Stanley
Manche Menschen erzählen, ich wäre nicht mehr ganz dicht. Ob sie das glauben wollen, können Sie am Ende der Geschichte entscheiden. Ich sehe heute die Gesichter dieser Menschen vor mir, wie sie mich wie Puppen mit großen Knopfaugen anstarren und mir so lange hinterhergaffen, bis ich ihrem Blickfeld entschwunden bin. Ich kann sie hören, wie sie flüstern. Hören wie sie tuscheln und lästern: „Sieh nur, da kommt dieser Dirk. Ja, genau! Dirk Jakobs, der nicht mehr ganz dicht ist.“ Glauben Sie mir, lieber Leser, mir ging es wirklich bestens. Vor mir brauchte niemand Angst zu haben. Im Gegensatz zu meinem Mitbewohner Stanley Preller, war ich stets der Vernünftige. Gefahrensituationen waren von mir stets zu meiden, ich ging jedem Streit aus dem Weg, wollte mich nicht in Schlägereien verwickeln lassen, da mir meine Nase persönlich zu teuer war.
Ich lebte fünf Jahre mit Stanley zusammen. Eigentlich war er auch ein ganz netter Kerl. Wirklich sympathisch. Wenn ich wüsste, ob er noch leben würde, dann könnte ich vielleicht Gewissheit erlangen, ihn eines Tages wiederzutreffen. Ich würde ihn fragen, warum er mich damals verraten hat. Warum er mich betrogen und sitzengelassen hat. Ja, der arme Kerl war eines Tages einfach abgehauen und ließ mich im Stich. Ich habe keine Ahnung, wohin es seine Flucht getrieben hat. Es gab nichts mehr, das ihn hier noch gehalten hätte. Sein Leben war zerfressen von Gewalt und einem ständigen Absitzen im Warteraum der Arbeitsagentur.
Menschen gegenüber war er nie besonders nett, das kann ich Ihnen sagen. Zumindest mir und meinen Freunden hatte er sich auch ab und zu mal als Mensch offenbart. Über die Jahre, die wir zusammenlebten, war er fast wie ein Bruder für mich. Er passte auf, dass ich nicht zu viel Mist trieb oder mir falsche Freunde suchte. Stanley kannte sich aus mit Menschen, mit Frauen und dem Leben – zumindest behauptete er das. Er glaubte zu wissen, auf was man Acht geben musste und wem gegenüber Vorsicht geboten war. Er wurde vielen Leuten schnell skeptisch gegenüber, was damit zu tun haben musste, dass er in der Vergangenheit einfach nur an die falschen Leute geraten war.
Manchmal fand ich an seinem Willen, auf mich aufzupassen und mich zu beschützen, Gefallen, aber dieser gute Wille hatte auch oftmals den Nebeneffekt, dass ich mich etwas bevormundet fühlte. Leider hatte ich nie so richtig den Mumm dazu, ihm das zu sagen, aus Angst, er könnte seine Beherrschung verlieren.
Meiner Freundin Anne gegenüber war er ebenfalls misstrauisch. Er konnte sie nicht leiden, was ihm aber bei fast allen Frauen so ging. Musste wohl an den unzähligen missglückten Beziehungen liegen, die er mit Weibern geführt hatte, die sich nur für sein Geld oder seinen Schwanz interessierten. Nicht einmal seiner Mutter vertraute er.
Es gab einen Vorfall aus seiner Kindheit, von dem er mir einmal erzählt hatte, als wir eines Abends auf unserem Balkon saßen und uns dem Genuss von Tabak und alkoholischen Getränken hingaben. Nur unter Alkohol wurde Stanley ungewohnt redseelig, so dass er seine menschliche Seite auspackte. Und manchmal kamen seine Erzählungen richtig tief aus der Seele.
Stanleys Vater starb an einem Herzinfarkt, da war er gerade mal sechs Jahre alt.
Seine Mutter, streng katholisch, ging jeden Sonntag in die Kirche, zur Messe und zu Allem, was ihr Glauben schenkte, eines Tages vor den Pforten des Himmels stehen zu können. Jeden Morgen hatte man gefälligst um sechs Uhr aufzustehen und zehn Rosenkränze zu beten. Abends ging es spätestens acht Uhr ins Bett, selbst als Stanley schon vierzehn Jahre alt war. Der Kontakt zu Gleichaltrigen des anderen Geschlechts wurde so gut es nur ging unterbunden. Ich denke, dass es unter anderem auch darauf zurückzuführen war, dass er mit Mädchen und Frauen einfach nicht umgehen konnte. Unzüchtiges Verhalten wurde entweder mit Prügel oder mit drei Stunden im Keller bestraft. Schlimmer war es bei Drogen wie Zigaretten oder Alkohol. Gnade ihm Gott, sollte Stanley jemals rauchen. Mutter hätte es gerochen.
Als Stanley vierzehn Jahren alt war, hatte sie ihn einmal beim Masturbieren erwischt. Es war so eine Angewohnheit von ihr, zu glauben, sie hätte das Recht dazu, ohne anzuklopfen in sein Zimmer einzutreten. Stanley fiel vor Schreck fast von seinem Stuhl, als sie hereinplatzte und sah, wie er seinen Schwanz mit der Hand umklammert hielt.
Seine Mutter drehte völlig durch, brüllte das gesamte Haus zusammen und zerrte Stanley am Ohrläppchen in Vaters alte Werkstatt. Er hatte nicht einmal Gelegenheit dazu gehabt, sein bestes Stück wieder einzupacken. Und er schrie vor Schmerzen und bettelte seine Mutter um Verzeihung, es würde nie wieder passieren und er würde freiwillig hundert Rosenkränze ohne Pause beten.
Doch seine Mutter ließ nicht locker. Sie schnappte sich Stanleys Schwanz und spannte ihn in Vaters alten Schraubstock. Es waren Schmerzen, die mir Stanley mit Worten gar nicht erläutern konnte. Sie spannte ihm das Ding so weit ein, dass er sich nicht mehr losreißen konnte und demontierte den Hebel, mit dem man den Schraubstock wieder hätte öffnen können.
Stanley brüllte, dass er glaubte, sein Zwerchfell würde platzen. Seine Mutter wollte anschließend wieder zurück in die Wohnung gehen, nachdem sie Vaters Heckenschere neben den Schraubstock gelegt hatte. Sie hielt nur noch einmal in der Tür inne und sagte: „Du kannst dir jetzt überlegen, ob du lieber verhungern willst, oder dir deinen Pimmel abschneidest. Alles klar?“
Stanley fing an zu heulen und zu wimmern. Diese Qualen wollten ihn nicht zu Wort kommen lassen.
„Du brauchst diesen Lümmel nicht, Sohn“, sagte seine Mutter. „Weil du nämlich so lange, wie ich lebe bei mir zu Hause bleiben wirst, um für mich zu sorgen. Gott wird dir beistehen, denn das ist seine Bestimmung, die er dir auferlegt hat.“
Und danach war sie verschwunden und ließ ihren heulenden Sohn im Schraubstock eingespannt zurück.
Stanley erzählte mir, dass er an diesem Tag beschlossen hatte von zu Hause abzuhauen. Nach stundenlangem Ausharren und scheinbar endlosen Schmerzen hatte er es schließlich geschafft mit dem Werkzeug, das überall in Vaters Werkstatt lag, den Schraubstock aufzubrechen und abzuhauen. Was danach folgte, war Flucht, Jugendheim, eine abgebrochene Ausbildung und schließlich eine unterbezahlte Arbeit als Pauschalkraft in einem Kaufhaus.
Gott hatte ihn wahrlich nicht dafür belohnt, dass er sich dem Gebot, seine Eltern lieben zu müssen, widersetzt hatte. Das Glück blieb ihm immer verwehrt. Er hatte Stress mit seinen Kollegen, mit seinen Chefs und natürlich mit den Frauen.
Wenn Stanley seine Geschichten erzählte, konnte ich mich immer richtig gut in ihn hineinversetzen, fast als wäre man mittendrin und würde das Geschehene selber erleben. Teilweise dachte ich noch lange Zeit nach den Geschichten über seine Worte nach. Und nicht selten hatte ich das Gefühl, seine Erzählungen bestens nachempfinden zu können, so wie meine eigene Kindheit.
Wir saßen oft auf unserem Balkon und vertrieben uns die Abende durch gepflegte Diskussionen. Die Nachbarn schauten manchmal ganz komisch und misstrauisch zu uns, als wären wir die seltsamsten Geschöpfe auf Erden. Ich habe keine Ahnung, was die wohl über uns gedacht haben, aber wie dem auch sei, es war uns relativ egal.
Wir hatten nie große Probleme in unserem Zusammenleben. Wir teilten uns gerecht in die Hausarbeiten, bezahlten pünktlich unsere Rechnungen und hatten immer etwas zu plaudern. Wir waren vom Menschlichen her eigentlich sehr verschieden. Stanley, der Draufgänger, und ich, der Schüchterne und Vernünftige. Und doch, oder gerade deswegen, wuchsen wir immer mehr zusammen.
Nur außerhalb der Wohnung konnte Stanley mir manchmal Angst machen. Meistens dann, wenn wir unter Menschen waren. Er hasste Menschen. Vor allem Frauen. Und mit Stanley auf eine Party zu gehen, endete auch ab und zu darin, ihn aus einer Schlägerei herauszuholen.
Einen Abend, den wir in einer Tanzbar verbrachten, fühlte er sich durch einen Typen mit Brille belästigt. Er hatte Stanley aus Versehen auf der Tanzfläche angerempelt, womit man an solch einem Ort nun mal rechnen musste. Der Brillenträger hatte sich sogar entschuldigt, doch Stanley kochte bereits auf Hochtouren. Er brüllte: „Wechsel mal den Optiker, Blindschleiche“, bevor er ihm frontal Nase und Brille einschlug. Eine der Glasscherben wurde dabei in das Auge des Typen gedrückt. Er fing sofort an zu schreien und hielt sich die Hand vor das Auge, aus dem bereits Blutfäden herausflossen. Ich packte Stanley am Arm und zerrte ihn so schnell wie möglich aus der Bar, um mit ihm nach Hause abzuhauen. Ob der Brillenträger sein Augenlicht noch behalten hat, sollte ich nie erfahren.
Und ich hatte wieder einmal die Schnauze gestrichen davon voll gehabt, mit Stanley ausgegangen zu sein. Man war wirklich nicht gut bestellt, mit ihm etwas zu unternehmen. Die Abende konnten noch weitaus schlimmer enden, wenn Stanley zum Beispiel meinte, sich mit einer Gruppe von Halbstarken anlegen zu müssen.
Man war besser aufgehoben, wenn er sich irgendein Mädchen angelte, um sie dann die ganze Nacht durchzuvögeln. Egal wer das Vergnügen mit ihm hatte, sie wurde am nächsten Morgen auch gleich wieder vor die Tür gesetzt. Und da konnte sie noch so viel diskutieren und lamentieren. Für mehr waren die Weiber ihm nicht wert.
Anne rief mich, zwei Wochen vor dem ganzen Desaster, eines Abends an und erklärte mir, ihr sei etwas dazwischen gekommen, weshalb sie nicht zu einer unserer Verabredung kommen konnte. Eine Freundin von ihr hätte Kummer, weil ihr Freund sie verlassen hatte und brauchte Beistand. Das alte Problem. Und ich war sofort der Ansicht, dass solch eine Sache natürlich Vorrang hatte und die beließ die Angelegenheit dabei.
Ich fragte sie, ob wir uns morgen treffen könnten. Doch statt konkret zu antworten überlegte und grübelte sie ganz theatralisch, um genug Zeit für eine Ausrede zu finden. Als sie letztendlich versuchte, dem Thema auszuweichen fragte ich: „Was ist los, Anne? Gibt es etwas, das dich stört?“
„Es ist nichts, Dirk“, erklärte sie nach einer längeren Pause. Und ihr gedrückter Tonfall verriet mir, dass sie log. „Manchmal habe ich so ein komisches Gefühl, wenn ich mit dir zusammen bin, ich weiß auch nicht.“
„Wir können darüber reden“, bettelte ich förmlich. „Wir können über alles reden.“
„Nein, gib mir einfach etwas Zeit, um nachzudenken. Es liegt bestimmt auch viel an mir.“
In der nächsten Zeit sahen wir uns immer weniger und ich spürte, dass sie mir etwas verheimlichte. Ich war davon überzeugt, am Telefon nur das gehört zu haben, was ich gefälligst zu glauben hatte. Die wenigen und kurzen Zeiten, die wir zusammen teilten, war Anne sehr abweisend und redete nicht viel.
Ich wollte es Stanley eigentlich nicht erzählen, doch im Verheimlichen von Beziehungsproblemen war ich nie stark und ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Und außer Stanley war niemand sonst da.
„Scheiße, Dirk“, brüllte er. „Verlasse sie, das ist mein Ernst. Sie ist genau wie alle anderen Schlampen, die mir untergekommen sind.“
„Woher willst du das überhaupt wissen?“, fragte ich. „Du kennst sie doch überhaupt nicht.“
„Oh doch, Dirk“, sagte er und nickte. „Und ob ich sie kenne. Ich war nämlich selber mit ihr zusammen.“
„Was?“ Ich erstarrte und musst kurz schlucken. „Und wann wolltest du mir davon erzählen?“
„Ach, mach mir doch keine Vorwürfe, Mann.“ Er zog eine Zigarette aus seiner Lucky-Strike-Packung und steckte sie sich an. „Wenn ich es dir erzählt hätte, wärst du doch gar nicht mit ihr zusammengekommen. Du hättest...“
„Du warst mit ihr zusammen?“, schrie ich, als ich es langsam begriff. Meine Augen waren groß (so wie die Knopfaugen der Puppen) und verrieten ihm, dass meine Vernunft vorübergehend abwesend war. Ich versuchte mir bildlich vorzustellen wie Anne zusammen mit Stanley ausgesehen haben musste, doch das passte überhaupt nicht. Es passte nicht zu Anne.
„Beruhig' dich, Mann“, sagte er. Und ich erstaunte darüber, dass er die Beherrschung behielt. „Was hätte ich dir denn von ihr erzählen sollen? Es gibt von mir nur Schlechtes zu erzählen, was sie betrifft.“
Ich wollte mich wieder in mein Zimmer zurückziehen, um nicht weiter darüber diskutieren zu müssen.
„Glaub mir“, rief mir Stanley noch hinterher. „Sie benutzt dich nur. Verlasse sie, bevor es zu spät ist.“
„Ich denk darüber nach“, murmelte ich, mit einem kurzen Blick auf ihn.
„Denk schnell!“ Er zog an seiner Zigarette und legte die Stirn in Falten. „Denn wenn du es nicht tust und sie verarscht dich“, sagte er. „Dann werde ich mich darum kümmern, dass sie verarscht wird.“
Eine bedrohliche Mimik in seinem Gesicht und der Ton seiner Stimme verrieten mir, dass er es verdammt ernst meinte. Vielleicht kannte ich Stanley noch nicht lange genug, um zu wissen, wozu er alles fähig war. Der Druck in seiner Stimme sagte jedenfalls, dass ich besser daran getan hätte, Vorsicht zu bewahren.
Als ich Anne nach drei Tagen wieder traf und erneut fragte, ob alles in Ordnung sei – sie machte schon seit einer ganzen Stunde ein Gesicht wie zehn Tage Regenwetter - , sagte sie nur: „Geh mir bitte nicht auf die Nerven, OK?!“
Und normalerweise hätte ich mich auch nicht dagegen widersetzt. Doch ich musste an Stanley denken. An Stanley und sein Unverständnis und seine Drohungen. Und so stellte ich nur eine einzige Frage, um Annes Reaktion genau zu beobachten: „Gibt es einen anderen?“
Sie zuckte kurz mit den Augen. Auch wenn sie „Nein!“ sagte, so wusste ich die Antwort ganz genau.
Zwei Tage später, als ich von Arbeit nach Hause kehrte, eskalierte die Situation.
Ich sah am Telefon das Lämpchen für den Anrufbeantworter leuchten und ließ die Nachricht abspielen.
„Hy, Dirk“, ertönte Annes schwache und trübe Stimme. „Ich muss mich bei dir für mein Verhalten von neulich entschuldigen.“ Eine kurze Pause. Ich atmete bereits auf vor Erleichterung, im Glauben, dass jetzt alles wieder in Ordnung sei. Doch es folgte ihr Geständnis: „Und ich muss mich bei dir dafür entschuldigen, dass ich gelogen habe, als du mich fragtest, ob ich einen anderen habe.“ Die Erkenntnis fuhr wie ein Stromstoß durch meinen Körper. „Es ist so: Ich habe vor zwei Wochen einen altem Schulkameraden wiedergetroffen...“
Ich hörte nicht mehr hin, sondern wandte mich um und schaute in der Wohnung nach, ob Stanley zu Hause war. Doch da war niemand, weder in seinem Zimmer, noch im Bad oder in der Küche.
Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder er war heute noch nicht zu Hause und hat die Nachricht noch nicht gehört. Oder aber er war bereits hier, hat die Nachricht gehört und ist nun auf dem Weg zu...
Ich zog meine Jacke an und sprintete aus der Wohnung. Mit Bus und Straßenbahn brauchte ich ungefähr fünfzehn Minuten, um zu Anne nach Hause zu gelangen. Mit schnellen und langen Schritten lief ich die Straße entlang, um die Haustür zu erreichen und betete darum, sie zu Hause vorfinden zu können. Und wenn Gott gnädig wäre, so sollte sie möglichst alleine sein.
Bitte lass sie zu Hause und alleine sein. Bitte lass sie...
Ich klingelte wie ein Verrückter an ihrem Klingelschild.
...noch am Leben sein.
In meinen Gedanken dauerte es ewig. In drei Sekunden, in denen nichts geschah, dachte ich, es seien Stunden vergangen. Doch dann vernahm ich ihre Stimme an der Gegensprechanlage: „Hallo?“
„Anne“, rief ich. „Kannst du mich bitte rein lassen? Es ist sehr wichtig.“
„Dirk, was ist denn los? Ich dachte, es sei alles geklärt. Du klingst so... erschöpft.“
„Bitte, Anne. Es ist ernst, du musst mich reinlassen.“
„Wieso, sag mir doch erstmal, was los...“
„BITTE!“
Erschrocken von meinem Nachdruck, hielt sie kurz inne. „OK, OK, aber reg dich ab.“
Sie öffnete. Ich sprang ins Treppenhaus und kletterte wie ein Weltmeister die Stufen bis in den vierten Stock zu ihrer Wohnungstür. Ich war völlig durchgeschwitzt, als sie mich empfing. Doch statt mich hereinzubitten, versperrte sie mir den Durchgang.
„Sag mir erst, was los ist?“ Ihre Arme waren über der Brust verschränkt.
„Bist du alleine? Ist jemand hier?“
„Es ist niemand da, außer dir und mir. Und wenn du dich weiter so aufführst, hast du mich heute das letzte Mal gesehen.“
„Stanley ist auf den Weg hier her. Er wird sehr wütend auf dich sein, also darfst du ihn nicht hereinlassen.“
„Dein Mitbewohner? Ich kenne ihn überhaupt nicht und er kennt mich auch nicht, also was soll er schon wollen?“
„Du hast ihn vielleicht vergessen, aber du kennst ihn.“
„Nein, tue ich nicht.“
„Aber er kennt dich. Und du warst früher mit ihm...“
Meine Stimme versagte, als ich ihn plötzlich sah. Wie ein Gespenst, das jedem die Sprache verschlagen hätte, tauchte er auf. Er war die ganze Zeit bei ihr gewesen und hatte sich in der Wohnung versteckt. In seiner Hand hielt er ein Heizungsrohr. Ein Gefühl, das mich glauben ließ wach zu sein und gleichzeitig zu träumen, hatte mich befallen, als ich begriff, was Stanley vor hatte.
Er trat hinter sie und holte aus.
Ich sehe mich heute, wie ich Anne packe und herumschleudere, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen. Ich sehe mich, wie ich Stanleys Schlag heldenmutig abfange, um ihm selber eine überzuziehen. Ich sehe einen glücklichen Ausgang der Geschehnisse vor mir. Ein Wunschdenken.
Doch die Wahrheit sieht anders aus.
„Nein!“, war das Einzige, was ich noch schreien konnte, bevor er mit dem Rohr nach ihren Beinen schlug.
Es knackte laut, als ihre Knochen brachen. Anne stürzte nach vorne und schrie vor Schreck und vor Schmerzen.
Stanley holte erneut aus und schmetterte ihr das Rohr ins Kreuz - ob sie heute noch laufen kann oder nicht, habe ich nie erfahren - , während er laut „Miststück!“ brüllte. „Du elende Schlampe, du verfickte Fotze. Du bist genau wie alle anderen.“
„Stanley“, rief ich. „Was tust du da?“ Doch er hörte mich nicht – wollte es nicht - und griff nach Annes Haaren. Er zog sie daran in die Wohnung zurück und riss sie herum, so dass sie auf dem Rücken landete.
„Schlitzgesteuerte Hure“, brüllte er ihr ins Gesicht. „Du wirst dir wünschen, nie gefickt zu haben, wenn ich mit dir fertig bin.“
Ich wollte ihr helfen – musste ihr helfen - , doch ich war wie gelähmt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Stanley so weit gehen würde. Wieso tat er das? Doch nicht nur, um sich für mich zu rächen? Weil ich selber nie den Mumm dafür gehabt hätte?
Er riss ihr die Hose vom Leib, während sie aus Leibeskräften brüllte. Sie wollte aufstehen, wegrennen, doch ihre Knochen schienen zertrümmert. Und Stanley ging so grob und gewalttätig vor, dass sie keine Chance hatte, sich gegen ihn zu wehren. Stanley war stark... und er war fest entschlossen, seinen Willen durchzusetzen.
„Siehst du das hier?“, schrie er mit einer grauenhaft verzogenen Fratze in ihr Gesicht und hielt das Heizungsrohr vor ihre Augen. „Wenn ich dir das in deine Fotze geschoben habe, dann wird dir jeder Fick, den du in Zukunft haben wirst wie eine Qual vorkommen. Auf dass du dich für immer an mich erinnern wirst.“
Ich sprang nach vorne, um ihn davon abzuhalten und schrie: „Stanley, tu das nicht. Lass...“ Doch da hatte er mir bereits eine übergezogen. Ich stolperte, fiel rückwärts und landete auf dem Fußboden.
Jetzt nur nicht schlapp machen, dachte ich mir. Du musst ihn aufhalten.
Vor mir wurde es schwarz.
Steh auf, verdammt!
Mein Kopf dröhnte und baute einen Druck im Inneren auf, der mich vollends lähmte. Ich hörte Anne kreischen, als Stanley seinen Worten Taten folgen ließ. Doch das Kreischen wurde leiser.
Und leiser...
Als ich wieder erwachte, war Stanley verschwunden. Die Schwärze wich allmählich meinem Blickfeld und ich erkannte den Ort, an dem ich mich befand. Das Kreischen hatte aufgehört, genau wie Stanleys Schreie. Und ich befand mich auch nicht bei Anne zu Hause, sondern in einem Krankenhaus, auf Station. Um meinen Kopf wickelte sich ein Verband.
Keine freundlichen Krankenschwestern, keine höflichen Ärzte. Dafür polizeiliche Bewachung. Ich versuchte eine Erklärung zu finden, doch ich wusste genau, dass dies alles seinen Grund hatte.
Stanley war verschwunden. Und nun versuchte man mir die Tat anzuhängen.
Ich sollte nicht mehr entlassen werden. Meine Aussage, dass ich es nicht gewesen sei und dass sie den falschen erwischt hatten, stieß nur auf taube Ohren. Der wahre Täter lief noch immer frei herum. Ich legte keinen Wert darauf, dass Stanley sich bei mir dafür rächen könnte, weil ich seinen Namen damit verraten hatte. Aber hier ging es um meine Freiheit. Ich war unschuldig.
Das Verhör dauerte Stunden und der Polizist stellte mir ständig neue Fragen. Er fragte mich, warum ich zur Tatzeit am Tatort war.
„Ich wollte Anne vor ihm warnen“, erklärte ich mindestens schon zum hundertsten Mal.
„Es waren Ihre Fingerabdrücke auf dem Heizungsrohr“, sagte er. „Die Fingerabdrücke waren in das Blut getaucht.“
Ich hörte ihm kaum zu, weil ich überzeugt war, dass er das nur erzählte, um mich zu einem Geständnis zu zwingen.
„Es war Stanley Preller“, erklärte ich zum tausendsten Mal. „Glauben Sie mir. Stanley ist auf sie losgegangen und...“
„Stanley“, unterbrach mich der Polizist. Und es klang, als spräche er mich mit diesem Namen an.
„Ja genau, Stanley hat auf sie eingedroschen und ihr das angetan, er...“
„STANLEY“, schrie er mich an. Und ich hielt inne. Er fragte: „Wie ist ihr Name?“
Und ich antwortete ihm: „Mein Name ist Dirk Jakobs, wie ich Ihnen bereits sagte.“
Der Polizist lehnte sich zu mir herunter und sah mir tief in die Augen – wie eine Puppe mit Knopfaugen. Er ließ die Stille so lange wie möglich ruhen, bis er mir erklären wollte: „Hören Sie, Ihr Name ist nicht Dirk Jakobs. Es gibt keinen Dirk Jakobs und es gab auch nie einen.“
Eine kurze Pause und Stille im Raum. Er sah mich an und wollte sich davon überzeugen, ob ich diesen Unfug glauben würde. „Sehen Sie auf Ihren Ausweis“, fuhr er fort. „Ihr Name ist Stanley Preller. Und das schon immer.“
Ich weiß, dass er es getan hat. Doch sie wollen es mir nicht glauben. Die Polizei kann Stanley nicht finden. Und so scheint es, dass ich wohl so lange im Gefängnis warten muss, bis er gefunden wird.
In diesen Tagen, Wochen und Monaten schaue ich oft auf unsere Zeit, die wir miteinander hatten, zurück. Ich erinnere mich an die Abende, als wir auf dem Balkon saßen und die Nachbarn uns ganz misstrauisch angestarrt hatten, als wären wir die seltsamsten Geschöpfe auf Erden. Ich höre die Stimmen derer, die mir nachsagten, ich wäre nicht mehr ganz dicht. Ich sehe die Puppen mit den Knopfaugen. Ich erinnere mich, wie Stanley gestand, dass er ebenfalls mit Anne zusammen gewesen war, obwohl Anne ihn nicht zu kennen glaubte.
Und ich erinnere mich an die Geschichten aus Stanleys Vergangenheit, die ich so gut nachempfinden konnte, als wäre sie meine Eigene. Da ich mich an meine Vergangenheit nicht erinnern kann.