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Staubig ohne Ende
Staubig ohne Ende
G. ging einen dunklen Gang entlang. Zu seiner Linken befand sich ein in die Jahre gekommener und schäbiger Aktenschrank der seinen letzten Glanz schimmernd im Mondlicht präsentierte. Bei jedem Schritt gab der Boden ein knarksendes Geräusch von, so als ginge man bei klirrender Kälte auf feinem Pulverschnee. In Gedanken war G. schon bei seinem wohlverdienten Feierabendbier, welches er sich am Morgen extra kaltgestellt hatte, weil er wusste, dass es ihm nach einem langen Tag die nötige Entspannung bringen würde.
Der Schrank erinnerte ihn jedes Mal daran, wie er ín dieser Firma angefangen hatte. Damals war er neu und passte in die damals so moderne Einrichtung der Firma, die heute nur nicht mehr weiter an Geschmack verlieren konnte. Dennoch machte G. die Arbeit Spaß, die er tagein und tagaus verrichtete. Schon manches Mal hatte er gedacht sich einen anderen Job zu suchen, der ihn aus seinem alltäglichen Trott herausbringen würde. Jedoch konnte er sich nie loseisen. Außerdem schätzte man seine Auffassungsgabe und sein hervorragendes Gedächtnis. Kein Detail entging ihm. Und war ein Detail unwichtig, so packte er es in sein ganz persönliches Archiv, denn er war der Meinung, dass jedes Detail irgendwann man wieder gebraucht wird. Er konnte einfach nichts „verwerfen“. Manche nannten ihn deswegen „Detail-Messi“. Nicht negativ, sondern eher aus Respekt.
Wie bei jedem Feierabend, musste er kontrollieren ob im Archiv alle Lichter ausgemacht worden sind und die Alarmanlage scharf gestellt war. Er nutzte diesen Kontrollgang nach Feierabend meistens dazu, noch mal in irgendeiner Akte zu wälzen die ihm aufgefallen war, bei seiner Arbeit tagsüber. Manchmal war es nur ein Name oder ein bestimmtes Aktenzeichen, welches ihm tagsüber auffiel, er aber keine Zeit hatte nachzusehen. Das war wie eine Marotte. Der eine lässt morgens die Zahnpasta-Tube auf, der nächste musste seine Stifte in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet haben, und G. musste jeden tag eine Akte die ihm aufgefallen ist in die hand nehmen und drin blättern. Ob das nun an seiner Detailverliebtheit lag oder an seiner Neugier. Das wusste G. selber nicht so genau.
Doch an diesem Tag stand dort dieser alte Aktenschrank, den die Hausmeister morgens im Flur abgestellt haben. G. hatte sich erst darüber aufgeregt, denn er befürchtete, dass es jetzt schon soweit ist, dass das Archiv die alten Schränke bekommt oder nun auch noch Möbel archivieren soll. Im Inneren aber freute er sich schon jede Schublade dieses Aktenschranks aufzumachen, um nachzusehen ob sich noch etwas darin befindet. Vielleicht eine Akte oder ein Überbleibsel eines Büros. Also machte er sich dran und öffnete die oberste Schublade. Schon beim Öffnen kam ihm dieser muffige Papiergeruch, den die Papierberge über die vielen Jahre im Schrank hinterlassen hatten. G, sollte sich inzwischen schon daran gewöhnt haben, aber er fand, dass Archivschränke anders rochen als Büroschränke. Eine Erklärung dafür fand er nicht.
In der obersten Schublade befand sich außer Staub nichts. Also öffnete G. die zweite Schublade und entdeckte ebenfalls nichts. Seine Vorfreude etwas Interessantes zu finden sank allmählich gegen null, als auch die dritte Schublade leer war. Blieb nur noch eine Schublade übrig. Wenn die auch leer war, dann würde er seinen Feierabend wieder mal ohne eine neue – wie er sie nannte – „Entdeckung“ beginnen. Das wäre zwar nicht schlimm, aber freuen würde er sich auf jeden Fall.
Beim Öffnen der vierten Schublade kam die Ernüchterung. Auch sie war leer und roch genauso muffig wie die anderen. Er schloss die Schublade und wollte gerade aufbrechen, als ihm auffiel, dass sich die vierte Schublade nicht ganz schließen ließ. Wahrscheinlich fehlten die Stopper oder die Führungsschienen der Schublade haben sich im Lauf der Zeit verzogen. Er stand ernüchtert auf und setzte sich in Bewegung Richtung Ausgang.
Gerade als er die Tür des Archivs abschließen wollte fiel ihm eine dritte Möglichkeit ein, die seine Neugierde wieder erwachen ließ. Vielleicht ist etwas hinter die Schublade gerutscht und keiner hat es bemerkt. Sofort machte er kehrt und ging zum Aktenschrank zurück. Er musste es irgendwie schaffen hinter die Schublade sehen zu können. Jedoch merkte er schnell, dass dies ohne geeignetes Werkzeug nicht möglich zu sein schien. Er fasste den Entschluss, den Schrank morgen genauer unter die Lupe zu nehmen, und zu ergründen, warum diese Schublade nicht richtig geschlossen werden konnte. Nun hatte er doch was worüber er sich zum Feierabend freuen konnte, und sicherlich auch den morgigen Feierabend spannend machen könnte.