Sterndiamanten
Sterndiamanten
Es war heller Tag. Draußen schien die Sonne, pulsierte das Leben. Drinnen in der vornehmen, in einem weitläufigen Park gelegenen Villa am Stadtrand herrschte Stille. Wie meistens. Die Besitzer des Anwesens trugen überwiegend ernste Mienen zur Schau. Ungewöhnlich selten nur vernahm man helles Kinderlachen. Die Familie Dr. Brauns nahm den sie umgebenden Luxus als äußerliches Zeichen der steilen Karriere des Gutsherren sowie als beruhigende Zugabe in ihrem Leben ohne ersichtliche Euphorie hin. Bedeutete es ihnen allen darüber hinaus denn so gar nichts, in welch außergewöhnlichem Wohlstande sie lebten?
Finanzielle Probleme waren ein Fremdwort für sie. Geld existierte im Überfluss. Warum dann nur diese bedrückten Gesichter in diesem Hause? Selbst die Dienerschaft schien von der deprimierenden Stimmung angesteckt zu sein. Robotern gleich lebten alle hier ihr Leben, in dem die kleine, siebenjährige Tochter des Hausherrn die Hauptrolle spielte. Doch auch sie verhielt sich keinesfalls so, wie man es von einer Siebenjährigen erwartete. Das Mädchen lud weder andere Kinder zum Spielen ein noch tollte es wild herum wie seine Altersgenossen. Nein, die meiste Zeit des Tages saß es in einem Sessel und las. Schaute man ihr dabei aber interessiert über die Schulter, lüftete man das Geheimnis, dass über diesem Hause lag. Denn die Kleine hielt ein Buch ganz besonderer Art in den schmalen Händen. Die zarten Finger fuhren gleitend über die Seiten, ganz bedächtig: Zentimeter für Zentimeter. Dabei umspielte ab und an die Spur eines Lächelns den kindlichen Mund. Sekunden, in denen das hübsche Gesichtchen in verhaltener Freude aufleuchtete.
„Mama,“ rief Annabel nachforschend, „Mama, bist du da, sag doch etwas?“ Angestrengtes Lauschen, ein Fahnden nach auch nur dem leisesten Geräusch, das dem Kinde die Nähe der Mutter angezeigt hätte. Es hatte Glück. Aus dem Hintergrund trat Frau Braun herzu, legte ihm die Hände auf die Schultern. „Na, Kleines...spannend, nicht?“ Doch ihre Tochter war in ungewohnter Weise aufgeregt, hatte offensichtlich eine sie aufwühlende Frage auf dem Herzen. „Mama, was ist „Sehen“?“ Frau Braun erschrak. Ja, es wäre soweit. Sie hätte ihr eine grausame Wahrheit zu eröffnen. Ihrem Kind zu erklären, dass ihm etwas Wesentliches im Leben für immer verborgen bliebe. Annabel musste bereits zahlreiche Untersuchungen über sich ergehen lassen. Alle erbrachten dasselbe Ergebnis. Niemals würde das Mädchen wissen, welche Farbenpracht auf Erden herrschte. Nie die Blüte einer Blume oder das Gefieder eines Vögelchens bewundern und erst recht nicht die ungehemmte Freude gesunder Kinder im Spiel teilen können.
Annabel war von Geburt an blind. Den Grund dafür kannte niemand. Ein Schicksalsschlag, der das Leben der ganzen Familie dirigierte. Seit einem Jahr besuchte die Tochter eine Blindenschule. Blind unter Blinden. Selbstständig zu leben bliebe eine Illusion. Sie wäre immer auf die Hilfe Anderer angewiesen.
„Was ist „Sehen“?“ wiederholte das Kind ungeduldig geworden seine Frage. Frau Braun nahm sich einen Stuhl, rückte ihn neben den Sessel ihrer Tochter und strich dieser seufzend zärtlich über den blonden Haarschopf. „Hör zu, mein Liebling: Das, was Du mit deinen Fingern ertastest und Dir dann vorzustellen versuchst, wie eventuell es aussehen könnte...das dir zu vermitteln, ist eigentlich die Aufgabe deiner Augen.“ Was „Augen“ waren, das wusste Annabel. Die Mutter hatte eines Tages des Kindes Zeigefinger mit der eigenen Hand über dessen Gesicht geführt, es dabei darüber unterrichtet, wie das, was es erspürte, hieße. Hatte „Schwarz“ als „dunkel“ erklärt. Das war für das kleine Kind gut begreifbar gewesen, denn es lebte ja im Schwarz. Es wanderte ja zeitlebens im undurchdringlichen Dunkel. Auch „weniger dunkel“ bzw. „weniger schwarz“ konnte Annabel noch mit Hilfe ihrer Phantasie erahnen. Doch Farben wie z. B. „rot“ und „grün“ blieben allein theoretische Begriffe für sie. Verbinden konnte sie damit nichts.
Mit Hilfe von Spielfiguren hatte ihre Mutter ihr die Welt der Sehenden näher gebracht, sie die Namen des Lebens gelehrt. Annabel, ein sehr aufgewecktes Kind, begriff recht schnell, so dass sich das innere Dunkel zumindest etwas lichtete, schemenhafte Bilder der Umwelt zuließ.
Doch all dies war selbstverständlich kein Ersatz für das Augenlicht, tröstete das kleine Mädchen nur ab und an für wenige Minuten. Wie viele Stunden hatte Frau Braun schon am Kinderbett verbracht, die kleinen Hände gestreichelt, die toten Augen liebkost und den nicht versiegenden Tränenfluss getrocknet. Doch letztendlich schien es Annabel beschieden zu sein, als Außenseiterin, ja wohlmöglich die längste Zeit isoliert durchs Leben zu gehen.
So vergingen die Monate. Der Sommer neigte sich dem Ende zu, wandelte sich in den Herbst mit seinen wilden Stürmen und prasselnden Regenschauern. Dann kam der frostige Winter. Extreme Kälte verband Wassertropfen zu in der Sonne glitzerndem Schnee. Als wunderbare, weiße Decke verzauberte er die Welt in eine Märchenlandschaft. Auf den Eisbahnen liefen die Kinder Schlittschuh, rodelten die sanften Anhöhen der Wiesen hinunter und kreischten dabei vor Vergnügen. Annabels Eltern hatten ihnen den Park geöffnet, damit ihre Tochter wenigstens ein wenig deren lustigem Treiben lauschen konnte. „Ach Mama!“ flüsterte das Kind traurig. „Dürfte ich mir zu Weihnachten etwas wünschen, gäbe es für mich nur dieses Eine: „Nicht mehr im Dunkeln tappen zu müssen, nicht mehr ausgeschlossen, allein von den Schilderungen der Mitmenschen abhängig zu sein.“ Als Frau Braun die innig geseufzte Sehnsucht nach normaler Kindheit aus diesen Worten herausspürte, kämpfte sie mit den Tränen. „Mein armes Kind. Du wirst nie sehen, wie schön das Leben ist.“ Dachte sie im Stillen. Doch dann versuchte sie mit all der Energie, aus Mutterliebe geboren, ihrer Stimme einen betont fröhlichen Klang zu geben. Um dem Töchterchen aus der Tiefe der Depression herauszuhelfen, ihm Optimismus einzuflössen, der für Annabels weiteres Leben dringlichst erforderlich wäre. „Bald ist Weihnachten, Kleines! Wenn du dir es ganz fest wünscht, vielleicht geschieht dann ein Wunder. Du musst nur daran glauben!“ „Ja...Mama? Werde ich dann sehen können, wie schön alles ist? Bin ich dann wieder ganz gesund?“
Ein paar Wochen gingen ins Land. Das Christfest stand vor der Tür. Nur noch ein paar Tage. Dann wäre es soweit. Überall sah man Menschen, die hochgewachsene, mit ihren Zweigen weit ausladende Tannenbäume in ihre Häuser trugen. In den Strassen hingen Weihnachtsfiguren aus lauter bunten Birnen. Sterne, Monde, kleine Tiermodelle. Dazwischen waren Tannenzweige eingebunden. Auf den Fensterbänken der Häuser glitzerten Adventsschmuck und leuchteten Kerzen. Eine feierliche Stimmung lag über allem. Über der Stadt, über den Wäldern und Feldern ringsum. Dieses Jahr wurden sie wahrlich vom Schnee verwöhnt. Schnee und darauf sich brechender Sonneschein, welch wunderbares Bild.
Es war der Vorabend des 24.Dezembers. Wieder einmal saß Annabel in ihrem Sessel. Sie las nicht, sondern hatte die Hände im Schoss gefaltet. War ganz versunken im Gebet: „Lieber Gott, das Einzige, was ich mir wünsche, ist es, wie alle anderen Kinder zu sein. Nicht blind und allein, sondern gesund und mit sehenden Augen, die mir die Schönheit des Lebens zeigen. Du liebst uns Kinder. Bitte, hilf mir!“ Eine Träne tropfte aus ihren toten Augen auf die gefalteten Hände. Plötzlich wurde ihr es eigenartig zumute. Es war nicht, dass sie nach innigem Gebet erst wieder langsam in die nüchterne Realität hätte zurückfinden müssen. Nein, Annabel hatte auf einmal das unzweifelhafte Gefühl, nicht mehr allein im Raum zu sein. „Mama??“ Fragte das Kind zögerlich, erhielt aber keine Antwort. Verunsichert tastete sie nach der Sessellehne, stand auf, um sich dann suchend durch den Raum zu bewegen. Plötzlich entrang sich ihrer kindlichen Brust ein erschreckter Schrei. Ein Schrei wie noch nie in ihrem Leben zuvor. Unter Schock stehend, kniff sie ihre bis da toten Augen krampfhaft zu, als ob sie so die Sicherheit des gewohnten Dunkels festhalten könnte.
In Panik war Frau Braun alarmiert ins Zimmer ihres Töchterchens gestürzt. In der Annahme, Annabel wäre unglücklich gefallen. Doch an der Tür blieb sie mit geöffnetem Munde stehen, keines weiteren Schrittes mehr fähig. Wie angewurzelt verharrte sie auf der Stelle, glaubte ihren Augen und Ohren nicht. Der Raum erstrahlte in gleißender Helligkeit. Überirdisch reine Musik öffnete den beiden Menschen die verängstigten Herzen. Die lieblichen Klänge nahmen der Mutter die Panik, verwandelten diese in nur mehr fassungsloses Staunen. Mitten im Raum stand dort ein kleines Kind in weißem Gewande. Über dem goldlockigem Köpfchen aber schwebte ein silberner Stern. Ein Sternenkind war es, das dann mit glockenheller Stimme zu Annabel sprach: „Hab keine Angst. Ich bringe dir die schönste Nachricht deines Lebens. Von dem heutigen Tage an sollst du nicht mehr im Dunkeln leben. Du wirst wie alle anderen Kinder auch sehend sein, endlich die Schönheit des Lebens mit all seinen Formen und Farben genießen können. Sei glücklich, Annabel. Gott segne dich und deine Eltern, die dich bisher so sehr behüteten!“
Kaum hatte das Sternenkind seine kleine Ansprache beendet, geschah etwas Wunderbares. Zum Eintritt in dies neue bunte Leben hatte es dem kleinen Mädchen, das noch immer verstört neben der Mutter dort stand, deren eine Hand furchtsam umklammert, ein Geschenk zugedacht, das für Annabel ihr Leben lang unvergesslich bliebe.
Das Himmelskind griff nach dem silbernen Stern über seinem Kopf. Einen Moment lang hielt es ihn in seinen zierlichen Händen. Berührte ihn mit dem Munde für einen zart gehauchten Kuss. Ein jubilierender Laut: Im nächsten Moment stand Annabel in einem goldenen, einem Sonnenstrahl nicht unähnlichen Licht. Über ihrem Kopf schwebte für eine Sekunde der silberne Stern. Dann geschah es: Das Himmelsgebilde wurde zu einem Meer winziger Schneeflöckchen, die leise, gleich kostbaren Diamanten funkelnd, auf des kleinen Mädchens lockiges Haar nieder rieselten.
Wiederum tönte ein Schrei durchs Haus. Diesmal ein Schrei unbändigen Jubels und überschäumender Dankbarkeit: „Mama! Es ist nicht mehr dunkel. Ich sehe dich, mein Zimmer und auch die Bäume draußen.“ Dann, nach eienr kurzen atemlosen Pause setzte Annabel leise hinzu: „Und den Schnee!! Mama, ich kann sehen. Ich bin geheilt.“ Zaghaft griff sie nach einem der Schneeflöckchen in ihrem Haar, beobachtete wie betäubt, wie diese in ihrer warmen Kinderhand langsam zerschmolz Die Faszination, die diese beiden Menschen in ihrem Bann gefangen gehalten hatte, wich dem überwältigenden Bewusstsein dessen, welches Wunder ihnen da beschert worden war. Tränenfeuchten Gesichtes sanken Mutter und Tochter auf die Knie, wollten dem Sternenkind Dank sagen. Aber es war verschwunden, sie wieder allein.
Die Himmelsmusik war verklungen.
Das überirdische Licht verblasst.
Doch in ihrem Herzen strahlte es weiter, ein ganzes langes Leben lang.