Störung
Im Treppenhaus sieht ihn niemand. Der Estrich gähnt leer vor sich hin, auf dem Dach ekelt ihm eine dicke, mattenartige Schicht aus schleimigen Taubenexkrementen entgegen. Was der Typ auf leisen Sohlen nicht weiss ist, dass es diesen Tauben schlecht geht. Ihre erhöhte Produktion von minderwertigem Darmschleim liesse einen Profi auf Parasiten- und Wurmbefall rückschliessen. Der Mann hat keine Zeit für solche Scheisse. Am Dachrand schaut er sich um, der Wind kurvt ihm durch den zierlichen Wald der Augenbrauenhaaransätze.
Sonja ist verägert. Der Morgen ist heiss, sie schnauft sich übers Trottoir, kommt nicht recht vorwärts. Für den BD ist sie schon im dritten Jahr unterwegs, aber so ein mühsamer Morgen ist ihr noch nicht untergekommen. Und wieder quillt ein Tropfen unter den Haaren aus der Nackenhaut hervor, rutscht dem Blusenkragen entgegen. Sonja denkt an Hyperhidrose. Hat diese Hitze bei ihr das übermässige Schwitzen ausgelöst, diese lästige Krankheit ins Leben gerufen? Zählt sie damit zu dem einen Prozent der Gesamtbevölkerung, der darunter leidet? Mit dem linken Augenwinkel erspäht sie gekonnt eine Störung. Sie umfasst ihre Tasche und läuft mit forschem Schritt über den heissen Asphalt. Erwischt.
Der Mann kneift die Augen, schaut auf die Uhr. Die Blechteile auf dem Dach schmoren durch die Sportschuhsohlen. Er kniet sich hin. Weit und breit keine Sau. Einem Rennskifahrer gleich vor dem Start schliesst er die Augen, bewegt die Arme und Hände wie in Trance, versinkt in Konzentration. Plötzlich blitzen seine Augen auf, blanker Hass erfüllt die Luft. Nachsichtigkeit war gestern. Er wirft ein Tuch auf das Dach, legt sich mit dem Rücken darauf, zwinkert in die nur schwer zu erkennenden hochstehenden Wolkenstreifen.
Sonja erreicht den dunkelroten Kombi. Sie klopft energisch an die Scheibe der leicht verbeulten Fahrertür, die der junge Mann gerade zugeschlagen hat. "Entschuldigung! Hallo!", ruft Sonja so laut sie kann. Einen Augenblick scheint der Fahrer zu überlegen, ob er lospreschen soll, einfach durchbrennen. Ohne Sonja zu beachten nimmt er die Hand vom Zündschlüssel. Mit einem leisen Surren senkt sich die elektrische Scheibe und er fragt die Frau knapp: "Ja?". "Sie haben die zulässige Parkzeit überschritten gemäss Artikel 48, Absatz 8 der städtischen Strafverkehrsordnung. Ich bin vom BD, dem Bussendienst, und gebe ihnen jetzt einen Strafzettel", rattert Sonja und ihre kurzen Haare unter der steifen Mütze geben sich Mühe, ein bisschen wild herum zu wallen. Der Schweiss läuft ihr jetzt bergbachartig den Hals hinunter in die unmodische Bluse. Der Fahrer schüttelt leicht den Kopf und fragt genervt:" Sehr geehrte Frau... ah, hier unten auf der Quittung steht ihr Name, Frau S. Weber... Warum haben Sie nicht mit der Kontrolle der parkierten Autokolonne von dahinten begonnen? War das jetzt nötig, mir quasi hinterher zu rennen, um die erste Busse live auszustellen und mir als dem Auserwählten zu übergeben?" Der Fahrer atmet tief durch, Wutwellen steigen aus seinem Magen hoch. Für eine kleine Meditation hat er jetzt keine Zeit. "Es ist ein Busszettel mit Bedenkfrist", antwortet Sonja trocken. Sie verspürt einen leichten Hunger, verdrängt aber dieses Gefühl beim Gedanken an ihre üppigen Hüften.
Mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck glotzt der Mann noch immer in den Himmel. Eine Taube flattert vorbei. Diese kräftig wirkende, vollfiedrige Taube mit leicht trichterförmigem Schwanz und einem Farbenschlag in Blau mit schwarzen Binden ist eine indische Pfautaube. Eine jahrhundertealte asiatische Rasse, erstmals 1590 in Indien beschrieben. Dann um 1650 über Europa nach Deutschland eingeführt. Für solch zutrauliche Kreaturen hat der Mann jetzt überhaupt keine Nerven, dieser Vogel ist zu laut, geht ihm auf die Nerven. Er schaut nochmals auf die Uhr, auf dem Dach verbreitet sich ein übler Geruch. Es ist der Gestank der aufgewärmten Exkremente. Egal, nun ist es soweit an diesem heissen Freitag Mittag. Flink dreht er sich mit seinen hart wirkenden Kieferknochen auf den Bauch und beobachtet die Umgebung.
"Richten Sie Ihre Fragen direkt an den Bussendienst der Stadt. Wenn sie mit der Busse nach geltendem Recht nicht einverstanden sind, ist das der einzige Weg", erklärt Sonja übertrieben ruhig und langsam und den jungen Fahrer im Kombi überkommt schleichend eine Ärgerlawine. Er wirft den Bussenzettel mit Bedenkfrist verachtend auf das Armaturenbrett, starrt S. Weber mit angewiderter Miene an. Sonja fühlt sich besser, der Tag kommt doch noch in Fahrt. Sie macht zwei Schritte zurück, betrachtet den in die Jahre gekommenen Wagen mit Hundegitter. Der Fahrer will aussteigen, bleibt aber sitzen. Wie in Zeitlupe bemerkt er die sternförmige Aufreissung der verschwitzten Halshaut von S. Weber. In seiner Wahrnehmung vergehen nun Minuten, in denen rein gar nichts passiert. Dann erst stürzt sich ein Rinnsaal von Blut aus dem Hautloch, verfolgt die Schweisstropfen. Wortlos, mit aufgerissenen Augen sucht Sonja den Blickkontakt mit dem Fahrer. Der Hilferuf bleibt ihr im Hals stecken, das mobile Datenerfassungs-Gerät gleitet aus ihrer Hand, fällt zu Boden. Die zweite Aufreissung der Haut an der Schläfe ist schlitzförmig, Knochensplitter verfangen sich in den Wundrändern. Die Zeit steht still, die Welt dreht sich nicht mehr, der Fahrer beginnt zu schreien, Sonja fällt auf die Knie, dann zur Seite. Die steife Mütze rollt weg.
Der Mann auf dem Dach schaut nach den zwei Fernschüssen mit ihrer kinetischen Energie von über 60 Metern in der Sekunde (etwa 200 km/h) noch einmal auf den Leuchtpunkt, nimmt seine Konzentration zurück, richtet sich zum Knien auf. Von hier aus sieht er die Einschüsse nicht, diese rundlichen Hautdefekte mit Schürfsaum. Ohne Hast verstaut er das grosskalibrige Gewehr mit Hochpräzisions-Zielfernrohr, gefüllt mit Nitrogengas gegen Beschlagen, in der Möbeleinkaufszentrums-Tasche. Mit dem Tuch unter dem Arm und der Tasche in der Hand verlässt er das Dach, steigt zügig die Treppe hinab, steigt auf sein klappriges graues Velo und rollt davon. Aus der Ferne wehen Rufe und Gehupe an seinen Rücken, von den wenig später heranrasenden Sirenen bekommmt er nichts mehr mit. Er fährt kreuz und quer durch die Quartiere, erreicht den kleinen Platz vor seinem Haus. Der pensionierte Bäcker wirft den gurrenden Tauben wie jeden Tag vor dem Mittagessen noch ein paar Brotkrumen hin. Der weisshaarige Pensionär mit Stock und Panamahut sieht den Mann auf dem Velo, winkt ihm kurz zu. Der Mann fährt in den offenen Hauseingang und hindurch bis in den hübschen und pflanzenwilden Hof. Er schliesst die verwitterte Eisentüre seines Ateliers auf, knippst das Licht im dunklen Raum an. Mit beiden Händen hebt er den fast nicht zu erkennenden, doppelten Holzrostboden an, kippt ihn auf die Seite. Dann öffnet er angestrengt die Falltüre, steigt mit Tuch und Tasche die schmale Treppe in den kühlen Kieselbodenkeller. Mit einem Knopfdruck aktiviert er die Spots und setzt sich in den alten und bequemen Ledersessel. Er schaut auf die Stellwände vor sich, auf die vielen Zettel. Alles vergrösserte Busszettel mit Bedenkfrist. Der Mann steht auf, nimmt einen schwarzen dicken Filzer vom Beistell-Tischchen und quietscht ein dickes Kreuz über S. Weber. Dazu notiert er die Ziffer 1. Dann betrachtet er die anderen Namen, prägt sich diese stumm ein. Schliesslich knirscht er über die alten Kieselsteine zur Wandtafel und schreibt mit Kreide auf die zweite Zeile das aktuelle Datum, einen neuen Namen und wieder die gleiche Bemerkung in der dritten Kolonne "Frist 10 Tage".