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Sternenlichter
Sternenlichter
Für Natalie
“Sieh nur, da oben leuchtet es!”, schreit mich Jonathan an. Er ist ganz aufgeregt, seine Augen sind geweitet, aber dennoch so wunderschön, wie es kein Stern dort oben sein kann. Ich sehe in die Richtung seines ausgestreckten Fingers. Da oben ist ein kleines Licht, vielleicht von einem Flugzeug, das sich nach Osten bewegt.
“Ja, ich kann es sehen”, antworte ich und streiche meinem Sohn liebevoll durch das Haar.
“Was ist das?”
“Das ist ein Mensch, denke ich doch!” Meine Worte sind irgendwie salzig. Ich habe diesen seltsamen Geschmack in meinem Mund, der mich immer dann befällt, wenn ich versuche, es ihm zu sagen. Jonathan, dieser Junge mit den langen, blonden Haaren starrt mich mit seinen herrlich blauen Augen an, ganz so, als würde er erwarten, dass ich weiter rede.
“Darf ich auch mal fliegen?”
“Ja, irgendwann buche ich uns beiden mal eine schöne Reise nach Spanien und dann fliegen wir mit einem Flugzeug. Und du kannst durch das Fenster sehen und die Menschen werden immer kleiner werden. Am Ende werden wir auch durch die Wolken fliegen.”
“Fein”, sagt er und nickt mit seinem Kopf. Meine Hand streicht über seinen Rücken, ich versuche seine Schulter zu umklammern, das Zittern meiner Arme zu ignorieren.
“Ich hole mir mal eben was zu trinken”, sage ich und lasse meinen Sohn alleine auf dem Balkon zurück. Der menschenleere Innenhof mit seinem kleinen, unbeleuchteten Garten sieht gespenstig aus. Er nickt nur, wie immer. Leider ist Jonathan sehr schweigsam, eine Eigenart, die er wohl von mir geerbt haben muss. Er druckst noch ein “okay” heraus und sieht wieder nach oben in den schönen Sternenhimmel. Er sieht so klein aus, wie er da im Schein des Wohnzimmerlichtes steht. Es fällt mir schwer, meinen Blick von ihm abzuwenden. Ich schlucke kräftig den Speichel, der sich in meinem Mund angesammelt hat, hinunter. Ich brauche etwas zu trinken.
Die Küche ist aufgeräumt. In einer Ecke steht der alte Backofen, den uns damals meine Schwiegermutter überließ. Ich berühre das schwarze Blech und weiß gar nicht, wieso ich das tue. Das Licht flackert langsam auf, bescheint den Raum, aber gibt ihm nicht das Leben, das er früher beherbergt hat. Für einen Moment sehe ich, wie wir hier Weihnachtsplätzchen backten, wie Jonathan und ich uns beim Verzieren abwechselten. Danach schwanke ich zum Kühlschrank. Auf der Schranktür sehe ich ein paar Bilder. Wir drei sind eine tolle Familie, denke ich kurz. Und wie glücklich wir aussehen. Unter den Bildern ist auch ein Blatt Papier, das Jonathan eines Tages mit nach Hause gebracht hatte. Drauf ist eine mit Wachsmalstiften gemalte Familie zu sehen. Vermutlich jeder Junge bringt irgendwann einmal so ein selbstgemaltes Bild mit, aber dennoch empfinde ich dieses Eine als etwas unglaublich Besonderes.
Ich öffne den Kühlschrank und suche wahllos in den Getränken. Meine Hand findet den Apfelsaft, den Jonathan immer so gerne trinkt. Schon alleine deswegen mag ich den Saft auch und gieße mir etwas in ein Glas. Aber der salzige Geschmack in meinem Mund will einfach nicht verschwinden. Er ist immer da. Es ist fast so, als würde er zu meinem Leben dazugehören. Ich schlucke wieder den Speichel herunter. Wie gerne würde ich ihn in das Spülbecken spucken, doch würde es nichts nutzen. Der Geschmack kommt immer wieder.
“Papa, wo bleibst du denn? Das Licht ist jetzt schon weg, du hast es verpasst!”
“Tut mir leid, Jonathan”, sage ich und trinke noch einen tiefen Schluck. Ich schließe meine Augen und nehme ihn bei der Hand. Sein Händedruck ist weich, fast gar nicht zu spüren.
“Aber lass uns noch was nach draußen gehen, danach musst du auch ins Bett!”
“Okay.”
Draußen ist es immer noch angenehm warm. Zwischen den kleinen Pflanzen hat jeder seinen eigenen Stuhl. Seiner ist ein kleiner Holzstuhl ohne Lehne, ich habe ein altes Plastikding, das noch aus meiner Studentenzeit übrig geblieben ist.
Ich schaue Jonathan an und habe das Gefühl, mich selber zu sehen. Er ist mir so ähnlich und das nicht nur äußerlich. Ich muss nur in seine Augen sehen und habe das Gefühl, ein kleines Ebenbild zu erblicken und irgendwie macht mich diese Tatsache traurig. Er wird es in seinem Leben schwer haben. Er wird nie viele Freunde haben, er wird lange einsam sein müssen, bis er irgendwann ein Heim findet.
Wenn er mich braucht, werde ich immer da sein. Das habe ich mir schon lange geschworen.
“Du, sag mal, Papa!”
“Ja?”
“Äh...”
Jonathan blickt etwas verlegen zu Boden. Ich kann sehen, wie er unruhig atmet und irgendwohin in die Dunkelheit blickt.
Meine Hand beginnt zu zittern, ich spüre nichts, wirklich nichts, als diesen salzigen Geschmack in meinem Mund.
“Sieh nur, Jonathan. Da oben ist wieder ein Licht!”, sage ich schnell und zeige mit meinem Finger in die Höhe.
“Wo?”, kreischt er fast und hat seine Gedanken hoffentlich vergessen.
“Dort!”, sage ich und zeige wieder nach oben.
Unten kann ich zwei Fußgänger sehen, die sich unterhaltend einen Weg durch den Park bahnen. Ich nehme noch einen tiefen Schluck aus meinem Glas, stelle es dann auf den Boden und beobachte meinen Sohn, wie er mit seinem Zeigefinger dem Licht folgt.
Wahllos verschiebe ich ein paar Pflanzen, bis ich mich wieder zu Jonathan setze. Er scheint müde, seine Augen sind nur noch halb geöffnet. Mit meiner Hand streiche ihm durch seine Haare und kämme sie ihm aus dem Gesicht.
Jetzt sieht er mich an und ich weiß ganz genau, dass es keinen Ausweg mehr gibt.
“Papa?”
“Ja?”
“Wieso kann Mama eigentlich nicht mitfliegen?”
Ich schlucke und spüre diesen Salzberg, der sich in meinem Rachen aufzulösen scheint.
“Jonathan, Mama lebt nicht mehr. Sie ist mit einem der Lichter da oben weggeflogen.”
Er nickt und scheint es zu verstehen. Aber ich darf mir nichts vormachen, er wird es nie richtig verstehen. Nicht mal ich habe es verstanden, all die vielen schlaflosen Tage der letzten Woche. Ich habe es nicht verstanden, als man mir am Telefon von dem Autounfall berichtete und auch nicht, als ich zur Beerdigung ging. Ich verstehe es nicht einmal, wenn ich es hier meinem Sohn sage.
“Komm her!”
Er steht langsam auf und ich nehme ihn in die Arme. Ich kann sein kleines Herz tapfer schlagen spüren. Ich kann seine Tränen fühlen, wie sie auf meine Hand tropfen. Seine Haare kitzeln mir über das Gesicht. Ich weiß, dass ich ihn über alles liebe.
Der salzige Geschmack in meinem Mund ist aber verflogen, wie ein Licht, das im Sternenhimmel kurz erscheint und dann wieder weg ist, als wäre es nie da gewesen.
Marburg, 16.2.2005