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Stachelige Steine
Ich kenne dich nicht. Nicht mehr. Ich sehe dich jeden Tag, sehe dich an mir vorbeigehen, freundlich „hi“ sagen. Manchmal hebst du die Augenbraue, wenn ich meine Haare kürzer trage. Mehr redest du nicht mit mir. Manchmal nimmst du den Hörer ab, wenn ich deine Schwester anrufe, sagst freundlich „hi“ und „ja, sie ist da. Warte einen Moment.“
Letztens hast du mich nach Hause gebracht, wolltest mir einen Song zeigen. Der Discman hat gesponnen und du hast geflucht. Ob ich nicht viel unterwegs bin, hast du gefragt, so partymäßig und ich dich, ob du froh bist, die Schule fast überlebt zu haben. „Ja. Ich hab echt keinen Bock mehr.“ Viel Anderes scheint dich zurzeit nicht zu interessieren, denn mehr haben wir nicht geredet. Aber so richtig kann ich das nicht beurteilen, ich sehe dich ja fast nicht. Ich kenne dich nicht.
Letztens hab ich bei euch gegessen. Wir anderen haben geredet, hatten Spaß. Du bist nur so dagesessen, kauend, wortlos. Während dem Essen soll man ja nicht reden. Seit wann hast du diese guten Manieren? Früher hattest du die nicht.
Früher dachte ich, wir würden gut zusammenpassen, du und ich. Jetzt denk ich das nicht mehr, denn alles, was ich von dir weiß, hat nichts mit mir zu tun, I’m nothing like you. Gegensätze ziehen sich an? Ich weiß es nicht. Ich kenne dich nicht.
Seit einer Ewigkeit fahren wir einmal im Jahr zusammen weg, deine Familie und meine. Für eine Woche. Ich verbringe im ganzen Jahr nicht so viel Zeit mit dir wie in dieser einen Woche. In dieser Zeit ist alles anders, alles ist so wie früher. Vielleicht liegt es daran, dass die Atmosphäre so familiär ist, vielleicht auch am Schnee. Aber plötzlich glaube ich, dass ich mich geirrt hab, dass du dich gar nicht so sehr verändert hast. Und noch mehr. Wenn wir abends zusammensitzen und spielen, wenn ich dabei zum wiederholten Mal haushoch verliere, so wie immer, und du dich opferst, damit ich nicht schon wieder von diesem widerwärtigen Zeug trinken muss, dann beginne ich mich zu erinnern.
Wenn mein Bruder schließlich unter Beweis stellt, dass Essen eine wahre Kunst ist oder sie anfangen, ihre unsinnigen Witze zu erzählen, über Papageien und Ventilatoren, wenn dein Blick dann auf meinen trifft, du die Augenbraue hochziehst und ich genau weiß, was du denkst; dann kann ich mich wieder daran erinnern, was für ein Gefühl das war, damals, als ich 10 war und du 13, als ich 12 war und du 15. Aber dann fahren wir nach Hause und es ist alles wie vorher. Du gehst auf deine Partys, lebst dein Leben und ich, ich kenne dich nicht.
Ich sehe dich an mir vorbeigehen, freundlich „hi“ sagen, manchmal hinterlässt du ein eigenartiges Gefühl in meinem Magen. Keine Schmetterlinge, nicht mehr. Es sind eher Klumpen, wie stachelige Steine. Du bist du etwas geworden, das ich nicht länger verstehe und ich, ich sehe nichts mehr, das ich noch an dir bewundern kann. Ich kann kaum glauben, dass ich damals deinetwegen eine Freundschaft aufs Spiel gesetzt hab. Dass du mir so viel bedeutet hast. Ich hab zu dir aufgesehen, das haben wir beide, der Kleine tut es noch immer. Aber ich, ich kann das nicht mehr. Ich kenne dich nicht.
Manchmal frag ich mich, wie ich mir das eigentlich vorgestellt hab, damals, wie du mal sein wirst, eines Tages, also jetzt. Ich weiß es nicht. Irgendwie anders, irgendwie mehr wie ich. Keine Ahnung, was ich gedacht hab, ich hab gar nicht gedacht. Aber jetzt bist du so und ich, ich kenne dich nicht.
Das hätte ich am wenigsten erwartet, dass du mich so ausschließt, in die entgegengesetzte Richtung drängst. Vielleicht warst du es gar nicht, sondern ich, mit all meinen Plänen, meinen Vorstellungen vom Leben, durch die ich dich abgeschreckt hab, ich meine, so eine Wirkung hab ich auf die meisten Leute. Vielleicht wurden wir auch von einer Strömung erfasst und bei der Flussgabelung durch unglückliche Umstände getrennt, du nach links, ich nach rechts. Du kamst am Atlantik raus, ich am Pazifik, wo es immer weitergeht, ohne Halt und ohne Zurück, vor allem ohne Zurück. Bleiben nur die Erinnerungen. Und die Möglichkeit, dass wir uns wiedertreffen, eines Tages, am Südpol vielleicht. Oder treibst du nach Norden? Ehrlich gesagt ist es mir da oben zu kalt.