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Stammkundschaft
Es ist ein warmer Tag, der erste in diesem Jahr. In dem Blattwerk der großen Linden haben sich Sperlinge ihr Nest gebaut. Ihr Gezwitscher vermischt sich mit dem Verkehrslärm, den der Wind aus der Innenstadt herüberweht. Auf der Kreuzung am Ende der kleinen Nebenstraße staut sich der Verkehr zum Feierabend. Doch hier, abseits der Bürohochhäuser und Einkaufszentren, fahren kaum Autos.
Die Cafés sind gut besucht. Die Menschen genießen die letzten Strahlen der Abendsonne, die gerade hinter dem dreistöckigen Backsteingebäude verschwindet. Im Erdgeschoss des Wohnblockes befindet sich eine kleine Ladenzeile; ein Schuster, ein Bäcker, ein Kiosk und das Geschäft mit der gestreiften Markise. Die Fassade macht hier einen kleinen Knick weg von der Straße. Das große Schaufenster liegt im Schatten, die Druckbuchstaben lassen sich nur aus der Nähe entziffern: Alfred Krogmann Lebensmittel, Kurz- und Tabakwaren.
Der Laden ist klein und dunkel, eine Tiefkühltruhe summt. Hinter der massiven Theke mit der Registrierkasse steht ein großer Mann mit blauen Augen. Er steht dort fast jeden Tag seit achtunddreißig Jahren. Gerade trägt er die Bestellnummer für Zigarillos in eine Liste ein. Sauber und schnörkellos, in jedes Kästchen eine Zahl. Eigentlich verkauft er nur Zigarillos und Kaffee, der Rest ist Zierde; verstaubt in den Regalen, bis das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist.
Die Türglocke erklingt und die Lippen des Mannes entblößen zwei Reihen weißer Zähne. Er lächelt oft, das ist gut fürs Geschäft.
"Frau Graf, wie geht es Ihnen?"
Die alte Dame geht gebückt, ihre Rechte umkrallt den Knauf eines Spazierstockes. Für einen Augenblick sieht sie sich unsicher um, dann gewöhnen sich ihre Augen an das Halbdunkel.
"Herr Krogmann. Danke... Es geht."
Er kommt hinter der Theke hervor und ergreift ihre freie Hand. Totes Fleisch, denkt er.
"Das liegt bestimmt am Wetter. Heute war auch ein ausgesprochen warmer Tag."
Sein Blick fällt nach draußen. Die Sonne wirft lange Schatten auf den Asphalt.
"Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?", fragt er und lässt ihre Hand wieder los.
"Nein. Nein, danke..."
Sie fährt sich durch das zerzauste Haar und versucht zu lächeln. Ihre Lippen zittern noch, als sie den Blick senkt.
"Ja, ja man wird leider nicht jünger", sagt er mit einem Seufzer.
"Sie müssen entschuldigen, es geht mir heute... Es geht mir heute wirklich nicht so gut."
Wieder wandern die knochigen Finger über ihren Kopf, ziehen nervös an den dünnen, grauen Spitzen.
"Das wird schon wieder, glauben Sie mir."
Er lässt einige Sekunden verstreichen, bevor er fortfährt.
"Was kann ich denn für Sie tun, Frau Graf? Das Übliche? Ich habe heute Morgen eine neue Lieferung Kaffee bekommen. Ein Aroma", seine Gesichtszüge verziehen sich genießerisch, "das sage ich Ihnen."
Frau Graf nickt wortlos und Krogmann glaubt ein trockenes Schlucken zu hören. Wie ein ausgehungerter Köter, dem man ein saftiges Steak vor die Nase hält, denkt er und sein Lächeln verbreitert sich zu einem Grinsen. Er greift unter die Theke und holt zwei Pakete hervor, die er bereits am Nachmittag abgepackt hat. Nach fast vierzig Jahren im Geschäft weiß er, wann die Kunden zu ihm kommen.
"Ein oder zwei Pfund?"
"Zwei...", antwortet Frau Graf und fingert die Geldscheine aus ihrem Portemonnaie. Der Kaffee ist teuer, es ist eine spezielle Sorte. Die Nachfrage bestimmt das Angebot.
"Darf es sonst noch etwas sein?", fragt Krogmann, doch die Alte hat sich schon abgewendet.
"Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Frau Graf. Und beehren Sie mich bald wieder."
Sie murmelt noch etwas zum Abschied, doch die Türglocke übertönt ihre Worte. Krogmann sieht ihr nach, wie sie sich die Straße hinunterquält. Schritt für Schritt, einen langen Schatten hinter sich herziehend. Ihre Rechte umklammert noch immer den Stock, die Linke presst den Kaffee gegen ihre Brust. Wie einen kleinen Schatz.
Die muss ich im Auge behalten, denkt Krogmann und legt die hohe Stirn in Falten. Er kennt seine Kunden und er kennt die Symptome: der hektisch flackernde Blick, die nervösen, unsicheren Gesten.
Nach der Sache mit dem alten Paulsen kann er sich keinen Fehler mehr erlauben. Es waren zu viele Fragen gestellt worden. Wer hätte auch ahnen können, dass Paulsens Sohn sich nach über zwanzig Jahren entschließt, wieder Kontakt zu seinem alten Herrn aufzunehmen.
Krogmann schüttelt den Kopf, Angehörige sind wirklich Gift für das Geschäft, vor allem wenn sie Zigarillos rauchen.
Sorgfältig notiert er den Verkauf von zwei Pfund Kaffee in einem Ringbuchordner und hängt das Geschlossen-Schild ins Schaufenster. Der Verkauf ist für heute beendet, doch die Arbeit geht weiter.
Ein schwarzer Vorhang trennt den Verkaufsraum von dem fensterlosen Hinterzimmer ab. Die Hitze des Tages hat sich hier gesammelt, die Luft ist stickig und warm. Auf der großen Arbeitsplatte liegen Kaffeepakete und Zigarillos, daneben mehrere Löffel, Messbecher und eine Waagschale. Ein knappes Dutzend Einmachgläser stehen auf einem Holzregal. Die meisten enthalten Pulver oder durchsichtige Flüssigkeiten, in einem befinden sich kleine, glanzlose Klumpen.
Krogmann nimmt eine der Zigarillos und drückt vorsichtig den Tabak heraus. Er lässt sich Zeit damit, geht behutsam vor, denn das trockene Papier darf keine Risse bekommen. Tabak und weiße Steine werden im richtigen Verhältnis gemischt. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Sein Blick fällt auf die Uhr, fünf Zigarillos muss er fertig machen. Herr Gravensen wird morgen wieder seine Dosis brauchen.