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Sternenkind

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21.10.2001
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Sternenkind

Gemessen an dem Sonnenlicht, das von der Seite in ihr Gesicht fiel, war es ungefähr acht Uhr. Manchmal auch schlagartig später, wenn sie den Kopf plötzlich in ihre Hand stützte und nachdachte, in ein Gespräch vertieft, das auf seltsame Weise gerade ein anderer Teil von ihm mit ihr führte. Wie vor eine große Leinwand versetzt, war er nur Beobachter, der staunend registriert, welchen Detailreichtum die Welt bei genauerem Hinsehen besitzt: Dieser Schatten, der so unglaublich anschmiegsam von der Nase herab über die Rundung der Wange glitt, irgendwo am Hals zu verlaufen schien. An den Mundwinkeln verlor er etwas von seinem harmonischen Dahinfließen. Hier wurden ihm die kleinen Lachfältchen zum Verhängnis.
Schatten müßte man sein. Verbotenes oder noch unentdecktes Land betreten dürfen. Wie auf den Miniaturlandschaften ihrer Iris. Man konnte genau die kleinen unregelmäßigen Erhebungen erkennen und die zarten Muskelfasern, die furchenziehend auf die Pupille zuliefen. Überwucherte Landebahnen? Wie würde das sein?

Versuch I

Feuerzeichen ertrinken
Lichtnebel tropft
verliert sich verblassend
am Rande der Iris
stehe ich am Abgrund
bereit zu fallen
in die Tiefe
die forschend
nach mir greift

Würde es weh tun? Wahrscheinlich nicht. Ist doch nur ein mit Gelee gefülltes Sehorgan.
Woher kommt aber dann diese Faszination für das Besondere, Einzigartige? Die Art, wie manche Menschen sprechen, sich bewegen, lachen, wie der Glanz ihrer Augen auf uns wirkt, uns vereinnahmt zwischen Staunen und Erzittern, als hätte man hier etwas vor sich, daß einem gleichzeitig vertraut und doch völlig fremd ist. Woher kommen diese Prägungen? Sind es wirklich nur die späten Inkarnationen der Märchenfiguren unser frühen Kindheit? König Papa, Königin Mama und der ganze Hofstaat. Wer würfelte diese Erinnerungen durcheinander, daß wir in vielem einen Teil davon wiederzufinden scheinen, doch nie alles? Nie soviel, daß unser Herz bis ins letzte das Gefühl hätte, wieder zu Hause angekommen zu sein. Oder sind es doch nur die komplementären Ergänzungen, der Versuch, etwas Zerrissenes wieder zusammenzufügen? Das lebenslange Aneinanderreiben von Bruchlinien, Ecken und Kanten und stets nur Annäherungen, Kompromisse, Patchwork.
Ihre Augen waren da eine beunruhigende Ausnahme, ohne daß er bestimmen konnte, woran es lag. Etwas hielt ihn gefangen. Ein besonderer Glanz, der über diesem unergründlichem Schwarz lag, nur für ihn geschaffen schien und alle flackernde Disharmonien des Alltags schlagartig auf Null zurücksetzte. Ihre Augen hatten die Fähigkeit, ihn wie mit einem Traktorstrahl dem Zeitrahmen zu entreißen, aneinandergekoppelt zu schweben, während die Erde weiter rotierte mit allen Stimmen, Farben und Bewegungen. Wie wohl die Welt aus ihren Augen aussah?

Versuch II

alles
was eben noch
ernsthaft
bemüht war
nach draußen zu schauen
ist vom Fensterbrett gefallen
mit den Lichtern der Welt
in die Wiege ihrer Augen
hat sich gebettet
dann die Lider zugezogen
- eingeschlafen

Sie hatte für einen kurzen Moment die Augen geschlossen, den Kopf leicht zurückgeneigt, um die Sonne auf ihrer Haut zu genießen. Diese unerklärliche Faszination. Wie war das möglich? Irgendetwas in ihm verlor sich mit Vorliebe in diese Tiefen und sehnte schon jetzt ungeduldig den Moment, in dem sie wieder ihre Augen öffnen würde. Angekündigt von einem leichten Erzittern der Lidränder, als müßten erst die Motoren eines Observatoriums anlaufen, um in Zeitlupe die schweren Halbschalendächer zu öffnen. Sternenkind, durchzuckte es ihn. Vielleicht ist es die untrennbare Einheit von Dunkelheit und Geborgenheit, die am Anfang unseres Empfindens stand. Wir sind in einem kleinen Abbild des Universums herangereift. Schwärze rings herum, Schwerelosigkeit und ein kleiner Kosmonaut, mit einer Versorgungsschnur und viel Zeit zum Staunen: Über Geräusche, die gedämpft zu ihm drangen, unverständliche Schwingungen, die ihm von irgendwoher vermittelt wurden. Eine vertraute Ahnung von Dingen, die er nicht verstand, doch spürte. Vielleicht ist dieser Teil in uns, der Dunkelheit atmete und voller Ehrfurcht dem Herzschlag der Welt lauschte, noch vor jedem Bewußtsein und dem ersten Gedanken in uns eingeprägt war, doch noch nicht völlig verblaßt. Vielleicht ist es eine Art Heimweh, die uns ein Leben lang in den Augen der Menschen nach der einst vertrauten Schwärze suchen läßt, im steten Schmerz darüber, vom mütterlichen Herzschlag entkoppelt worden zu sein, entlassen in eine Welt voller Arrhythmien. Manchmal scheint es, als wäre man wieder nach Hause zurückgekehrt. Einen Augenblick lang.
Der Zeiger der Sonnenuhr war verblaßt. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben. Und noch immer unterhielten sie sich über irgendwas.

____________

 

Poetisch, ausdrucksstark und irgendwie doch zurückhaltend. Nicht drängend, nicht hektisch, so eine ganz unbeschreibliche Ruhe hat sich in mir ausgebreitet, als ich diese Geschichte gelesen habe...
...Wunderschön...

Davon braucht die Welt mehr!
liebe grüße

 

Hallo Luftgängerin

so eine ganz unbeschreibliche Ruhe hat sich in mir ausgebreitet, als ich diese Geschichte gelesen habe...

Seltsam. Der Titel, der die letzten Tage während des Schreibens immer im Hintergrund lief, hieß "Das Schweigen" (Lacrimosa). Das nur am Rande ;-) Ich freue mich sehr, daß es die Geschichte vermag, etwas von diesen kaum faßbaren Empfindungen zu vermitteln. Für mich ist hier eindeutig eine Grenze des Darstellbaren erreicht und viele Visualisierungen habe ich dem 'Unbewußten'(?) regelrecht abringen müssen. Kämpfen lohnt sich ;-) Danke für das Feedback!

Grüße Martin

 

Hallo,

Auch mir hat die Geschichte richtig gut gefallen. Was bleibt uns angesichts dieser "schwärze rings herum"? Die Aesthetik des Seins. Besonders die beiden lyrischen Teile intesivieren dieses Gefühl.

Weiter so.

 

Mahlzeit!

Gut, manchmal fast zu viel Umschreibungen. Trotzdem schön zu lesen. Man muß sich sehr konzentrieren. Der philosophische Aspekt tritt erst im letzten Drittel in den Vordergrund. Nicht zu stark. Doch so, daß ihn jeder erahnen kann.

Heiko

 

@I3en: Danke für deinen Kommentar. >Die Aesthetik des Seins< klingt wirklich philosophisch. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Text in diese abstrakten Ebenen vordringen kann. Fragt man sich, worauf diese "Sternenkind-Erkenntnis" beruht, stößt man auf das gefühlsbetonte Streben nach Verbindung mit etwas "Höherem", die Mystifikation einer Erfahrung, die eher subjektiv verklärt als rational interpretiert wurde. Gäbe es hier eine Rubrik >Mythologisches<, hätte ich den Text lieber dort einsortiert ;-)
@Morphin: Bezieht sich dein Eindruck, daß der Text sehr viele Umschreibungen verwendet, eher auf den Schreibstil generell oder wäre in deinen Augen eine Textänderung an bestimmten Stellen angebracht? Vielleicht neige ich als "Lyriker" dazu, verstärkt auf Metaphern zurückzugreifen, ohne daß es mir selbst auffällt. Bin für jeden Hinweis zum Text bzw. dem Stil dankbar, da ich mich in der Prosa noch immer auf Neuland bewege - jedenfalls empfinde ich es so.

Grüße Martin

 

Nachdem ich jetzt auch noch deine andere Geschichten gelesen habe, muss ich sagen:
Ich habe selten jemanden erlebt, der Worte so schön, so geordnet und deutlich, so klar aneinander reihen kann wie du.
Mehr kann ich gar nicht sagen, weil ich so fasziniert und verzückt bin und einfach sprachlos!!

 

Hallo Luftgängerin

Das sind Worte, die man als Schreibender gern vernimmt :-) Danke! Aber ist es nicht vielmehr so, daß es sehr viele Autoren gibt, die wirklich gute, sprachlich ausgereifte Texte schreiben (auch hier!!!)? Und ist es nicht eher so, daß manche davon es aus irgendeinem Grund eher vermögen, eine bestimmte Faser in uns zu treffen? Das ist keine Frage der Qualität, denke ich ... unsere Affinität zu bestimmten Autoren ist eher eine Frage des Gefühls ... wie sehr ihre Art zu schreiben, mit unserer Art wahrzunehmen harmoniert. Huch ... ich theoretisiere ;-)
Will nur sagen: Wir Hobbyautoren (hoffentlich fühlt sich dadurch niemand beleidigt!?) sind alle noch auf dem Weg. Manche vielleicht weiter als andere. Aber kein Grund, beeindruckt zu sein! Du kannst dir sicher sein, daß auch ich so manche Lektion habe lernen müssen und bereitwillig jede Kritik entgegengenommen habe. Es ist und bleibt Arbeit, die Spaß macht ;-)

Grüße Martin

 

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