Sterbender Traum
„Wo bist du?“
„Ich... ich weiß es nicht. Alles ist dunkel. Stockdunkel.“
„Hörst du was?“
„Ja, da ist was. Es klingt wie... ein Rauschen. Ganz leicht.“
„Fühlst du was?“
„Es ist kalt.“
„Steh auf.“
„Ich kann nicht. Ich klebe fest!“
„Wie bist du hier her gekommen?“
„Ich bin gefallen. Nein. Nein! So lange... ich müsste tot sein.“
„Steh auf!“
*
Das Brötchen sah lecker aus. Karl blieb noch eine halbe Stunde Zeit, bis er sich aufmachen musste, um rechtzeitig im Labor zu sein. Er hatte jetzt Lust auf ein Ei oder doch lieber Honig?
Eine unangenehme Kälte breitete sich um seine Füße aus. Als er nachschaute, sah er Nebel, der völlig schwarz war und sich ausbreitete. Bald war die halbe Küche ausgefüllt, während er sich nicht bewegen konnte. Er nahm zwei menschenähnliche Umrisse wahr, die sich immer deutlicher abzeichneten. Die eine Gestalt war kleiner als die andere, etwa so groß wie ein neunjähriges Kind, sie hob die Hand und öffnete den Mund.
„Ah! Kuck mal Mami! Papa kleckert!“, krähte Karls Sohn Markus.
„A... Ach. So was.“ Er bemerkte, wie Honig an seinem Brötchen vorbeilief. Seine Frau Eva schaute ihn besorgt an.
*
Eva hatte allen Grund besorgt dreinzublicken, denn es gab sie nicht. Dennoch gab es sie. Auf dem Weg zur Arbeit konnte er sich Gedanken über das Paradoxon machen. Er vermochte nicht zu sagen, wann es begonnen hatte, aber wie es geschehen war, das wusste er genau.
Ein kleines, unscheinbares Päckchen erreichte das Labor. Die Maßgabe von CERN war, dass die höchst instabile Substanz in dem Gefäß auf ihre Reaktionsfähigkeit zu überprüfen sei.
Der Reinraum war perfekt hergerichtet. Bei all den Absicherungen sollte in der Vakuumkammer keine noch so feine Materie vorhanden sein.
Als er die Büchse mit dem Material öffnete, entwich etwas, das zunächst völlig schwarz war und sich ausbreitete. Silber mischte sich in das Dunkel. Ohne Vorwarnung sah er sich seiner Frau und seinem Sohn an einem Berghang gegenüber, obwohl er noch im Labor war. Es war unmöglich, dass er verheiratet war. Der Grund dafür brannte sich in sein Bewusstsein wie ein glühendes Eisen.
Im vierten Schuljahr waren seine Gefühle ein großes Mysterium für ihn gewesen. In seiner Klasse gab es ein Mädchen, das er für das hübscheste der ganzen Schule, ja, der ganzen Welt hielt. Sie interessierte sich nicht im Geringsten für ihn, bis sie eines Tages in der Pause auf ihn zukam.
„Du, ich hab schon gemerkt, wie du mich ankuckst.“ Das Mädchen ließ ein Weil verstreichen. Sie genoss dem Jungen dabei zuzusehen, wie er rot wurde. „Ich find’ dich niedlich. Können wir uns nicht mal am Nachmittag treffen oder so? Ich kenn’ da eine Scheune…“ Den letzten Satz hauchte sie nur noch.
Karl war völlig verwirrt und unfähig etwas zu sagen. Mit offenem Mund starrte er sie an. Dem Mädchen schien die Reaktion sogar zu gefallen. Lächelnd lief sie davon.
Auf den Unterricht konnte er sich nicht mehr konzentrieren und am nächsten Morgen war sich Karl sicher, dass er alles nur geträumt hatte. Doch ihre kecken Blicke und ein kleiner, weißer Zettel von ihr machten ihm klar, dass sein Traum wirklich war.
Er befand sich in der Scheune! Sie war neben ihm und versuchte etwas ungelenk, sogar grob ihm die Hose herunterzuziehen. Seine Erektion machte es ihr schwer. Er fühlte sich wie in Watte gepackt. All seine Sinne waren auf ihn selbst und dem Mädchen gerichtet, von der er glaubte sie würde ein Teil von ihm. Die verräterischen Schatten und das leise Kichern bekam er nicht mit.
Sie entfernte sich unter Gemurmel, das er nicht verstand. Plötzlich explodierte es um ihn, doch es war nur die Sonne. Aus ihr erwuchsen Gestalten, die er zunächst nicht erkannte.
Karl suchte das Gesicht des Mädchens. Als er es fand, war es wie eine elektrische Ladung, die in ihm abgefeuert wurde. Sie lächelte und er erkannte die Gestalten als seine Klassenkameraden. Sie schlugen und fassten ihn an, doch das grausamste war ihr Lächeln.
Sehr lange spürte er jene Berührungen wie schwarze Male auf seiner Haut. Nie wieder konnte er einem Mädchen oder einer Frau auch nur nahe kommen. Aber er stand an dem Berghang seiner Frau gegenüber, die er liebte. Das Gefühl der elektrischen Ladung schoss wie an jenem Tag wieder durch seinen Körper.
Er verlor das Bewusstsein.
*
Er schreckte hoch. Absolute Dunkelheit umgab ihn. Normalerweise schien das Licht einer Straßenlaterne durch die Ritzen der Rolllade. Doch so sehr er sich bemühte, den fahle Schein auszumachen, es gelang nicht.
Er hörte ein Geräusch. Es war ein leises Rauschen, das beständig in der Luft lag. Manchmal wurde es schwächer, nahm dann wieder zu. Es kam ihm bekannt vor.
Er roch den Moder. Ein Geruch, der nicht stark war aber penetrant in der Luft hing. Er war fremd und passte nicht hier her, dennoch war er vertraut.
Er spürte die Kälte. Sie kam durch Ritzen und Öffnungen gekrochen. Leichte Luftströmungen verteilte sie im Raum. Er schauderte, als ihn ein besonders kalter Hauch streifte. Obwohl er es innerlich abstreiten wollte, war ihm klar, dass so etwas nur in einem sehr großen Raum existieren konnte.
Die Härchen auf seinem ganzen Körper richteten sich auf und Schweiß erschien auf der Haut. Sein Verstand schrie geradezu das Wort Schlafzimmer. Alles um ihn herum flüsterte, dass er woanders war.
Was tun?
Er legte sich zurück. Für eine Weile. Dann bemerkte er, dass der Untergrund zu hart war. Ein Gedanke strebte durch das Chaos in seinem Kopf nach vorne: „Das wird nicht vorbeigehen!“ Ein weiterer Gedanke manifestierte sich wie ein Rettungsanker in seinem Kopf: Der Lichtschalter! Er musste ihn nur finden.
Mühsam erhob er sich. Schritt für Schritt tastete er sich voran, die Arm ausgestreckt. Er hatte das Gefühl, dass sich die Kälte verdichtete. Plötzlich stockte er. Nur noch mit halbem Fuß spürte er den Boden. Siedend heiß durchfuhr es ihn: Ein Abgrund. Trotzt der Kälte schwitzte er augenblicklich heftiger.
„Karl!“ Er hörte die Stimme laut und deutlich. Das Licht ging an und blendete ihn. Nach kurzer Zeit konnte er Eva erkennen. Sie stand neben dem Schalter einen halben Meter von ihm entfernt.
„Was“, sie musste einen Kloß herunterschlucken, „was ist nur los mit dir?“
Karl konnte seiner Frau keine Erklärung liefern. In der Dunkelheit wusste er nicht einmal, dass er verheiratet war. Wie konnte er sich nicht mehr an Markus erinnern?
Der Traum war schwer. Kein Detail konnte er vergessen und diese Erinnerungen legten sich wie ein Schatten auf seine Seele.
Obwohl in der Nacht an Schlaf nicht mehr zu denken war, ging er zur Arbeit. Seine Tätigkeit als Chemielaborant nahm ihn mehr und mehr in Anspruch und ließ langsam die Anspannung von ihm abfallen.
Das normale Leben kehrte genauso mit den Tagen und Wochen wieder zurück wie auch das Lachen in das Gesicht seiner wundervollen Ehefrau. Markus hatte glücklicherweise nichts mitbekommen.
*
Die Versuche mit der CERN-Substanz waren enttäuschend verlaufen. Er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, in welchem Aggregatzustand sie sich befand. So etwas hatte er noch nie erlebt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als tiefer zu graben um weitere Möglichkeiten zu finden.
Das Archiv lag im Keller, wo schon mal die Beleuchtung ausging. Seit seinem erschreckenden Erlebnis hatte er immer eine kleine Taschenlampe mit, doch als erwachsener Mann kam es ihm albern vor. Als die Neonröhre im Flur zum Keller den Geist aufgab, hätte er sonst was gegeben, um wieder Licht zu sehen.
Er spürte die Kälte, die auf ihn zu kroch. Das leichte Rauschen setzte wieder ein und begann langsam seinen ganzen Kopf auszufüllen. Doch dieses Mal war es anders. Der Ton war ein anderer. Als er sich vorantastete, stieß er mit dem Schienbein gegen etwas Hartes, das sich als großer Stein erwies. Obwohl er genau wusste, dass der Flur leer war, konnte er dessen Existenz nicht leugnen. Seine Augen gewöhnten sich langsam an das schwache Licht, das von irgendwoher diffus die Dunkelheit durchdrang.
Vor ihm hatte sich eine Gerölllawine aufgetürmt. Warum war er hier? Karl untersuchte die Steine. Da gab es eine Formation, die ihm seltsam erschien. Plötzlich war es so, als ob ein Schleier vor seinen Augen zerriss. Eva! Er konnte einen Teil ihres Oberkörpers erkennen, der nach hinten gelehnt war. Sie war mit dicken, wollenden Bergsteigersachen bekleidet und starrte ihn unverwandt an.
Als er bemerkte, dass sie ihre Augen leblos waren und sie nicht einmal zwinkerte, wurde ihm klar, was nicht stimmte.
Er wollte ihre Augen schließen, doch er brachte es nicht fertig ihre kalte Haut zu berühren. Den halbherzigen Versuch sie auszugraben, beendete er schnell. Dem Anblick, der durch die Steine verborgen war, konnte er sich nicht aussetzen.
Trotzdem fand er etwas: Ein kleiner Arm, der wie in der Hilfesuche erstarrt aus den Trümmern ragte, bekleidet mit Handschuh und dickem Mantel. Markus.
Noch etwas sah Karl: Das große Loch im Hinterkopf seiner Eva. Das konnte er nicht ertragen. So musste er sich ihrem Blick aussetzen. Ihrem toten Blick.
Die Bilder waren wieder klar vor seinen Augen. Am Berghang, im Labor, als er sie zum ersten Mal sah – er fühlte die Liebe zu ihr und auf alles Weibliche den abgrundtiefen Hass, den er bis dahin so vorzüglich verbergen konnte. Doch jetzt war seine Abscheu so unvereinbar mit der Liebe, dass er das Gefühl hatte er würde innerlich zerreißen. Die Wut über das neue Gefühl, das er überhaupt nicht kannte, ließ ihn zu einem Stein greifen, er glaubte sich erneut vergewaltigt.
Schwer getroffen rollte sie den Abhang hinunter und riss ihren Sohn mit in den Tod.
Die Wut war verraucht, so plötzlich wie sie gekommen war. Er heulte Rotz und Wasser, rannte wie von Sinnen umher, doch nichts ließ sich ungeschehen machen.
*
Als Karl mühsam die Augen öffnete erkannte er nach und nach seine Kollegen um ihn herum. Sie erzählten ihm, dass sie besorgt gewesen waren, als er nach zwei Stunden noch immer nicht mit den Unterlagen aus dem Keller zurückgekommen war.
Sie fanden ihn mit dem Rücken an eine Mauer sitzend. Seine Augen waren weit geöffnet und die Pupillen bewegten sich hin und her, als wäre er blind. Sein Mund war wie zu einem Entsetzensschrei geöffnet. Der Speichel lief ihm auf den Kittel herunter und hatte dort einen großen, dunklen Fleck hinterlassen.
Zuhause spürte Eva wieder diesen Kloß im Hals. Ihr war kalt und sie fühlte sich unendlich schwach. Sie fand nur mühsam Worte und war froh, als die Kollegen ihres Mannes wieder gegangen waren. Karl lag auf dem Bett, die Augen an die Decke gerichtet und war nicht ansprechbar. Sie streichelte seinen Kopf.
Nachdem er den Weg zurück gefunden und seine Schwäche weitestgehend überwunden hatte, einigten sie sich darauf, einen Psychologen aufzusuchen.
*
Hatte der Therapeut darauf bestanden den Raum abzudunkeln? Wegen der Hypnose? Karl war sich nicht sicher. Als wieder das leichte Rauschen einsetzte und die Kälte ihn zu umspülen begann, fühlte er, wie sich Panik in ihm ausbreitete.
Jemand hatte ihn aufgefordert aufzustehen. Das wollte er auch, doch er klebte fest. So sehr er sich anstrengte, seine Körper gehorchte ihm nicht. Wilde Verzweifelung trieb ihn zu immer größeren Anstrengungen – bis sich etwas löste. Er glaubte ein Schmatzen gehört zu haben. Doch nicht sein Körper hatte sich bewegt. Er spürte wie er schwebte, immer höher, wie er die Höhlendecke erreichte – und sie durchdrang.
Als er nach schier endloser Zeit das Tageslicht erreichte, sah er sich von einer schwarzen Wolke umgeben. Irritiert stellte er fest, dass er aus ihr bestand. Er konnte seine Umgebung wahrnehmen. Den Berg, in dem er gefangen war. Es zog ihn zu einem bestimmten Platz, zu einem bestimmten Haus. Was ihn dort erwartete, wusste er nicht.
*
Als er seine Augen öffnete, konnte er zunächst undeutlich Leute sehen, die um ihn herumstanden. Zwei von ihnen waren der Psychologe und Eva. Seine Frau hielt ihre Hand vor dem Mund und Tränen standen ihr in den Augen. Der Mann bekam den Mund nicht zu und sah ihn mit großen Augen an. Sie waren offensichtlich geschockt. Von einer anderen Person kam so etwas wie „Oh mein Gott“. Karl spürte, dass sie ihn für tot gehalten hatten.
Eine weitere Sitzung wollte der Doktor nicht abhalten, weil er der Meinung war, dass mit seinem Therapieansatz er seinen Patienten beinahe umgebracht hätte, was ein einmaliger Fall in der Geschichte der Psychologie gewesen wäre.
Karl war sich sicher, dass die Lösung seiner Probleme in diesem Berg lag. Natürlich war ihm bewusst, dass Eva und der Psychologe skeptisch dem Plan gegenüber waren. Sie konnten nicht wissen, was sie dort erwartete. Aus Mangel an Alternativen und dem schlechten Gewissen des Therapeuten, konnte er sie letztendlich überzeugen.
*
Ob Tage, Wochen oder gar Monate vergangen waren, konnte Karl nicht sagen. Die Zeit der Suche erlebte er wie unter einer Glocke aus Nebel. Doch der Dunst, der sich um seinen Verstand gelegt hatte, löste sich langsam auf. Er hatte gefunden, wonach er suchte. Das Bergmassiv erschien ihm so klar wie nichts anderes.
Karl führte den Trupp aus Bergsteigern, Psychologe und seiner Frau zielsicher zu einer ungefähr einen Meter im Durchmesser großen Öffnung, unter der sich ein ausgedehnter Hohlraum befand.
Ein Kribbeln durchzog seinen Körper, besonders seine Finger, dennoch er fühlte sich fast euphorisch. Unter den skeptischen Blicken seiner Frau und des Therapeuten bestand er darauf, sich als Erster den Raum hinunterzulassen.
Je tiefer er sich abseilte, desto besser war das leise Rauschen zu vernehmen, das vielleicht von einem unterirdischen Bach stammte. Die Dunkelheit umgab ihn, während die Lichter über ihm erstaunlich schnell verblassten. Selbst seine Taschenlampe war nicht mehr in der Lage, die Finsternis zu durchdringen. Doch fühlte er, wie die Verwirrung von ihm abfiel.
Im Labor war durch die CERN-Substanz ein Tor in eine andere Wirklichkeit geöffnet worden. Durch seine Tat – dem Mord – konnte sich die Grenze, die der menschliche Geist formte, nicht mehr schließen. Er war für immer mit seinem anderen Ich verbunden. Die Wirklichkeiten flossen ineinander über, Raum und Zeit wurden gestört.
Unten angekommen empfing ihn der steinige Untergrund. Er ließ das Seil los. Für einen Augenblick fragte er sich, was passiert wäre, hätte er das nicht getan. Trotzt seiner Bemühungen bekam er es nicht mehr zu fassen.
Langsam begann er sein Bewusstsein auf das auszurichten, weswegen er zurückgekommen war: Sein zerschmetterter Körper.