Stau
Stoll wird kautzig im Alter, das fällt mir schon seit langem auf. Bauder sagt das auch, und auch ihm ist die Sache von Anfang an sauer aufgestoßen. Da haben wir jetzt den Preis bekommen für die Arbeit über dieses Polymer….wie hieß es doch gleich? Ach – egal, und was macht Stoll mit dem Geld? Richtet eine Sekretärinnen-Stelle ein! Dabei war es vereinbart, daß ich ein größeres Büro bekomme. Das darf doch nicht wahr sein! Seit wann brauchen wir eine Sekretärin? Hat doch immer gut geklappt mit den Praktikantinnen, das sagt Bauder auch! Und Professor Weck hat auch immer die richtigen geschickt, keine, die den Betrieb aufhalten durch zuviel Fragen, oder solche, die sich einmischen in die Projekte oder aus ihren Diplomarbeiten vorlesen! Was interessieren mich deren Diplomarbeiten? Ich will einen starken, guten Kaffee morgens! Und die, die von Weck kamen, haben das auch ganz schnell gelernt. Und nett anzuschauen waren sie auch, Bauder und ich haben immer gesagt, daß beide locker in eines unserer Hosenbeine passen würden – welch hinreißende Vorstellung!
Seit einer halben Stunde stehe ich jetzt hier. Was ich an Staus am schlimmsten finde, ist die Enge. Man sieht alles. Zum Bespiel den Grauhaarigen nebenan. Obwohl, voll ist sein Haar ja schon noch, aber beruflich ist er klar gescheitert: das Siebziger-Jahre-Modell, das er fährt, hatte ich als Student, aber da war es neu. Gut, es schafft eben nicht jeder.
Und Stoll hat jetzt die dickliche, alte Frau eingestellt. War sie die Einzige, die sich beworben hat? Der Anblick bietet sich mir jetzt jeden Morgen, wenn ich ins Institut komme: sie hockt da und hat die Lesebrille auf die Nase geklemmt, und sie hat rosa Pausbäckchen, und ihre weichen, rosa Arme quellen aus der knappen Bluse und drücken sich platt an ihrem Körper. Gut, sie hat einiges in dieser Bluse, aber zwischen den Brüsten faltet sich die welke Haut, wer will das denn sehen? Niemand, und das muß sie doch wissen! Ein Unding, in dem Alter so rumzulaufen! Das hat ja auch Susanne eingesehen. Sie wird ja in zwei Jahren vierzig, und da muß sie schon etwas tun! Wir haben das ja dann auch gut hingekriegt mit ihren Brüsten und den Tränensäcken und der Bauchdecke, das muß ich wirklich sagen. Fast ein Kilo haben sie abgesaugt am Bauch, ganz erstaunlich! Allerdings hängt auf ihrem Rücken das Fleisch immer noch etwas schlaff unter den Schulterblättern, da kann man nichts machen, aber dann schaue ich eben weg, solange sie sich umdreht. Von vorne ist sie ja wieder wie neu! Und löblich auch, daß sie das eingesehen hat, ihre Lebensversicherung für die OP aufzulösen, schließlich bin ich doch ihre wirkliche Lebensversicherung, oder? Und beschweren kann sie sich auch nicht, sie hat es ja selbst so gewollt, schließlich ist sie ja eine erwachsene Frau.
Ob der Grauhaarige nebenan nicht doch vielleicht ein Toupet trägt, die sollen ja jetzt sehr hochwertig sein und kaum noch zu erkennen und trotzdem bezahlbar, auch in seiner Gehaltsklasse….
Und auch abends sehe ich die Sekretärin dann wieder da sitzen mit ihren rosa Armen, wie ein schlechter Gruß für den Heimweg. In Ordnung, sie muß arbeiten, wird wohl geschieden sein, und einen Neuen wird sie nicht kriegen, mit Kindern ist es ja jetzt schon eng und mit der Bluse auch. Ach, Stoll, was haben Sie sich dabei gedacht? Gekostet haben die Praktikantinnen doch auch nichts, also: wo war das Problem?
Es geht tatsächlich weiter. Ich fahre seit fünf Minuten immerhin im zweiten Gang. Und der gescheiterte Grauhaarige ist jetzt drei Wagen hinter mir. Ich brauche keine Lesebrille. Es liegt alles am Licht. Wenn das Licht hell genug ist, kann ich alles lesen. Ich glaube, bei Frauen setzt das auch früher ein mit der Altersweitsichtigkeit.
Der Stau hat sich aufgelöst, gleich bin ich zuhause. Susanne ist wohl heute ausnahmsweise länger beim Shoppen, normalerweise steht ihr Wagen immer schon da um die Zeit.