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Sterne zählen
Ein Studentenwohnheim ist ein merkwürdiger Ort. Eine Mischung aus Internat und Arbeitslosenasyl. Junge Menschen warten hinter identischen Holztüren darauf, dass das Leben anklopft und bereiten sich mit dicken Büchern auf seine Ankunft vor.
Es ist kurz vor neun und ich versuche mich auf die anatomischen Fakten vor mir zu konzentrieren, während ich aus Gewohnheit auf das Klopfen warte.
Stattdessen klingelt mein Handy.
Ein unangenehmes schrilles Geräusch und wenn ich die Augen schließe, sehe ich einen altmodischen riesigen Apparat mit Wählscheibe. Ich hasse diese modernen Klingeltöne, die überall die aktuellsten Charthits quäkend parodieren und dabei den Eindruck erwecken, sie wären aus Plastik statt Tönen komponiert. Wenn ich Musik hören will, nehme ich dazu nicht mein Telefon.
Es klingelt fünfmal, bis es aufhört. Ich antworte immer erst beim sechsten Läuten. Das ist eine feste Regel. Wenn jemand nicht so lange warten kann, war sein Anruf sicher auch nicht wichtig.
Ich werfe einen prüfenden Blick durch einen Spalt meiner dunklen Vorhänge nach draußen. Vor elf Minuten ist die Sonne untergegangen, aber noch immer liegt die Hitze wie eine viel zu dicke Decke erstickend und schwül über der Stadt.
Es läutet wieder und diesmal werfe ich einen Blick auf das Display, das die Nummer meiner Mutter anzeigt.
„Fünfeinviertel, Fünf ein Halb, Fünfdreiviertel, ...“ Eigentlich ist das mit dem sechsten Klingeln auch mehr eine Richtlinie als eine feste Regel.
Aber diesmal ist meine Mutter hartnäckig und ich sehe deutlich vor mir, wie ihre rotlackierten Fingernägel in einem ungeduldigen Stakkato auf den gläsernen Telefontisch trommeln. Ich gehe zum Kleiderschrank und schiebe das Handy zwischen meine Pullover.
In spätestens zehn Minuten wird sie es noch einmal versuchen. Dann wird sie mir eine Nachricht auf die Mailbox sprechen, dabei viel reden ohne etwas zu sagen und mich abschließend mal wieder auffordern, endlich meine Ansage zu ändern.
„Guten Tag. Hier spricht die elektronische Sekretärin von Kirsten Stadler. Wenn Sie diesen Namen nicht kennen, dann haben sie sich verwählt. Ich habe jetzt Kaffeepause und kann keine Nachrichten entgegennehmen. Bitte legen Sie nach dem Signalton auf.“
Ich glaube, Studenten die Bafög beziehen, haben einen eindeutigen Vorteil beim Abnabelungsprozess vom Elternhaus. Und wenn die Erzeugerfraktion dann auch noch knapp zwanzig Kilometer vom eigenen Wohnort entfernt lebt, hat man diesen Wettlauf schon beim Startschuss verloren. Dankbare Anhänglichkeit und regelmäßige Besuche als Gegenleistung für den monatlichen Geldregen. Und das unvermeidbare schlechte Gewissen bei Missachtung dieser Verpflichtungen. Aber heute Abend will ich trotzdem nicht mit meiner Mutter reden.
Ich öffne die Vorhänge und klettere auf mein Fensterbrett um zu beobachten, wie die Stadt langsam einschläft. Mit einer Hand fummele ich eine Zigarette aus ihrer blauen Verpackung und klopfe dreimal mit dem Filter auf meinen Handrücken bevor ich sie anzünde.
Mittlerweile ist es völlig dunkel und ich versuche die Fenster zu zählen, die noch beleuchtet sind.
Ich hasse es in dieser Kleinstadt zu wohnen. "Romantisch und verträumt" – so beschreiben es die Fremdenführer euphemistisch für die Touristen, die um diese Jahreszeit in Scharen hier einfallen. Ihre Digitalkameras wie ein magisches drittes Auge vor die Gesichter gedrückt, hetzen sie in summenden Schwärmen durch die Straßen und jagen vergeblich eine Atmosphäre, die ihre Anwesenheit längst vertrieben hat.
Wirklich große Städte scheinen nie zu schlafen - und vielleicht fühlt man sich dort dann nachts auch nicht so allein.
Wenn ich auf meinem Fensterbrett im fünften Stock sitze und die Autos auf der Schnellstraße auf der anderen Seite des Hügels zähle, dann fühle ich mich nicht nur einsam. Es ist als würde auch die Realität sich in dieser Stadt nachts schlafen legen um erst am nächsten Morgen wieder aufzustehen.
Ich hab Anna mal davon erzählt. Sie sagte, das wäre der poetischste Schwachsinn, den sie jemals gehört hätte, doch deshalb nicht weniger blöd und ich sollte einfach versuchen, weniger Kaffee zu trinken und nachts zu schlafen wie normale Menschen.
Eine Zigarette nach der anderen zieht als blauer Dunst durch das offene Fenster nach draußen und verschwindet in der Dunkelheit. Rauch enthält Benzol, Nitrosamine, Formaldehyd und Blausäure. Zum Beispiel.
Ich werde bald mit dem Rauchen aufhören. Ich hab an meinem neunzehnten Geburtstag angefangen und mir vorgenommen, genau 1000 Tage lang zu rauchen. Natürlich war das absolut dämlich von mir, aber eigentlich auch nicht dümmer als aus Versehen anzufangen.
So hab ich zumindest einen Plan.
Ich angle meinen Taschenrechner vom Schreibtisch um mal wieder eine Zwischenbilanz zu erstellen. In den einhundertzweiundfünfzig Tagen die mir noch bleiben werde ich schätzungsweise noch 3192 Zigaretten rauchen.
„Das ist absolut widerlich.“ Unabsichtlich spreche ich diesen letzten Gedanken laut aus und merke erst jetzt wie still mein Zimmer ist.
Ich erinnere mich an eine Autofahrt mit meiner Mutter. Ich saß fest angeschnallt im Kindersitz auf der Rückbank, fünf Jahre alt, vielleicht auch sechs. Ein langer Stau auf der Autobahn, draußen fing es an zu regnen, meine Mutter schaltete den Scheibenwischer ein und ich fing an zu zählen. Natürlich laut.
„Kirsten, ich sage dir das nur einmal. Hör damit auf.“
„Dreiundsechzig, vierundsechzig, warum, fünfundsechzig ...“
„Spiel doch mit deiner Puppe oder schau dir dein Bilderbuch an.“
Ich schüttelte den Kopf und zählte weiter. Meine Mutter drehte den Rückspiegel, um mir einen ihrer besonderen Blicke zu schenken. Nur Frauen beherrschen diese subtile Art einer ernstgemeinten letzten Warnung. Vielleicht liegt das am Eyeliner, aber jeder Mann und jedes Kind erkennt die drohende Explosion, die aus solchen Augen blitzt.
Ich fing an zu schluchzen, weil ich nicht wusste, wie ich meiner Mutter die fundamentale Bedeutung des Zählens begreiflich machen sollte. Die wiederum seufzte genervt und schob eine Kinderkassette in den Rekorder. Ein akzeptabler Kompromiss.
Mittlerweile ist das Zählen besser geworden, außer wenn ich aufgeregt, ängstlich oder nervös bin. Und heute Nacht ist das der Fall.
Ich setze mich vor den Computer und gehe ins Internet. Die beste Methode um so viel Zeit wie möglich völlig sinnlos und unbemerkt tot zu schlagen. Ein alltäglicher Amoklauf gegen die Realität, den niemand wahrnimmt, weil er in unserer Zeit längst normal geworden ist.
Ich informiere mich über Paris Hiltons aktuellste Eskapaden, lese zwei oder drei schlecht geschriebene Filmkritiken und suche Photos von Pinguinen. Tippe eine bemüht witzige Email und gerate versehentlich in ein Selbsthilfeforum für Amalgamgeschädigte. Das inspiriert mich und ich mache mich auf die Suche nach weiteren virtuellen Treffpunkten eingebildeter und echter Kranker. Kurzeitig denke ich darüber nach, bei dem Club für Pseudokrupp Mitglied zu werden. Immerhin habe ich vor kurzem die ersten Anzeichen von Raucherhusten bei mir entdeckt. Aber mir fällt noch rechtzeitig auf, dass diese Idee tatsächlich ungemein schwachsinnig ist und ich jetzt eindeutig genügend Zeit und Gehirnzellen getötet habe. Also logge ich mich aus.
Ich trete durch die Glastür ins Treppenhaus, rufe mit einem Knopfdruck den Aufzug. Bevor ich in die Kabine trete hole ich tief Luft. Fünfzehn Sekunden dauert die Fahrt bis ins Erdgeschoss – wenn der Fahrstuhl nicht stecken bleibt. Ich schließe die Augen und zähle. Wenn ich den Atem anhalte, bis er hält, bleibt er nicht stecken. Ich hab Platzangst. Natürlich könnte ich auch die Treppen nehmen – aber man soll sich doch seinen Ängsten stellen.
Ich hab es mal wieder geschafft. Der Aufzug hält und nach weiteren zwei Sekunden öffnet sich die automatische Tür und lässt mich nach draußen. Meine Absätze klappern über den Steinboden der Eingangshalle. Das Geräusch gefällt mir. Es klingt so zielstrebig. Als wüsste der Besitzer dieser Schuhe genau, wohin er will.
Der Parkplatz vor dem Haus ist nicht beleuchtet. Ich hab schon dreimal eine Petition an die Verwaltung des Wohnheims verfasst, doch endlich ein paar ordentliche Lampen aufzustellen. Aber ich hab sie nie abgeschickt, weil ich nicht so paranoid wirken wollte. Außer mir scheint das ja niemanden zu stören.
Im Auto ziehe ich die Schuhe aus, weil man mit hohen Absätzen nicht fahren sollte.
Mein Auto ist alt. Ein dunkelblauer Citroen, Baujahr 84, genau wie ich, wie mein Vater nie müde wird zu erwähnen. „Tja, damals hat man eben noch auf Qualität geachtet. Diese alten Kisten halten viel mehr aus, als man denkt.“
Diesen Satz konnte er sich nicht einmal verkneifen, als ich bei meinem ersten Unfall einem nagelneuen Golf die Seitentür eingedrückt hatte. Dessen Fahrerin war etwa in meinem Alter und stand heulend neben ihrem Wagen. Bei mir war nur der linke Scheinwerfer zersprungen. Mein Vater ließ es sich nicht nehmen persönlich an der Unfallstelle vorzufahren und war so stolz auf den Citroen, dass er sogar das Bußgeld wegen der Vorfahrtsmissachtung übernahm.
Es ist zehn vor halb drei. Die Fahrt zur einzigen Tankstelle, die um diese Zeit noch geöffnet hat, dauert genau sechs Minuten. Acht, wenn alle drei Ampeln unterwegs auf rot stehen. Heute habe ich Glück.
Das Licht in der Tankstelle ist zu grell. Meine Sonnenbrille ist in der Handtasche und ich würde sie gerne aufsetzen. Aber ich möchte nicht, dass der Mann hinter der Kasse mich für seltsam hält. Außerdem brauche ich nicht lange für meine Auswahl. Eine Flasche Coca-Cola light und zwei Snickers.
„Und eine Schachtel blaue Gauloises bitte.“
Er lächelt mich an, während die Preise in die Kasse tippt.
„Ganz schön spät für einen Mitternachtsimbiss.“
„Eine gesunde Ernährung ist sehr wichtig.“ Das sollte eigentlich ein Witz sein, aber er scheint ihn erst zu verstehen, als auch ich meine Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln verziehe.
„Lernst du gerade für eine Prüfung?“
Diesmal brauche ich einen Moment, bis ich begreife, wie er meine nächtliche Aktivität in Kombination mit meinen Einkäufen interpretiert.
„Oh ja ... Genau. Ich studiere Medizin, weißt du. Da lernt man eigentlich immer für eine Prüfung.“
„Und du bist so fleißig am Arbeiten, dass du nicht einmal Zeit hattest, dir Schuhe anzuziehen?“ Er hat meine nackten Füße bemerkt.
„Nein, die hab ich nur im Auto gelassen.“ Ich erkläre ihm, wie gefährlich es ist, mit hohen Absätzen Auto zu fahren. Man kann dabei leicht von den Pedalen abrutschen und außerdem wird das Gefühl in den Füßen dadurch negativ beeinflusst.
„Barfüßig fahren ist aber auch nicht erlaubt.“
„Ehrlich? Aber das ist überhaupt nicht sinnvoll.“
„Tja, und in Arizona ist es verboten, in der Öffentlichkeit Hosenträger zu tragen.“
„Und in Tenneesse darf man Fische nicht mit dem Lasso fangen.“ Ausgleich. Wir lächeln uns an. Ich packe die Schokoriegel und die Zigaretten in die Handtasche.
„Na dann, viel Erfolg bei deinen Prüfungen.“
Aus den Scheiben meines Autos kommt mir mein Spiegelbild entgegen. Eine behütete Wohlstandsgöre mit dunklen Augenringen vom freiwilligen Schlafentzug. Irgendwie hoffe ich, dass sich der nette Verkäufer auf meinen Ausschnitt konzentriert und damit etwas anderes gesehen hat.
Wieder zu Hause laufe ich die Treppen nach oben in den fünften Stock. Abgesehen von meinem Ausflug gerade eben kann ich mich nicht erinnern, das Haus heute schon einmal verlassen zu haben. Jeder sollte darauf achten, ein bisschen Sport in seinen Alltag einzuplanen und Bewegungsmangel ist eine der Hauptursachen für zahllose Krankheiten in unserer Gesellschaft.
Mein Zimmer sieht sicherlich nicht anders aus als zuvor. Aber irgendetwas stimmt nicht. Ich bleibe in der offenen Tür stehen und lasse meinen Blick über das vertraute Chaos wandern. Auf dem Boden verteilt sich der Inhalt meines Kleiderschranks, Bücher, Zeitschriften, fünf leere Wasserflaschen, vier paar Schuhe, mein immer noch feuchter Bikini und dazwischen meine Zimmerpalme Tom, die seit einiger Zeit leider ziemlich krank aussieht.
Auf meinem Schreibtisch stapeln sich insgesamt dreizehn Gläser und Tassen mit mehr oder weniger angetrockneten Kaffee- und Teerückständen. Der Bildschirmschoner meines Computers, ein Teller mit einer halben Pizza und ... Stop! Da war es doch gerade!
Ich zähle noch einmal nach. Tatsächlich - genau dreizehn. Das darf nicht so bleiben und bringt mich wieder in Bewegung.
Neben meinem Bett steht ein halbvoller Becher Orangensaft, in dem ein verirrter Nachtfalter gerade seinen Freischwimmer absolviert. Ich biete ihm meinen Finger als Rettungsring an und stelle den Becher dann zu dem restlichen Geschirr auf den Schreibtisch.
Vorsichtig klettere ich über den Schreibtisch auf mein Fensterbrett. Der Nachtfalter erholt sich immer noch auf meiner Hand von seinem Bad. Während ich ihn mit meinem Atem trocken föne, überlege ich, ob Insekten von altem Orangensaft eine Lebensmittelvergiftung davontragen können. Aber mein Patient krabbelt recht schnell wieder munter über meine Finger und startet von meinem Daumen aus seinen Flug zurück in die Nacht.
In diesem Moment ertönt aus meinem Nachbarzimmer der schrille Angstschrei einer Frau. Er steigert sich zu einem panischen Kreischen und bricht dann ab. Eine noch viel beängstigendere Stille folgt. Totenstille.
Ich bewaffne mich mit den Zigaretten und dem Snickers aus meiner Handtasche und schleiche geräuschlos aus meinem Zimmer und bis zur nächsten Tür. Ich lausche einen Moment und klopfe dann leise.
„Rein!“ Der Schlüssel steckt und ich folge der freundlichen Einladung nach drinnen.
Michael studiert Philosophie und ist genauso schlaflos wie ich. Er sitzt rauchend auf dem Bett und verfolgt gleichgültig das Gemetzel auf dem riesigen Flachbildschirm seines Computers.
„Mach`s dir bequem.“ Er steht auf und hält den Film an, während seine recht Hand hinter sich in Richtung des braunen Ledersessels deutet. Ich setze mich und zünde mir eine Zigarette an.
„Wie war dein Tag?“
„Ging so. Acht Stunden Zocken und trotzdem nur knapp 300 Kills. So ein dämlicher Noob hat mich ständig geblockt.“
Michael spielt Counter Strike. Hauptberuflich. Nun, wir leben ja alle irgendwie in unserer eigenen kleinen Welt.
„Was schaust du da?“
„Jason im Blutrausch. Hab aber gerade erst angefangen. Magst du mitschauen?“
Horrorfilme machen mich noch nervöser, als ich ohnehin schon bin, aber das hält mich selten davon ab, sie trotzdem anzuschauen. Seit Michael neben mir eingezogen ist, hab ich zusammen mit ihm mehr Blut fließen sehen als in meinem bisherigen Studium. Er behauptet, das wäre eine gute Vorbereitung auf meinen späteren Beruf – und er wartet sogar geduldig vor der Toilettentür, wenn ich mich hinterher nicht mehr allein über den Gang traue.
Auch jetzt zeigt er ein weiteres Mal Verständnis für meine Ängste und wirft mir sein Kopfkissen in den Schoß.
“Da. Ich sag dir rechtzeitig Bescheid, bevor du dich verstecken musst.“
Also sehen wir Jason beim Morden zu und ich denke zwischenzeitlich hinter dem Kopfkissen darüber nach, ob ich Michael erzählen sollte, worüber ich nachdenke. Aber ich hab mir vorgenommen, es nicht zu tun. Und außerdem reden wir auch sonst nie besonders viel miteinander. Und da sich still nebeneinander sitzen und rauchen bisher immer gut angefühlt hat, gibt es keinen echten Grund, das heute noch zu ändern.
„Wir haben uns mal geküsst, oder?“ Michael dreht den Kopf. Und nickt.
„Wann?“
„Das ist schon ewig her. Mindestens ein Jahr oder so.“ Ich bin schockiert. Wenigstens ein bisschen.
„Warum weiß ich das nicht mehr?“ Er grinst.
„Weil du total betrunken warst. Wodka – pur. Und du hattest fast die halbe Flasche für dich.“
Er interpretiert meinen schuldbewussten Gesichtsausdruck richtig und fügt hinzu: „Ich war mir am nächsten Morgen auch nicht sicher, ob es wirklich passiert ist.“
„Oh.“ Ich drücke die Zigarette auf dem Fensterbrett aus, lasse sie fünf Stockwerke tief nach unten fallen und überlege, ob ich es ihm doch sagen soll. Aber das würde die Stimmung ruinieren, also verabschiede ich mich einfach und gehe in mein Zimmer.
Dort klettere ich zurück auf das Fensterbrett um zu beobachten, wie die Stadt langsam aufwacht. Meine letzte Nacht ist fast vorbei.
In ein paar Stunden wird mein Vater kommen und mir helfen, meine Kisten und die wenigen eigenen Möbel in den gemieteten Anhänger zu verfrachten. Und er wird sich ein weiteres Mal laut fragen, wie seine hilflose und unpraktische Tochter in einer echten Großstadt alleine überleben soll. Ich werde ihn trösten und ihm sagen, dass der Citroen schon auf mich aufpassen wird. Das wird ihn zumindest ablenken und er wird die Motorhaube öffnen, den Ölstand prüfen, den Motor zärtlich tätscheln und mir Geld zum Tanken in die Hand drücken.
Anschließend werde ich ihn umarmen, mich in mein Auto setzen und mich auf den Weg nach Berlin machen. Eine Stadt, die mir zu groß vorkommt um sie mit Hilfe meiner Zahlen ordnen zu können. Außer meinen Eltern weiß niemand, dass ich heute verschwinde. Ich hab es meinen Freunden nicht erzählt. Vielleicht weil ich solche Angst vor dieser Veränderung hatte, dass ich sie so lange wie möglich nicht real werden lassen wollte. Natürlich hat das nichts geändert.
Ein orangefarbener Müllwagen fährt langsam die Straße entlang und hält vor unserem Wohnheim. Einer der Arbeiter entdeckt mich, als er zu den Mülltonnen läuft und ich winke ihm zu.
„Auch schon wach?“ Er schreit lauter als nötig. Vielleicht hofft er, mit seiner Stimme ein paar weitere Studenten aus ihrem faulen Schlaf zu reißen.
„Immer noch,“ brülle ich zurück und stelle in diesem Moment fest, dass ich keine Angst mehr habe.
Drei Jahre lang hab ich hinter meiner Wohnheimstür auf etwas gewartet, das nicht eingetreten ist und dabei versucht, die Gegenwart zu ignorieren. Ein unordentliches Studentenzimmer in einer Kleinstadt, in der mir an jeder zweiten Straßenecke langweilige Erinnerungen entgegenlächeln. Tagsüber Vorlesungen, viele kluge Bücher und dazwischen eingeplante Treffen mit Freunden, die ich schon seit Jahren kenne. Und manchmal in der Nacht die Sterne zählen.
Möglicherweise ist auch das hier schon längst das Leben und ich habe es nur nicht gemerkt.
Aber vielleicht muss ich ihm auch ein paar Schritte entgegen gehen.
Und zumindest gibt es in Berlin bestimmt mehr als eine Tankstelle, an der man die ganze Nacht hindurch Cola und Schokolade kaufen kann.
Ich gehe zurück zum Schrank und krame nach meinem Telefon, um Anna anzurufen, mich von ihr zu verabschieden und ihr zu erzählen, dass ich angefangen habe, mich zu bewegen.