter in die Hand und beobachtete ihr Zittern wie durch die Brille eines anderen. Fallen lassen oder unterschreiben. Sozialer Abstieg oder 14-Stunden-Tag. Der Personalchef des Senders streichelte sein glänzendes Handy. Ohne mein vertrautes Geräusch wäre ich in diesem Moment zum Psychopathen geworden.
Ich konzentrierte mich auf das kreischende Summen. So hörte ich das Kratzen der Feder auf dem schweren Papier, bevor ich sie aufsetzte und meinen Namen schrieb, den Sie mittlerweile sicher erraten haben.
Meine Latenight-Talkshow hat ein Erfolgsgeheimnis. »Natürlich hat sie das«, werden Sie sagen und Ihren Kopf schief halten.
Was glauben Sie, warum ich Karl Augustin ausgerechnet am Tag vor seinem tragischen Unfall interviewt habe? Warum Werner von Hofstädt seinen letzten öffentlichen Auftritt in meiner Sendung absolvierte? Und denken Sie ernsthaft, reiner Zufall hätte Peter Schaufeld Stunden nach unserem Gespräch eine Waffe an die Stirn gehalten und abgedrückt?
Ich helfe Ihrer Erinnerung gerne ein wenig auf die Sprünge. Jene Aufnahme habe ich immer griffbereit. Hier, überzeugen Sie sich selbst!
»Sehen Sie«, sagt Peter Schaufeld und stützt sich auf die Sessellehne. »Es war ja nicht nur dieses Boulevardblatt. Als wenn unsere ... meine ... Scheidung nicht ... ja, die denken nur an Profit.«
»Sie haben mehr als einmal die Rolle des Verlierers gespielt. Auf der Leinwand, im Fernsehen.« Ja, das sagte ich. Bezeichnete ich ihn damit als Verlierer? Ich bin mir sicher, dass Sie genau das denken. Aber hören Sie genau zu, was ich anschließend fragte: »Ist das Aufstehen in Wirklichkeit schwerer, wenn man im Film so getan hat, als sei es unmöglich?«
Ich stoppe das Band an dieser Stelle. Sie erinnern sich auch so daran, dass der grauhaarige Schauspieler diesmal nicht spielte, sondern wirklich weinte.
Mein Tinnitus hatte zwei Tage zuvor beim Frühstück auf dem Balkon zu mir gesprochen. Ich kann nicht wiedergeben, was er sagte. Aber er nannte Schaufelds Namen. Nur kurz dachte ich zurück an Roland, die Straßenbahn und mein altes Leben ohne Villa, Werbeverträge und wichtigtuerisches Ohrgeräusch. Ich griff zum Telefon und rief in der Redaktion an. Nach fünf Minuten hatte ich die Nummer von Schaufelds Agentur.
Den Rest kennen Sie ja. Halten Sie mich nicht für einen skrupellosen Erfolgsmenschen. Nach Schaufelds Selbstmord erklärte mein Tinnitus mir deutlich, dass ich für Wochen deprimiert sein würde.
Und vor drei Tagen meldete er sich erneut mit einer wichtigen Nachricht. Er sagte, dass ich ihn interviewen würde. Es war kein Wunsch. Es war eine Feststellung.
Obwohl es faszinierend war, wie mein Tinnitus über die Jahre hinweg lernte, sich zu artikulieren, ergab sich ein großes Problem: Nur ich konnte ihn hören, aber ein Talk in einer Latenight-Show erfordert zwei Gesprächspartner. Ich rief meinen Arzt, Dr. Thiem, an.
»Kann man einen Tinnitus hörbar machen?«, fragte ich.
»Nur einen objektiven«, entgegnete Dr. Thiem. »Sie haben aber einen subjektiven.«
»Lässt sich kein Mikrofon anbringen? Irgendein Sensor?«
»Im Innenohr?«, lachte Thiem. »Man müsste ein Loch in den Schädelknochen bohren. Und selbst dann ...«
Ich verzog das Gesicht. »Ist das Ihr letztes Wort?«
Das war es.
Den Nachmittag verbrachte ich damit, vor mich hin zu grübeln. Ab und an horchte ich, aber mein Tinnitus bot mir keine Lösung an. Stattdessen summte er gegen drei Uhr ein langgezogenes »Sssssseexxx«, und ich machte mich auf die Suche nach Karin, meiner Assistentin.
Sie war es auch, die mich danach auf die rettende Idee brachte.
»Zeichne die Sache doch in einzelnen Einstellungen auf.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich und rührte in meinem alkoholfreien Cocktail.
Karin strampelte die durchgeschwitzte Decke zum Fußende des Bettes. Nackt räkelte sie sich und war für Sekunden ein Werbespot für gesunde Ernährung. »Bei der ersten Aufnahme sprichst du die Fragen. Bei der zweiten sitzt du im Besuchersessel und sprichst die Antworten nach, die dein Ohr dir gibt. Und so weiter. Die Bildregie schneidet das dann einfach zusammen.«
»Wenn ich dich nicht hätte«, sagte ich und reichte Karin meinen Cocktail. Ich sah zur silbernen Standuhr. Noch vier Stunden bis zur Sendung, und ich musste noch duschen, meine Pillen nehmen und ein paar Witze erfinden.
Jetzt kennen Sie die Vorgeschichte, liebe Zuschauer. Ich hielt es für nötig, Sie darüber detailliert zu informieren, damit Sie das folgende Gespräch besser beurteilen können, das wir vorab aufgezeichnet haben. Oft verstehe ich die Stimme in meinem Ohr selbst nicht genau. Obwohl mein Gesprächspartner für eine Krankheit über einen erstaunlichen Wortschatz verfügt, bestehen seine Antworten meist aus wenigen Worten und selten aus klaren Sätzen. Ich habe mir als Dolmetscher größte Mühe gegeben, die Botschaften verständlich wiederzugeben.
Bitte wundern Sie sich nicht, wenn Sie mich im folgenden doppelt sehen. Unsere Regie hat ein wenig in die Trickkiste gegriffen und die beiden Aufnahmen so zusammengesetzt, als gäbe es zwei von mir. Begrüßen Sie also nun mit einem freundlichen Applaus meinen Tinnitus und seinen Übersetzer!
Willkommen. Nehmt doch Platz.
Kommen wir gleich zur Sache. Tinnitus, du hast den Wunsch geäußert, dieses Gespräch zu führen. Wem bringt das etwas?
»Zzzzzzuuu ... scha ... uu. Er meint, den Zuschauern bringt es etwas.«
Tatsächlich? Inwiefern?
»Tick ... tick ... Er tickt immer, wenn er den Begriff ›Zeit‹ meint. Zzzzuuuuk ... kft. kft. Zukunft. Ich weiß nicht genau, was er damit meint. Aber die Frage erlaubte auch keine einfache Antwort.«
Zukunft? Nun, man könnte in der Tat den Eindruck haben, du könntest in die Zukunft sehen. Mehrfach warst du mir wie ein akustischer Blick in eine Kristallkugel. Geht das in die richtige Richtung?
»Kräftiges Pulsieren. Das heißt ›ja‹.«
Bist du dann eine Art guter Geist?
»Wieder Pulsieren. Eine erstaunliche Aussage, wenn ich das als Dolmetscher an dieser Stelle sagen darf.«
Wir nehmen das zur Kenntnis. Über Geister hört und liest man viel, aber offen gestanden halten die meisten Behauptungen einer gründlichen Überprüfung nicht stand. Was für eine Art von Geist bist du?
»Du ... du ... du ... Du? Der Tinnitus meint, er sei du. Oder ich. Toooo ... tooo ... oot. ooot. Tot. Verdammt ... äh, das letzte Wort war von mir, Entschuldigung.«
Liebe Zuschauer, sehen Sie mir meine Erregung nach. Hat mein Tinnitus gerade behauptet, er sei ich? Aber tot? Will er sagen, er sei mein verstorbenes Ich, zurückgekehrt aus der Zukunft?
»Das würde erklären, dass er wahrsagen kann.«
Dich habe ich nicht gefragt. Was sagt er?
»Augenblick. Er pulsiert. Er pulsiert. Ja, meint er.«
Entschuldigen Sie, liebe Zuschauer, wenn das für Sie unglaublich klingt. Gewöhnlich ist unsere Show dafür bekannt, Scharlatane und Hochstapler auffliegen zu lassen. Ich versichere Ihnen, dass ich über den Verlauf dieses Gesprächs genauso überrascht bin wie Sie.
Nun, Tinnitus, das alles ist schwer zu glauben. Wir werden uns eine Methode überlegen müssen, mit der wir Deine Behauptung belegen können. Aber zunächst eine andere Frage: Bist du, sind wir ein außergewöhnlicher Fall? Oder gibt es noch mehr Leute, die als ihr eigenes Ohrgeräusch wiedergeboren werden?
»Luuuuuu ... Ich weiß nicht, was er sagen will ... uuuutr ... utr ... Lutr ...«
Lutr? Was soll das heißen?
»Jetzt sagt er noch etwas anderes. Es klingt wie ... Zääää ... saaa ... zäää ... saaa ...«
Caesar? Da fällt mir ein: Caesar soll unter Ohrgeräusch gelitten haben. Dann meinte er davor ... Luther!
»Das Geräusch ändert sich. Jetzt klingt es wie: Fiii ... fiiil ... viel.«
Viele Menschen hören ihre eigene Stimme aus der Zukunft? Womöglich ...
»Er pulsiert.«
Das müssen wir erst einmal verdauen, denke ich. Noch eine letzte Frage. Kannst du für mich einmal in die unmittelbare Zukunft schauen?
»Toooo ... tooo ... Tod.«
An dieser Stelle endet das aufgezeichnete Gespräch, verehrte Zuschauer. Wir sind wieder live auf Sendung. Zweifellos kennen Sie eine der Eigenheiten dieser Show – mehr als einmal hat meine Gesprächspartner kurz nach der Sendung traurigerweise der Sensenmann geholt. Unabhängig von der Glaubwürdigkeit der gerade gehörten Aussagen beabsichtige ich allerdings, dieses Schicksal nicht zu teilen. Obwohl ... mein Tinnitus gerade jetzt ...
Was ... Regie? Was ist da im Zuschauerraum los?
»Aaaaaaah!«
»Er hat eine Waffe!«
»Ein Verrückter!«
Was, wer ... das kann nicht ... sein ... Roland! Was ... nein ...
Bamm. Bamm. Bamm.