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Stadtrundgang in wechselndem Gefieder

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15.03.2008
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Stadtrundgang in wechselndem Gefieder

Laternen standen auf dem abendlichen Platz am Brunnen und blickten kokett aus weichen Lichtinseln. Die Statue auf der Spitze des Brunnens fasste mit der linken Hand einen Dreizack, die andere hielt sie abwehrend den fünfzig Meter entfernten Häusern entgegen. Als fürchtete sie das städtische Wachstum und warnte die Häuser näher zu kommen.
Die Trinker mischten ihr Säuseln mit dem des abfallenden Wassers und torkelten regelmäßig zu dem verstopften Pissoir. Es stank nach Pisse und Erbrochenem, wenn ein Lüftchen von dort herüberwehte. Ich war den ganzen Tag nicht aus dem Viertel heraus gekommen, hatte mich im mir kleinstmöglichem Revier bewegt: Zwischen Waschcenter, Netzcafe und Basketballplatz, - jetzt war ich hier, am Brunnen, wie jeden Freitagabend.
Wenn man einen Kreis um den Mittelpunkt dieser vier Orte zöge, stellte man fest, dass sein Umfang weniger als dreihundert Meter beträgt.
Aus dem Ghettoblaster reichten die legeren Bassfinger französicher Rapmusik durch meine Gehörgänge und massierten die Neuronen. Ich freute mich, nie genug Französisch gelernt zu haben, dass mir das Textverständnis die Freude an den Beats versaute, wie es bei deutschem und amerikanischem Rap der Fall sein konnte.

Mir war wohl zumute, sogar an das Basketballspiel gegen Semir erinnerte ich mich mit leichtem Lächeln.
Er hatte mich natürlich fertig gemacht: 12:3 / 12:5 / 12:3. Ich verbuchte es mir schon als Erfolg wenn ich die Hälfte seiner Punktzahl erreichte. Das kam selten vor.
Semir stand mir von der Crew am nächsten, wir kannten uns seitdem wir einander die Hände zur Räuberleiter reichten um Äpfel zu stibitzen. Wir verliebten uns in ein Mädchen, das dann keiner bekam, versteckten dem unfreundlichen Alten aus unserem Haus seine Pantoffeln, mit denen er uns verdrosch, als er uns erwischte.
Solche Sachen eben, wir wuchsen zusammen auf.
Später stand immer einer Schmiere, wenn der andere Graffitis sprühte. Den Abend als sie uns fickten, half das nichts, sie hatten uns wahrscheinlich schon beobachtet und stellten uns in einer engen Gasse. Wir versuchten gar nicht erst weg zu laufen.
Der Richter kam mit einer dicken Mappe in den Gerichtssaal, in der sich Fotografien unserer Werke befanden, nebst Kostendokumentation der Reinigungen.
Da hatte sich jemand Mühe gegeben! Was hätte ich dafür gegeben, die Mappe zu bekommen – wir haben unsere pieces nie fotografiert. Einige sind heute noch zu sehen, viele sind verschwunden.
Da gab’s nichts mehr zu leugnen, wir wurden verurteilt und Staat bürdete einen unansehnlichen Schuldenberg auf unsere Schultern.
Fortan zog keine Ausrede mehr, die Mütter hielten uns zum Geldverdienen an, wir sollten Lehren beginnen: Als Fleischer, Friseur oder Bäcker – was im Viertel eben so an Arbeit war.
Wir entschieden uns, nichts von alldem zu tun und lieber Gras zu verkaufen, gingen zwar jeden morgen aus dem Haus, trieben uns danach aber auf den Plätzen und Straßen oder in den Cafes rum, dort also, wo unsere Kundschaft war.
Im Laufe der Zeit lernten wir so ein paar Jungs besser kennen, unsere Crew bildete sich, die Typen mit denen wir jetzt noch rumhingen.
Seitdem trafen Semir und ich uns alleine außer zum Basketball nur noch zum Schachspielen, dort machte ich ihn fertig. Wenn wir so alleine zu zweit waren, waren wir irgendwie wie Freunde, zumindest war er der einzige, bei dem ich überlegte, ob die Bezeichnung Freund vielleicht zuträfe.

Der Wind drehte wieder, schneidender Latrinengestank verdrängte die Erinnerungen.

Hinter dem ätzenden Geruch, im Schatten des Windes, kam ein Asphaltschnepfenküken in unsere Richtung geflogen.
Das Gefieder bei H & M & Konsorten eingeholt, die Gesichtsmaske zu dem verzogen, was unter ihresgleichen als gewinnendes Lächeln galt. Aber die Vorzüge der Jugend auf ihrer Seite, mitsamt tiefem Dekollete und unternehmungslustig herausspähenden Brüsten, die im Takt der Schritte hüpften.
Die angenehm langen Beine ließen keine Ahnung von dem erkennen, was ausgewachsene Asphaltschnepfen entsetzt an orangene Südfrüchte denken lässt und an die gezähnte, nagende Zeit.

Wir saßen verteilt über die Stufen des Brunnens auf dem Hansaplatz, rauchten Joints oder Zigaretten, tranken Holsten Pils oder schwarzen Tee.
Einer von uns – wahrscheinlich Murat, der dümmste und großmäuligste – rief das Küken an, ob sie ihren hübschen Hintern zu uns rüberschaffen wolle.
Für einen Moment fielen ihre Gesichtszüge auseinander wie Mikadostäbchen, die schlanken Vogelbeine zitterten. Doch – Disziplin, Schnepfe! – schnell ordnete sie ihre Züge wieder, straffte die gefiederte Gestalt. Sie kam zu uns und zeigte unverlangt ihren Sprachausweis.

Es stellte sich heraus, dass sie grade ihren Bachelor gemacht hatte und für die weiterführende universitäre Ausbildung in die Stadt gekommen war, in unser abgerocktes Viertel, weil es die besten Verkehrsanbindungen bot.
Murat dachte, sie meinte den Straßenstrich und fragte sie fickerig, wie viel Kröten sie für eine Gangbangnummer haben wolle. Sexarbeitende Studentinnen hatten es ihm angetan, vielleicht hoffte er, beim Vögeln würde Intelligenz übertragen.
Das Küken lachte als hätte er einen Witz gemacht. Sie checke, was in ihrer neuen Umgebung so abgehe, zwitscherte sie und fragte, ob sie mal den Joint knistern dürfe.
Klang als wäre sie frisch vom Straßenslangseminar gekommen, aber immerhin rauchte sie anständig. Der Joint war weder heißgeraucht noch Speichelnass, sie hatte ein paar tiefe Züge genommen und eine Weile in der Lunge behalten, bevor sie die süßlich-würzige Wolke in die Dunkelheit blies.
Ich paffte mit, um das Ritual nicht zu stören, das Bewusstsein war mir weit genug.

Der Abend verlief ohne besondere Vorkommnisse. Zwischen der üblichen Melange der Kiezbesucher patrouillierten abgewrackte rumänische Drogenhuren die Straßen entlang.
Aus den offen stehenden Türen der Kneipen klang Musik und untermalte die vor Geschäftigkeit summenden Straßen mit rührseligen Schlagern.
Vor dem Hotel Alt St. Georg rudelten sich an diesem Abend einige Huren zusammen und machten gemeinsam, was ich sie sonst alleine tun sah: Fingernägel feilen, Sonnenblumenkerne kauen, Passanten belästigen, von Passanten belästigt werden.
Gegen elf fuhr ein Cabrio an dem Hotel vorbei. Man kannte sich anscheinend, es flogen ein paar deftige Wort durch die Luft, das Automobil hielt und eine blonde Frau stieg aus.
Sie lief schimpfend auf das Pulk Sexarbeiterinnen zu und sprang ein braunhaariges Riesenweib an, die mit ihrer Statur ebenso gut hätte Holzfällerin werden können.

Der glatzköpfige Begleiter der Blonden folgte ihr, blieb aber in sicherem Abstand stehen und sah tatenlos zu, als die blonde Frau geohrfeigt wurde und keifend zu Boden fiel.
Die Angegriffene jammerte, dass sie Hilfe bräuchte, schubste aber jemanden weg, der sich zwischen die Kontrahentinnen stellen wollte. Es war ein ganz schönes Getöse, fast jeder blieb stehen und verrenkte sich den Hals, um möglichst nichts zu verpassen. Wir hatten einwandfreie Sicht. Von irgendwo blitzte eine Fotokamera.

„Was ist hier los?“ brüllte der Beschützer und Bändiger seiner Huren, der aus dem Hotel herauskam und Hulk Hogan erstaunlich ähnlich sah: in schreiend schräger Metalkluft, mit langem Haupt- und Barthaar und Sonnenbrille.
Der alte hatte offensichtlich Orientierungsprobleme, sein Rumpf drehte sich abwechselnd zu den Beteiligten des Aufruhrs, er schien Entscheidungsschwierigkeiten zu haben, wer hier zu maßregeln war.
Seine Mädchen schnatterten durcheinander, der Schlichter versuchte ihm etwas zu erklären, wobei er übertrieben gestikulierte, nur der Glatzkopf blieb stumm.
Dann, vielleicht nur um endlich etwas zu tun oder weil der gerade in Reichweite war, schlug er dem Schlichter seine Faust ins Gesicht. Der nahm den Schlag scheinbar unbewegt entgegen, ging zwei, drei Schritte zurück, seltsam starr wie ein Automat, dann hob er wie grüßend die Hand, bevor er an der Wand des Hotels zusammenbrach.

Der alte Zuhälter stapfte in das Hotel zurück, die Blonde rappelte sich endlich auf und gemeinsam mit ihrem Glatzkopf flüchteten sie in den Wagen. Wir lachten, als das Cabrio unter den Beschimpfungen der Nutten fort fuhr.
Jeder auf dem Platz schien zu lachen, es fehlte nur noch, dass welche geklatscht hätten.

„Willkommen in Sankt Georg, Vögelchen.“ flüsterte ich der Kleinen ins Ohr und strahlte sie dabei an, als hätte sie einen Hauptgewinn. Sie spreizte ganz sinnlos und reizend das Gefieder, machte Bewegungen, die halb ausweichen und halb tanzen waren, katzengleich anschmiegsam, aber auch von rückgehaltener Gefahr, wie eine Kobra, die zu Flötenspiel aufsteigt.
Der Anblick zartester Vogelfilets, dazu der orientalisch starke schwarze Tee und die absurde Show: Es wurde mir heiß im Schädel, die graue Masse rutschte wie Öl auf einer Bratpfanne.
„Das war der Tusch!“ lachte ich. „Die Freitagnachtvorstellung hat begonnen. Komm mit Vögelchen, ich führ dich durchs Programm.“

Gesagt, getan. Pustekuchen.
Semir, der den ganzen Abend nicht aufgetaucht war, kam aus dem Dunkel wie ein Spion oder Attentäter, drängelte sich zwischen mich und die junge Schnepfe und legte uns mit einer Vertraulichkeit, die mich erstarren ließ, die Arme um die Schultern.
„Ja, Baby, jetzt kommts nur drauf an, wer dir die besten Plätze beschaffen kann.“ ölte der schamlose.
Der Rest der Crew wartete gespannt, wie ich auf die Herausforderung reagieren würde.
Semir malte geilere pieces, ich verdiente mehr Kohle mit Gras, wir beide stemmten ähnlich viel Eisen, alles Sachen, die nicht zwischen uns standen, wenn wir alleine waren.
Aber wenn wir in der Crew waren, entstand eine Rivalität zwischen uns, der sich keiner entziehen konnte, ohne Boden zu verlieren.

Die Kleine war schneller als ich, vielleicht intuitiv erfasste sie die Situation und ihre Möglichkeiten, zwitscherte eine belanglose Antwort, tauchte unter Semirs Arm weg, drängelte sich in unsere Mitte, hakte sich rechts und links ein und zog uns Richtung Steindamm.
„Na dann zeigt mal was ihr zu bieten habt!“ leitete sie die Alpha-Männchen-Energie auf die Bahn, wo sie in ihrem Sinne hingehörte: reizende Weibchen zu beeindrucken.


Bevor ich meinen Fuß auf den sündigen Bordstein setzte, blickte ich über die Schulter auf die Statue, ob die Rat wüsste wie ich dieses Spiel gewinnen könnte. Aber sie stand nur da wie stets, vordergründig als Beherrscherin der Szenerie, doch eigentlich nur mit Dreizack bewaffnet, um sich solchen Geziefers wie wir es sind zu erwehren.
Den Blick über die Hausdächer gerichtet, stand es ihr ins Gesicht geschrieben: Lasst mich in Frieden transzendieren.

Arrogante Statue, soll sie transzendieren bis ihr grünspaniger Dreizack zerstäubt.
(Oder von Metalldieben geklaut wird, wenn der Kupferpreis weitersteigt!)

„Hey Schätzchen, zwei gleich! Gib einen ab!“ rief uns eine unglaublich breithüftige
Hure entgegen, kaum dass wir den Bürgersteig erreichten.
Semir winkte ab, nicht wenn er dafür Geld bekäme, lachte er.
„Keine Chance - ich glaube noch an Liebe!“
trug ich zum fröhlichen Austausch bei.
„Die kannste bekommen,“ antwortete sie süffisant. „Ich hab alles im Angebot: mit oder ohne Verhüterli, von vorn oder hinten, sogar mit Liebe, Süßer!“
Diese nette Zusammenstellung war mir ein schiefes Lächeln wert, ich schenkte es ihr.
Wir marschierten im Gleichschritt die wenigen Meter zum Steindamm, gingen wie ein Dreiradpanzer in die Kurve und tauchten ein in die gesichtsvolle Masse der freitäglichen Sex- und Drogentouristen.
Sogleich löste sich die Dreiheit auf, zu dicht strömten die Menschenpartikel.
„Wohin jetzt?“ fragte das Mädchen.
„Hafencity!“ beeilte ich mich Semir zuvor zu kommen.
Ihrem Blick nach zu urteilen, konnte sie mit dem Namen nichts anfangen.
„Ein neues Viertel und eines der größten Bauvorhaben Europas...“ begann ich zahm und lahm.
„Du willst ihr ne Baustelle zeigen, das ist dein Trumpf?“ höhnte Semir dazwischen.
„Nur einer der meinen, und auch dieser ist mit schlichter Besichtigung nicht abzutun.
Denn gerade weil so neu und frisch, gibt es dort Nichtgesehenes und unterhaltsame Skurrilitäten.“ rechtfertigte ich mich steif.
Sie schien nicht überzeugt, Semir schlug vor auf die Reeperbahn zu gehen.
„Sankt Pauli, wie originell!“ warf ich ein.
„Reeperbahn...“ überlegte das Vögelchen „kennt man doch: viele Partygänger, schlechte Musik und billiger Alkohol - richtig?“ Semir bejahte.
„Gar nicht schlecht als erste Station. Danach können wir zur Baustelle gehen, wenn dir bis dahin nichts besseres einfiel.“
Ich versuchte ein Gesicht als gefiele mir die Aussicht hinzugehen, wo sie hinzugehen entschied. Innerlich stöhnte ich: Von einem Kiez zum nächsten. Na Bravo!
Wir querten die Masse, die zunehmend zu einer gesichtslosen wurde und nahmen beim Hauptbahnhof ein Taxi. Der Fahrer schmiss uns auf der Reeperbahn vorm Clochard raus, wie Semir verlangte.

Den kurzen Treppengang empor, der sich einmal rechtsdrehend wendelte, dann hinein in das Etablissement. Das Clochard lag im ersten Stock, eine stickige Höhle, die nur zwei Öffnungen besitzt: Den Eingang und, wenn man sich neunzig Grad nach rechts drehte, dem gegenüberliegend eine niedrige Tür, die auf die Dachterrasse hinausführte.
Tags fällt ein schmaler Lichtstreifen durch die Dachterrassentür, sonst liegt der Raum in funzeligem Halbdunkel. An der Bar saßen drei irokesige Punks vor drei halbleeren Biergläsern. (Mit einem Blick: Die waren nicht halbvoll! Denen fehlte die Kraft Anarchie & Alkohol auch nur zu denken. „Huch, traurige Stachelschweine,“ entfuhrs dem Vögelchen.)
Die Wände waren unter Stickern und Kritzeleien kaum zu erkennen, Tische und Stühle wirken ungeschlacht wie aus Felsen geschlagen, in einer kleinen Nische neben dem Eingang war auf Brusthöhe ein Holzbrett mit einem langen Messer darauf. Im Winter gesellen sich Brotlaib und Schmalztopf dazu, zum kostenlosen Schmalzbrote schmieren.

Semir nutzte die Gelegenheit, dem Küken die Tür aufzuhalten, was in Anbetracht des abgefuckten Ambientes durchaus seinen Reiz hatte, wie ich neidvoll zugestand.
Er deutete sowohl Verbeugung als auch Hutlüften an, was ihr ein zufriedenes Kichern entlockte. Da war erst mal nichts zu machen, hier war sein Revier, er fühlte sich wohl und bekam Einfälle. Sollten die beiden ein paar Momente unter sich sein, ich war besser kurz abwesend als jetzt in ihrer Gegenwart, wo ich unweigerlich eine schlechtere Figur abgeben würde. Es kam aufs richtige Timing an. Ich bedeutete den beiden vorzugehen und kümmerte mich um hochprozentige Zustandsveränderer.

Als ich die Wässerchen auf die Dachterrasse balancierte, hörte ich aus Versehen und mit größtem Vergnügen einen Gesprächsausschnitt. Semir sprach gerade von einer unglücklichen Liebe, die er erlebt hatte.
Das Vögelchen bekam ganz große Augen und schien kurz davor, ihm vor Mitgefühl ihre Hand auf seine zu legen. Da hätte er ihr fast ein Kuckucksei ins Nest gelegt!
Ich witterte meine Sabotagechance, knallte die sechs Kurzen wie ungeschickt auf den Tisch und fragte ungehobelt nach, worum es gerade gehe. (Wusste ich längst, aber ich hoffte auf ein Stichwort, aus dem heraus ich organischen Gesprächsverlauf imitieren könnte.)
Semir durchschaute mich und blickte verärgert über die geile Meile, womit er Zeit für eine geschickte Lüge zu schinden versuchte.

Das Schnepfenküken sang in reizender Einfalt Einzelheiten und lieferte das Material, das ich brauchte. Semir hatte fast die Wahrheit erzählt, wie es routinierte Lügner tun, nur in einem Punkt wandelte er ab: Dass er nicht wüsste, warum sie gegangen.
„Ach ja, diese unglückliche Liebe!“ sagte ich, gewichtig mit dem Kopf nickend. „Ich erinnere mich an diese grausame Frau: Sie verließ ihn als sie erfuhr, dass er nur mit ihr zusammen war, weil er ne fette Blonde ficken wollte.“ Kurze Wirkpause.
Versteh’ einer die Frauen, was Semir?“ zwinkerte ich ihm zu.
Ihre Vogelaugen, die nach Semirs Erzählung eher an Rehaugen erinnerten, samtigen Schimmer inklusive, weiteten sich noch ein Stück.
„Semir, das stimmt doch nicht!“ entrüstete sie sich.
„Er wollte sie nicht mal wegen der sinnlichen Erfahrung, sondern nur als Symbol für deutschen Wohlstand penetrieren.“ legte ich schnell noch einen nach.
An dem Punkt angelangt, wo Leugnen die Sachlage nur verschlimmerte, blickte er sie von unten mit seinem Latin-Lover-Blick unverschämt an und sagte lächelnd: „doch.“

Sie quietschte vor Lachen, drohte ihm spielerisch mit dem Finger und sagte unter Lachanfällen: „du böser böser Junge.“ Ich staunte: Die war selbst ein Kuckuck!
Als ich aus dem Staunen rauskam stellte sich mir die unangenehme Vorstellung ein, wie er unser blondes Vögelchen schwitzend vögelte, während sie böser Junge, ja, böser Junge, tiefer stöhnte.
Semir war selbst erstaunt, verdutzt blickte er sie an, dann breitete sich ein Ölteppichgrinsen über sein Gesicht, das er mir zuwendete.
Ich bekam Lust ihm den Schnaps ins Gesicht zu schütten, riss mich aber zusammen und brachte einen ritterlichen Toast aus: „Auf den bösen Jungen!“
Sodann kippte ich das ekle Zeug runter. Wollen wir doch mal sehen ob wir nicht ne Ebene finden, auf der ich triumphiere, redete ich meiner beginnenden Seelenverstimmung zu.
Wir killten den anderen Kurzen, Semir holte die nächste Runde, also wieder zwei für jeden: drunter machen wir’s nicht. Und wie wir dann die Ebenen wechselten!

Zumindest eine auch auf physischer Ebene, nämlich erst die paar Stufen in den Clochard hinab, wo uns die stachelschweinige Barbesetzung durch versoffen-müde Augen musterte, vorbei an dem stumpfen Riesen, der in der Mitte des Raumes stand und jeden fragte, ob er was brauchte (ich wollte schon was fragen, begriff’s dann aber: einer von dieser Sorte), die Treppe hinunter, die sich nun linksherum wendelte, wie unser Küken mit torkelnder Artikulation feststellte. Endlich auf der Straße.
Dort ein großes stolzieren und posieren, viel Licht und Musik, bisweilen ein aufheulender Automotor plus quietschende Reifen. Albernes Menschentum. Bordsteinschwalben, Papageien und Pfauen hauptsächlich.
„Bidde schön mein reizendes Fräulein, biete freundlichst meinen Arm.“
Imitierte ich einen Mann aus der Zeit, in der Männer sich Charme angesichts ihrer gesellschaftlichen Vormachtstellung noch ungestraft leisten konnten. Die fortschreitende Emanzipation reduzierte die Wirkmacht von derlei Manövern, und durch das flexibel reagierende weibliche Geschlecht war man immer in Gefahr, ins lächerliche abzurutschen. Es brauchte nur die Frau keine Lady zu sein und beispielsweise albern zu kichern, dann wurde das Benehmen des Gentlemans zum Getue.
Ohne Ladies keine Gentlemen – was für Erleuchtungen!

Sie nahm ihn an, wenn vielleicht auch nur, um den zunehmend selbstbestimmt auftretenden Füßen eine Stabilität entgegenzusetzen. Fortschreitende Separierung, jammerte unser Küken, es emanzipieren sich die Füße von mir!

Als sich das Gedächtnis zurückmeldete und darauf aufmerksam machte, dass nun der Gang zur Hafencity anstünde, bekam ein Tropfen des Menschenstroms plötzlich ein Gesicht, steuerte auf mich zu und redete von einer lässigen Privatparty, zu der er unterwegs sei.
Nach mühsamer Pupillenscharfstellung erkannte ich die Gestalt als weitläufigst bekannt und witterte die Gelegenheit, die Hafencity-Besichtigung unter den Tisch fallen zu lassen.
(Unvergleichlich: Nachts durch die leeren Straßenschluchten zu gehen, über breite, unbefahrene Straßen, vorbei an stinkteuren neuen Häusern, die heimische Feuilletons als modern und grandios bezeichnen, nebenbei in rätselhaft hergerichtete Räume spähen, die ihre Pracht schamlos mittels mannsgroßes Fenster präsentieren. In einem steht mittig ein hergerichteter Tisch, mit blitzenden Weingläsern und polierten Tellern unter schweren Kristalllüstern, als würde dort in Kürze für festlich gekleidete Patrizier barock aufgetischt.
Ein anderer ist ein kleines Schwimmbad, das von unter Wasser mit wechselnden Farben beleuchtet wird und an dessen Rand Liegen stehen, darauf zurückgeschlagene Handtücher liegen. Insgesamt umfängt einen nach längerem herumwandern in diesem Reichenhabitat eine Atmosphäre wie bei der Truman-Show, wenn die Statisten gleichzeitig Betriebsurlaub machen oder, um es märchenhafter auszudrücken: Wie in einer verzauberten Stadt, deren Bewohner in einen unfreiwilligen Schlaf gehext wurden, indes die Gegenstände in einer Zeitblase hängen und wirken wie am ersten Tag.)

Meine Begeisterung für dieses Stelldichein war bereits merklich abgeflaut, der wollte ich nix vor die Füße werfen.
Also keine Perlen vor das Vögelchen, die schon Schnepfe und Kuckuck war, die sich genauso gut als Elster herausstellen könnte. Vielmehr Piero hinterher – wie sich der Tropf vorstellte – und also zur Party.

Sie fand in einer großen leergeräumten Altbauwohnung statt, in der ungefähr dreißig Leute waren. Die Anwesenden trugen pastellfarbene Kleider, durchweg türkis, rosa und hellblau, also wars anscheinend eine Themenparty.
Man ballte sich vor wandfüllenden Videoprojektionen, die auf irritierende Weise nichts mit der gespielten Musik zu tun hatten und in der Küche, wo bei unserem Eintreffen eine menschliche Pyramide zusammenbrach.
Die restlichen Gäste lungerten in der Nähe optischer Ausgabegeräte herum, spielten dort Videospiele der ersten Generation (ganz oldschool, klar: old’s cool!) oder sahen Filme in Endlosschleife, die vermutlich künstlerischen Anspruch hatten. Es wurde getrunken wie bei einem Scheunenfest, Joints gingen von Hand zu Hand, nicht wenige brutal erweiterte Pupillen verrieten die vorherige Einnahme schneller Mittelchen.
Semir scannte die Oberbekleidung der Mädchen nach hübschen Füllungen. Das Vögelchen an meinem Arm wurde ganz unruhig, als wollte sie sich unter die Leute mischen, traute sich aber nicht.
Los Falkenmädchen, flieg! flüsterte ich ihr ins Ohr. Ich hob den angewinkelten Arm, um sie zum Absprung zu ermuntern. Sie wollte gehen, also sollte sie.
Die Fälkin flatterte unsicher zur provisorisch auf einem Malertisch errichteten Bar. Kaum dockte sie an, bekam sie einen Stuhl untergeschoben und einen kurzen vorgesetzt.
Einmal blickte sie sich noch um, doch ich wandte mich ab und dachte an die wundersamen Räume der Hafencity.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie unser Vögelchen von jemandem vereinnahmt wurde, der sie für ein leichtes Opfer zu halten schien und ihr auf einem Taschenspiegel eine großzügige weiße Linie zurechtzog. Es interessierte mich kaum, die von ihr ausgehende Bannwirkung war erloschen.
Der Lack war ab, das Gefieder stumpf geworden. Knips, aus.
Semir schien es genauso zu gehen, er hatte nicht mal bemerkt, dass unsere kleine auf Abwegen war. Er stand bei einer Gruppe junger Männer, alle in rosa und hellblau gekleidet, was ihnen Uniformität verlieh und mich an eine Teddybäreingreiftruppe denken ließ.
Schade eigentlich, dass sie nicht zum Raben wurde, sinnierte ich, dies Gefieder hätte ich noch gern gesehen.
Es war wie eine Hypnose, psychologisch interessant, aber im Vergleich zum Schlendern in menschenleeren Straßen sicher eine Zeitverschwendung.

Semir riss ätzende Witze über die Klamottenfarbe der Teddys, spekulierte dreckig grinsend über die sexuelle Orientierung der Jungs, tätschelte einem den Hintern und fragte, wo der Dark-Room sei, er wolle für Erleuchtung sorgen.
Da kann man mal sehen, was so alles in einem steckt! frotzelte er.
Man merkte den Burschen an, dass sie auf derlei Attacken vollkommen unvorbereitet und dementsprechend verunsichert waren. Bevor es Semir gelang, die zahm und gutmütig wirkenden Pastellfreunde gegen sich aufzubringen – und es würde gelingen, ich sah wie wohl er sich fühlte, dann bekam er Einfälle -, nahm ich ihn bei der Schulter und hielt ihm einen grasgefüllten Blunt vor die Nase.
„Draußen rauchen“ sagte ich, als er danach greifen wollte. Semir hob eine Augenbraue, blickte sich um, sah das Vögelchen, das sich zu kokaininduzierten Höhenflügen aufschwang, verstand, grinste und ging zur Tür.
Hatte sie uns vor sich und wir uns vor uns selbst gerettet! So kann man seine Zeit auch verschwenden, pardon, verwenden.
Ich klopfte Semir auf die Schulter, hielt ihm den Blunt vor die Nase wie der Kutscher seinem Gaul die Möhre an der Angel und folgte ihm auf die Straße.

 
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Kubus,

die Geschichte hat mir recht gut gefallen. Anfangs hattest du regelmäßige Stilbrüche drin - "Pisse", "Gefickt", etc. - aber hast dich mehr und mehr dem frotzelnd-abgeklärten Stil verschrieben (Bruhahar, welch Wortspiel!) und dann gings auch.

Mein Tipp: Anfang etwas absenken, der [edit: Anfang] ist zu gehoben.

Beim Ende denke ich mir so, dass die Message doch an mir vorbei gefahren ist.

„Draußen rauchen“ sagte ich, als er danach greifen wollte. Semir hob eine Augenbraue, blickte sich um, sah das Vögelchen, das sich zu kokaininduzierten Höhenflügen aufschwang, verstand, grinste und ging zur Tür.
Hatte sie uns vor sich und wir uns vor uns selbst gerettet! So kann man seine Zeit auch verschwenden, pardon, verwenden.
Mir wird nicht ganz klar, was Semir verstand. Vielleicht, dass das "Vögelchen" sie zu einer ähh, speziellen Junkifizierungsstelle geführt hat?

Gefallen haben mir allem die Umschreibungen durch Vogelarten. Das macht die Geschichte lebendig.

Gern gelesen,
-- floritiv.

 

hi floritiv.

freut mich ungemein, dass die story gefiel! ich versuchte mich jetzt das dritte mal an einer etwas längeren geschichte, die vorhergehenden wurden eher als zäh empfunden.

meinst du mit deinem tipp speziell die stilbrüche oder ist es dir allgemein zu abgehoben?

bei der von dir zitierten stelle begreift semir, dass sich das "vögelchen" anderweitig umsieht und weitere mühe umsonst ist, weswegen dann beide die party verlassen (die für sie eine "unnatürliche" umgebung ist).
das wollte ich zumindest ausdrücken. :)

danke für die rückmeldung.

Kubus

 

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