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"Sternennacht"
Dédicacé à Ranjana
Je te peux pas oublier.
JTM!
10.November 2005
Elazul riss die Augen auf. Nach dem ersten Blinzeln versuchte er sofort die
grünleuchtenden Phosphorziffern seines Radioweckers zu enträtseln. Wie spät? 18 Uhr? Über seinen Augen lag ein tiefer Schleiernebel. Es dürstete ihn. Diese Nacht würde sich nicht von den Vorherigen unterscheiden. “Métro-Boulot-Dodo” - fast wie bei den Menschen. Nur dass dies nicht sein Tagesablauf war, sondern sein durchtriebenes Nachtleben beschrieb, in dem er der Menschheit dabei half mit ihrem Leben leichter “fertig zu werden”. Dies war seine, für ihn doch so überlebenswichtige, “boulot”. Seine Aufgabe, seine Bestimmung, sein Naturell. Die Métro benutzte er übrigens so gut wie nie und “Dodo” begann für ihn immer mit dem ersten Sonnenstrahl, der die französische Hauptstadt traf.
Mögen sich doch die Homo Sapiens ewig über ihr monotones Tagesprogramm mokieren, dachte Elazul. Er jedenfalls versuchte nicht mehr einen Sinn für sein noch ewigeres “Dasein” zu finden. Das hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben...
Stattdessen raffte er seinen, durch Blutabstinenz geschwächten, alten, aber äusserlich noch blutjungen, Körper aus seinem Bett, torkelte zum Fenster, schob die Vorhänge mit einem Ruck zur Seite und warf einen Blick auf das kilometerweit entfernte, aber weil in warmes Licht getaucht., gut erkennbare Sacré-Coeur. Dann, mit einer dem menschlichen Auge kaum nachvollziehbaren, rasanten Bewegung riss er das Fenster vollends auf und war dabei, einfach hinauszuspringen und sich in den gähnenden Abgrund zu stürzen! Mitten in der Bewegung hielt er plötzlich inne.
Was war, dachte er, wenn er seine Kräfte nur dieses eine Mal falsch eingeschätzt hätte?
Was war, wenn ihn seine sonst so kräftigen schwarzen Flügel nur dieses eine Mal nicht tragen würden und er acht Stockwerke tief in die Pariser Dunkelheit stürzen und auf dem Trottoir landen würde? Die Gefahr wäre zumindest vorhanden, verrieten ihm sein knurrender Magen und die trockene Kehle.
Es war weniger die Angst vor dem Aufprall, als die Sorge vor dem Leichenhaus, in das man ihn nach dem Auffinden zweifellos hinbringen würde, die Elazul nun dazu bewog, besser doch wie jeder andere normale Mieter, die Treppe zu nehmen. “Einmal im Leichenhaus, kommt man nur schwer wieder hinaus!” Rief er sich ins Gedächtnis und stürmte aus dem Zimmer ins hell erleuchtete Treppenhaus. Der plötzliche Lichtschock traf ihn so unerwartet hart, dass es ihn, kaum aus der Tür getreten, sofort wieder ruckartig zurück ins Zimmer warf. Elazul taumelte. Seine schwarzen Pupillen weiteten sich. Keine Zeit für Flüche, keine Zeit für Rücksichtnahme! Rotes, Klebriges musste her! Unterwegs, im 3. Stock traf er auf den Conscièrge des Hauses, der ihm aber keine Beachtung schenkte. Entweder, weil er zu sehr damit beschäftigt war den neuen karminroten Teppich im Treppenhaus zu verlegen oder weil er ihn schlicht nicht sehen konnte.
Im Erdgeschoss angekommen, stiess Elazul die verglaste Tür aus Akazienholz, die zum Treppenhausvorraum führte, von sich und betrat den stuckverzierten, schwach beleuchteten Raum, der ihn noch vom winterlichen Paris des 21. Jahrhunderts trennte. Seine getrübten Augen spähten durch die schwarzlackierten Verzierungen des riesigen Eingangsportals nach draussen, auf die Strasse, ins Freie, in sein Revier. Auf dem Trottoir lag eine zentimeterdicke Schicht von zartem, weissen Pulverschnee. Asche in weiss. Die wenigen Menschen auf den Strassen gingen gebeugt, viele von ihnen mit tief in den Wintermantel gezogenem Gesicht. Elazul wusste nicht warum. Es scherrte ihn auch nicht. Während sich sein Blick noch weiter auf die Avenue des Acacias richtete, tastete sich seine linke Hand gewohnt an der linken Mosaikverzierten Wand entlang und versuchte den “Porte”-Schalter zu erwischen, der sich direkt unter der , in dunklen Grau- und Rottönen gehaltenen, Wandmalerei, die den Titel “Bluthochzeit” trug, befand und die Tür öffnen würde. Statt des Türknopfes bekam er jedoch unglücklicherweise den ähnlichförmigen “Lumière”-Schalter zu fassen, der sich für Elazul gänzlich unglücklich direkt unter dem Türöffner befand und augenblicklich den seperaten Stromkreis schloss, der den pompösen Kronleuchter, hoch oben an der Decke des Raumes mit Energie versorgte.
Was folgte, war ein markerschüttender Wutschrei, der im gesamten Treppenhaus widerhallte und sogar dem alten Conscièrge kurz von der Arbeit abhielt. Der kurze, unmittelbar darauf folgende, Moment der nahezu perfekten Stille im Haus wurde sogleich abgelöst von dem monotonen, resignierenden Summen des Porte-Schalters, der die Türfreigabe bestätigte, nachdem Elazul zornig mit seiner Faust auf den Knopf eingeschlagen hatte. Zwei oder drei Mal, bis ihm die bleiche Haut, die seinen rechten Handknöchel schützte, aufriss und die ersten Fetzen lose herunterhingen. Es war ihm, wie sovieles, das ihm in seinem Dasein widerfuhr, egal. Er konnte nichts spühren, sein Gesicht war bleich und zornig. Was zählte jetzt eigentlich und was nicht nicht? Tief ein -und ausatmend sog er nun die Pariser Abendluft ein und setzte sich in Bewegung. Sein langer schwarzer Mantel flatterte im wütenden, allesbeherrschenden, eisigen Wind, der jedem Pariser sofort die Empfehlung aussprach, besser wieder umzudrehen, sollte er es wagen auch nur einen Fuss auf die Strasse setzen. Elazul verfügte über die ihm gegebene Immunität und so nahm er die Witterung gar nicht wahr. Der Wind kapitulierte.
Er lief die Avenue hoch. Vorbei an den uralten, nackten, Akazienbäumen, auf deren dürren Zweigen sich die Asche häufte, vorbei an den ewig grauen, tristen Wohnhäusern.
Die Strassen waren wie leergefegt an diesem ewigen Abend. Die Megametropole erweckte denn Eindruck, als wäre sie ausgestorben. Was war nur los? Er war alleine, das war nicht gut! Was er brauchte war eine Frau und zwar möglichst schnell, hatte er doch einen solchen Durst! Sein Verlangen brachte ihn fast um den Verstand. Der Himmel war mit einer dichten Wolkendecke überzogen die, vom Eiffelturm und dem übrigen Stadtlicht angestrahlt, einen höchst eigenartigen Farbton erhielt. Sterne waren kaum zu sehen, die Nacht ein wenig verschleiert. Elazuls Weg führte ihn am Arc de Triomphe vorbei unter dessem Bogen das Staatskonterfei traurig und vom Winde zerissen hin- und herflatterte. Bleu-Blanc-Rouge. Reifen quietschten, irgendwo gab es einen sehr lauten Knall - Elazul schenkte ihm keine Beachtung. Was er suchte, war möglichst lebendige, wenn noch möglicher, weibliche Beute und keine Verkehrstoten, deren Blut bereits kalt war.
Auf der Rue de la Tour, kurz vor Passy wurde er schliesslich fündig.
Ein junges Pärchen, zumindest augenscheinlich, das vor ihm in einigen Metern Entfernung, an der Seine, Händchenhaltend entlanglief. Elazul konnte beobachten, wie die junge Frau ihren Kopf an die Schulter ihres Begleiters lehnte. Sie überquerten die Rue, wechselten auf die rechte Strassenseite, verliessen das Ufer. Elazul hielt sich in sicherer Entfernung versteckt und versuchte zunächst etwas über die physische Beschaffenheit ihrer männlichen Begleitung in Erfahrung zu bringen. Er schien wenig muskulös und käme es zu einem Kampf, würde Elazul, kräftig gebaut wie er war, zweifellos als Sieger hervorgehen. Ein dunkles Lächeln huschte über seine Lippen. Das Pärchen machte nun vor einem grossen Portal halt. Sie umarmten sich. Für einen kurzen Moment konnte er in das Gesicht ihres Begleiters schauen. Er konnte nicht viel erkennen. Nur, dass seine Augen ein wenig verengt waren. Wahrscheinlich asiatischer Abstammung, dachte Elazul. Es fing an zu regnen, das Paar trennte sich. Er hörte einen Namen: Anja. Der junge Mann beschleunigte seine Schritte und lief zur Metrostation hoch. Unterwegs spannte er einen gelben Regenschirm auf. Er hatte Elazul nicht gesehen, hatte ihn nicht wahrgenommen, hatte nicht gespührt, in welcher Gefahr sich Anja befand. Der Nebel der Nacht hatte ihn bereits verschluckt.
Sie gab den Türcode ein und Elazuls Augen weiteten sich. Es war fast schon zu leicht. Nach der fünften Ziffer entriegelte sich das Portal. Er liess zunächst einige Sekunden verstreichen, rannte dann hinterher und fing die Tür geräuschlos, mit seinen Samtpfoten auf, ehe sie ins Schloss fallen konnte. Sie war schon dabei die Treppen hochzulaufen, als er den kleinen und schlichtgehaltenen Vorraum betrat, auf dessen schmutziger Wand noch ein Bild gemalt worden war. Elazul verhaarte kurz, sein Blick fiel auf die bedrohlich wirkende, dunkle Zypresse und auf den aufgewühlten Nachthimmel hinter ihr. “Sternennacht” stand unter dem Bild. Als er keine Schritte mehr hörte, rannte er los. Er schien die Treppen geradezu hinaufzufliegen. Im fünften Stock fand er sie wieder. Sie war gerade dabei den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Elazul stand hinter ihr, sie hatte ihn noch nicht bemerkt. Ganz behutsam, wie ein Raubtier, schlich er sich an sie herran. Als sie seinen Atem in ihrem Nacken spühren konnte, drehte sie sich um, ganz langsam -und erstarrte.
Sie begann heftig zu zittern und wollte schreien, doch der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken und wollte nicht heraus.
Elazul musterte sie. Sie war sehr zierlich und klein. Eine wunderschöne junge Frau, mit langen braunen Haaren, die sich sanft auf ihren hellgrünen Wintermantel legten.
Ihre grünen Augen blickten ihn panisch an.
“ Monsieur, s’il vous plaît. ” Brachte sie stammelnd hervor.
“ Qu’est-ce que vous voulez? “
Elazul konnte sie nicht verstehen. Er sprach ihre Sprache nicht und es scherrte ihn einen Dreck, was sie ihm zu sagen versuchte. Er wusste was er wollte.
“ Veuillez-vous me laisser tranquille...? “
“ S’il vous plaît !!”
Elazul griff so rasch nach ihrem Gesicht, dass sie nicht einmal die Chance erhalten sollte sich zu wehren. Mit einer sicheren Bewegung drehte er ihren Kopf um und riss ihr den Hals auf. Er nahm ihren Duft auf, sie roch so gut. Seine rasiermesserscharfen Zähne gruben sich nun tiefer hinein und durchbissen ihre Halsschlagader. Sie gab noch ein leises, kaum hörbares, letztes Stöhnen von sich, dann rauschte dem Vampir ihr heisses Blut in den Rachen. Es floss in Strömen und nahm kein Ende. Elazul fühlte, wie er an Kraft gewann, stärker und stärker wurde. Gleichzeitig erschlaffte ihr Körper, ihre eleganten Beine gaben nach, sie sackte zusammen. Der Vampir fing sie auf und hielt sie fest.
Als sein Durst schliesslich gestillt war, liess er sie los, leckte sich noch einmal über die Lippen, kostete noch ein letztes Mal ihren süssen Lebenssaft.
Dann, ganz vorsichtig und behutsam, liess er sie los. Sie glitt hinunter und zog dabei mit der klaffenden Wunde ihres Halses eine purpurrote, klebrige Blutspur an der weissen Wand hinter ihr, nach sich.
Nun lag sie zusammengesunken auf dem hellroten Teppich ihres Treppenhauses, die Beine leicht von sich gestreckt, den Oberkörper leicht nach vorne geneigt, der Kopf lag leblos auf ihrer Brust. Der verantwortliche Vampir stand vor seinem Opfer und starrte es dunkel an. Noch immer trat ihr frisches Blut aus der Wunde und tropfte auf ihren grünen Mantel, der sich nun begann rot zu färben. Wenn man sie finden würde und das Blut getrocknet war, dachte der Vampir, würde er schwarz als Farbe angenommen haben.
10.November 2005
Um 3:20 Uhr morgens, in der französischen Hauptstadt, im 17. Arrondissement, in einem Wohnhaus, im 8. Stock, riss Elias die Augen auf und starrte auf seinen Radiowecker.
Mit einem Mal überkam ihm ein schreckliches Gefühl der Einsamkeit. War sie etwa schon weg? Unglaubliche Panik machte sich in ihm breit, er schwitzte. Dann drehte er sich auf die linke seite und sah sie: Jana. Sie lag immer noch mit ihrem Kopf auf seinem rechten Arm und schlief. Er atmete tief durch und strich ihr sanft durch ihr zusammengebundenes braunes Haar.
Sie hatten sich letzte Nacht bei ihm gestritten und sie hatte die letzte Metro verpasst. Also schliefen sie nun zusammen und bekleidet in seinem Bett. Elias verdammte sich nochmal selbst für seine dämliche Ungeduld, bevor er die Augen schloss und wieder einschlief.
Am nächsten Morgen um halb sieben würde sie aufstehen, ihre Sachen packen und ihn alleine lassen. Sie würde die erste Metro nehmen, die sie sicher und zuverlässig nach Hause bringen würde. Sie würden sich nie wieder sehen. Er hatte sie verloren und sie ihn wohl auch...
(c) 2005, Francois Delacroix
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