Stein des Anstoßes
Der Stein des Anstoßes
Es war ein Stein, der den Anstoß gab, ein banaler und doch rätselhafter Stein. Er änderte den Blick auf das Leben, das ich führte und vielleicht mein Leben selbst. Wie der Donnergott Thor persönlich krachte er gegen meine Haustür, als ich wie immer um 7.00 Uhr morgens Honig auf mein Brot träufelte. Vor Schreck leblos wie eine Statue saß ich auf dem Küchenstuhl, bis mein Körper vor Empörung wieder in Bewegung kam. Schnaufend eilte ich zur Tür, sah mich im Vorgarten um, wollte zur Straße laufen und stolperte über etwas Hartes, das auf dem Fußabtreter direkt vor der Haustür lag. Rechteckig, eingepackt in Zeitungspapier und umwickelt mit einer Paketschnur. Noch immer wütend prüfte ich, ob die Haustür Schaden genommen hätte/hatte. Tatsächlich fand ich ein paar Kratzer auf der braunen Farbe. Dann trug ich das Päckchen in die Küche, durchschnitt die Schnur und entfernte die Zeitungsseite. Ich hielt einen Backstein in der Hand, dem ein Blatt Papier beigefügt war. Der Zettel befahl mir mit aufgeklebten Buchstaben: “Tu´s einfach!“ Mit leerem Blick starrte ich auf den Stein. Dazu fiel mir nichts ein. Wer warf einen Backstein gegen meine Haustür und wozu? Was hatte diese Botschaft zu bedeuten? Ich wendete den Stein hin und her, als könne er mir die Antwort liefern. Aber er blieb stumm. Ich beschloss, das ganze erst einmal zu vergessen. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Ich musste zur Arbeit und war, was sonst nie vorkam, schon spät dran. Daher prüfte ich, eine alte Gewohnheit, meine Schuhe, dann meine Krawatte im Spiegel, alles tadellos, griff schließlich meine Aktentasche und machte mich auf den Weg.
Draußen hing eine graue Decke über der Stadt. Als lasteten die tiefen Wolken auf meinen Schultern, schritt ich mit gebeugtem Rücken und hochgestelltem Kragen zu meinem Wagen, den ich auf einem Anwohnerparkplatz in der Nähe abgestellt hatte. An der Mauer davor prangte ein Athlet und zeigte seine beeindruckenden Muskeln im Auftrag einer Sportartikelfirma. Ich kannte ihn bereits. Ihm konnte auch der Himmel nichts anhaben. „Just do it“ verkündete der Muskelprotz in großen Lettern. Nur ein Werbeplakat, aber an diesem Tag glaubte ich an eine Verschwörung.
Sechs Termine hatte ich heute abzuarbeiten/ waren heute zu bewältigen.
Auf dem Weg zu meiner ersten Klientin probten die Sätze einen Kanon in meinem Kopf. Tu´s einfach. Just do it.
An einem Zebrastreifen trat ich mit aller Kraft auf die Bremse und kam noch rechtzeitig zum Stehen. Beinahe hätte ich einen alten Mann über den Haufen gefahren. Ausgerechnet ich, der sonst jede Verkehrsregel mit Konzentration und Sorgfalt beachtete. Ich steigerte mich während der Fahrt immer mehr in eine Wut gegen den unbekannten Absender dieses idiotischen Zettels. Ich machte Pläne. Ich würde eine Kamera am Haus installieren, sollte er es noch einmal wagen, mein Grundstück zu betreten, dann aber. Was dann? Was um alles in der Welt war mit mir los? Zugegeben dieser kleine Schreck am Morgen lag außerhalb meiner täglichen Routine, was mich immer etwas kopfscheu machte. Aber so konfus hatte ich mich noch nie erlebt. Ich rief mich zur Ordnung.
Ich musste mich jetzt auf meine Arbeit konzentrieren. Die erste Klientin kannte ich bereits. Nette junge Frau, alleinerziehend mit Kind. Ich klingelte und sofort öffnete sie die Tür. Die Dreijährige hing an ihrem Bein. Obwohl sie inzwischen wieder Vollzeit arbeitete reichte das Geld nur für das Nötigste.
„Ich weiß.“, sagte sie „Die Autosteuer.“
„Wenn sie nicht zahlen können, muss ich den Wagen pfänden“. Meine Stimme klang rau.
„Aber ich brauche den Wagen dringend. Wie soll ich sonst zur Arbeit kommen? Ich muss die Kleine in den Hort bringen. Ich schaffe das nicht ohne das Auto.“
„Ich weiß“, sagte ich müde. „Sie haben keine Wahl“
„Warten Sie. Ich zahle etwas an. Den Rest überweise ich in den nächsten Tagen.“
„Wie wollen Sie das denn machen?“
„Ich weiß nicht. Ich schaffe das. Ich brauche jedenfalls den Wagen. Es wird schon gehen.“
Sie ging in die Küche. Das Wohnzimmer war klein und dunkel. Die Möbel hell und aufgeräumt. Ein Ringen um Würde. Auf dem Tisch eine Zeitung. Ich überflog die erste Seite . Entgegen meiner Prinzipien nahm ich sie und blätterte weiter, grundlos. Bei den Anzeigen blieb ich hängen. Ein Koch wurde gesucht, Pädagogen für eine Jugendfreizeit. Unten rechts Anzeigen für ein Bestattungsunternehmen und ein Reisebüro. Ich dachte an mein Regal mit den Bildbänden. Nach Alphabet sortiert: Amerika, Afrika, Brasilien, China bis Zypern.
Dann kam sie aus der Küche und reichte mir ein paar Geldscheine, wahrscheinlich ihr Haushaltsgeld für den Rest des Monats. Ich notierte alles und verwahrte das Geld in meinem Aktenkoffer, der sich plötzlich mehrere Kilo schwerer anfühlte. „Tu´s einfach.“ schoss es mir durch den Kopf. Bevor ich ihr das Geld zurückgeben, bevor ich diese Grenze überschreiten konnte, rannte ich, ohne mich zu verabschieden in den Flur und schloss schweratmend die Haustür hinter mir.
Die nächsten beiden Termine absolvierte ich routiniert und professionell, wie immer.
In der Mittagspause zog ich mich wie gewohnt in den Stadtpark zurück, setzte mich auf die immer selbe Bank, prüfte den Himmel, der zum Glück keine Anstalten machte, zu tröpfeln und packte das belegte Brot aus. Neben mir eine Thermoskanne mit Kaffee. Alles Routine. Und doch fühlte sie sich diesmal seltsam verschoben an, als wäre sie plötzlich abgezogen worden wie die Folie von einer Dose. .
Die Ellbogen auf den Knien, das Kinn in den Händen. Kopfschmerzen quälen mich und meine Schuldgefühle. Hätte ich dieser armen Frau nicht das Geld in die Hand drücken können? Ich denke an mein gut gefülltes Sparbuch, erschrecke und versuche innerlich Ordnung zu schaffen. Ordnung ist wichtig. Ordnung ist das halbe Leben. Ordnung war bisher mein Leben, ein gutes, sicheres, bequemes Leben. Das macht Sinn. Nur welchen? Er war mir heute nur entglitten. Ich spüre einen Riss in mir, durch den das Chaos nun wie ungesunder Dampf hinein wabert. Was würde noch alles geschehen? Würde ich doch noch einen Unfall bauen, am Ende die Schulden meiner Klienten begleichen, einfach davonlaufen. Ich sehe schwarz.
Lautes Gejauchze plötzlich. Ein paar Jungs kicken eine leere Coladose vor sich her und krümmten sich vor Lachen. Macht das Sinn? Gegen eine leere Dose zu treten? - Wann habe ich zum letzten Mal gelacht
Die Nachmittagstermine verschob ich auf den nächsten Tag. Stattdessen fuhr ich gleich ins Büro. Meine Konzentration reichte noch für ein paar Aktennotizen, dann gab ich auf.
Zuhause saß ich still auf dem Sofa, während meine Augen das Regal entlang glitten. Hin und her. Afrika. Ich zog den Bildband heraus und betrachtete die Sonnenuntergänge über den Savannen der Serengeti, die ockerfarbene unendliche Weite der Sahara im Norden, die Regenwälder im Kongobecken, die Löwen und Elefanten, die Zebraherden und die Giraffen.
Ich nahm den Mantel von der Garderobe und machte mich auf den Weg in die Innenstadt. In das Reisebüro, an dem ich so oft achtlos vorbeigelaufen war, trat ich ein. Als ich wieder heraus kam, hatte ich eine Rundreise durch Namibia gebucht. Drei Wochen. Das letzte Mal hatte ich diese Stadt verlassen, als ich zum Wehrdient nach Bayern musste.
Zuhause öffnete ich eine Flasche Rotwein. Schnupperte an dem Glas, zog das Erdige in mich ein, nahm einen ersten Schluck und schmatzte, um keine Geschmacksnote zu versäumen. Tu´s einfach. Wieder ein Gewebe von Bildern und Gedanken in meinem Kopf, untermalt von einer leichten Schwingung. Kein Brausen mehr, kein dumpfes Pochen. Eine andere Tonart, heiteres Dur statt Moll. Vorfreude, ein Kribbeln im Bauch
Es klingelt. Mein Nachbar steht vor der Tür. Ob ich seine Botschaft erhalte habe. Er stellt seinen Fuß in den Rahmen. Lächelnd bitte ich ihn herein, biete ihm ein Glas an. Wie ich nun über seinen Vorschlag dächte. Er betrachtet den Stein, der auf dem Tisch thront. Es täte ihm leid. Aber er sei verzweifelt. Es sei ihm auch peinlich. Aber er sah kein anderes Mittel mehr. Wahrscheinlich sei er zu weit gegangen. Ich müsse es mir nochmal überlegen. Ich verstehe nicht, zucke ratlos mit den Schultern. Nun das Grundstück, das alte Haus ihrer verstorbenen Mutter, das noch immer leer steht. Seine Tochter bräuchte doch dringend eine ordentliche Bleibe mit ihren zwei Kindern. Wir hätten doch darüber geredet. Ja, das stimmte. Ich hatte das Gespräch komplett vergessen, abgehakt. Mich von dem alten Haus zu trennen war mir völlig außerhalb des Denkbaren erschienen. Ich gab ihm die Hand. Wir würden uns einigen.