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Stationen
Erste Station.
Kurz bevor das Licht der Haltestelle die dunklen Sitze und ihre noch dunkleren Benutzer illuminierte, nahm die Bahn eine letzte, selbstmörderische Kurve auf sich. Eine der Kurven, nach denen einige neue Freundschaften geschlossen wurden, wo man doch eh schon auf ihrem Schoss läge, und noch viel mehr neue Feindschaften aus dem Boden wuchsen, wo.. man doch eh schon auf ihrem Schoss läge. Er war natürlich darauf gefasst, griff gelassen nach der Haltestange und machte seinem Sitznachbarn deutlich, dass ihm nichts an neuen Kontakten lag. Während alle durcheinander fielen, stand er auf, nicht ganz so elegant wie geplant, da der Zug nun stockend zum Halten kam, aber mit einer unsichtbaren Macht bewaffnet, die deutlich machte, das Kommentare über unelegantes Verhalten auf eine unangenehm elegante Weise zunichte gemacht würden, gefolgt von ihrem Sprecher. Er wollte die Linie gar nicht verlassen, aber an dieser Station hielt der Zug immer für einige Minuten, um zu prüfen, dass noch alles heil ist, beziehungsweise für mehrere Stunden, wenn die Kurve wieder Opfer in der erbärmlichen Mechanik gefunden hat. Das hatte die für Menschen mit Geschäftssinn natürliche Entwicklung einer Einkaufsmeile auf dem Bahnhof zur Folge. Er konnte nun wirklich ein gutes Sandwich mit Schinken und Senf vertragen.
Zweite Station.
Die nächste Strecke verlief ruhiger, weil gradliniger. Das flache Grasland, die Rapsfelder und die vereinzelten kleinen Dörfer verwandelten sich, als die Bahn an Geschwindigkeit zunahm, in bunte, helle Streifen. Das Zuginnere bildete einen starken Kontrast dazu, im Halbdunkel entstand antiproportional zur Kurvenmenge eine eher trockene, geduldige Atmosphäre, die an Plätzen wie Friedhöfen angebrachter gewesen wäre. Keine Kinder liefen die Gänge entlang. Auch er bemerkte das, und freute sich. Die Kinder taten ihm immer am meisten Leid.
Er hatte einen kleinen Koffer dabei, und natürlich war sie nicht da drin, er war schließlich ein Profi. Müsliriegel waren darin, sie waren genauso wichtig wie sie, denn er schätzte die kleinen Dinge, die Details seiner Arbeit, sehr, und dazu gehörte eben auch, einen klaren Kopf zu haben, weswegen auch Aspirin ihren Weg in den Koffer gefunden hatten, aber ein knurrender Magen konnte selbst den klarsten Kopf zur Verzweiflung bringen. Außerdem war eine kleine Armbanduhr darin, eins der Modelle, die sehr viel teurer aussahen, als ein Juwelier dafür bezahlen würde, eins der Modelle, wie man sie zuhauf bei Kleinstadtanwälten fand, die Eindruck schinden wollten. Solche Uhren fielen nicht auf, wenn man aussah, wie er. Natürlich war sie nicht der Auslöser. Nicht zu dieser Bombe.
Dritte Station.
Hier stiegen sogar einige aus, und ein Pärchen stieg ein. Das war natürlich ärgerlich, aber immerhin waren sie kinderlos. Er blätterte lustlos in seiner Zeitung herum, der vom Vortag; er hatte alles schon gelesen, bis auf die Kontaktanzeigen, und er hatte sich geschworen, sich von denen immer fernzuhalten. Eine Weile lauschte er dem leisen Gespräch zwei älterer Damen, aber er verstand nicht ganz, was sie sagten, bloß, dass es um Männer ging und offensichtlich beiden viel Spaß bereitete. Eine Weile schaute er aus dem Fenster und verfolgte die Schienen, die durch die Geschwindigkeit des Zuges wirkten wie sich dahin windende Schlangen. Allmählich sank die Sonne hinter die grauen Hügel am Horizont, und der Himmel färbte sich rot. Für eine Weile starrte er in die Wolken, dann kramte er in seinem Koffer, holte ein kleines Notizbuch hervor und schrieb sorgfältig „Taxi bestellen“ auf die erste ungenutzte Seite. Es sah nach Regen aus, und das wäre an und für sich kein Problem gewesen, wenn sich sein Mantel nicht so schnell voller Wasser saugen würde. Er war nicht nervös, nicht unsicher, er war ein Planer, jemand, der gerne alles durchdenkt und möglichst wenig dem Zufall überlässt. Und er war sich sicher, dass es klappte.
Vierte Station
Der Zug durchfuhr Tunnel und überquerte Brücken. Die Felder und Dörfer entschwanden, im Gegensatz tauchten riesige Weiden mit wohlgenährten Kühen auf, und schwindelerregende Täler. Hätte sich einer der Mitfahrenden daraufhin erleichtern wollen, hätte er vor verschlossener Tür gestanden. Die Toilette war besetzt. Er stellte sich auf den Sitz und brach mit einem Schraubenzieher die kleine Platte auf, die sich in jedem Zug, in jeder Toilette, befand. Überall lagen Kabelstränge in diesen Fächern, was ihm ganz recht war, denn so würde selbst ein Elektriker die biegsame Stange Sprengstoff nicht bemerken, die nur ein bisschen dicker war als all die isolierten Bänder. Viel war nicht erforderlich. Aus dem Koffer zog er einen Müsliriegel heraus. Nur ein sehr genauer Blick verriet einen Unterschied zu den anderen, ein dünnes, metallisches Glänzen am Rand. Er zog die kleine Klinge hinaus und befestigte sie an seiner Manschette. Dann legte er den Sprengstoff in die Tasche in seinem Ärmel, nicht ohne wie immer kurz zusammenzuzucken. Als letztes holte er den kleinen Fotoapparat heraus. Als die Aufpasserin vor der Tür des Fahrers den alten Mann in dem feinen Mantel auf sie zukommen sah, war sie ein wenig verunsichert. Als die Aufpasserin erfuhr, dass er ein Fotograf für ein Eisenbahnmagazin war, sich seinen Ausweis ansah und in sein strahlendes Lächeln blickte, war sie ziemlich sicher, dass der Mann keine Probleme machen würde. Genauso wenig wie der Fahrer, der, durch das Fehlen von Augen am Hinterkopf behindert, nicht sehen konnte, wie der alte Mann unauffällig die Naht des Sitzes auftrennte und durch den Ärmel etwas hineinschob. Selbst wenn jemand seine Hand gesehen hätte, wäre es wahrscheinlich unbemerkt geblieben.
Fünfte Station
Ein Taxi erreicht einen kleinen, verwahrlosten und zudem verregneten Bahnhof und hält, um dem Kunden einen Gefallen zu tun, auch noch nah an dem wartenden Zug. Die Hintertür öffnet sich und ein alter Mann steigt aus dem Auto, einen kleinen Koffer in der einen Hand, eine Uhr in der anderen. Er eilt hastig zum Eingang, denn sein Mantel saugt sich schnell mit Wasser voll. Ein aufmerksamer Beobachter würde vielleicht sehen, wie er die Uhr unter die Bahn wirft, doch es regnet, und da hält sich die Begeisterung, alte Leute anzustarren, bei den meisten Leuten in Grenzen. Nur ein Mann steigt aus, man kann es dem Rest nicht verübeln. Der Alte findet einen Platz, auf dem eine Tageszeitung liegt, zu seinem Bedauern die von gestern. Er ist erschöpft, und aufgeregt. Zur Beruhigung nimmt er aus seinem Koffer einen Müsliriegel, öffnet ihn und will das Papier in den kleinen Müll schmeißen, doch dieser ist schon brechend voll von Müsliriegelpapier, also stopft er es sich in die Tasche. Er greift nach der Zeitung und liest die Kontaktanzeigen.
Währenddessen sitzt in dem Taxi ein Mann, der eine teurere Uhr in der Hand hält als die kaputte Plastikuhr des Alten. Ticken tut diese jedoch auch nicht, und deshalb dreht er sie auf.