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Still Blue.
[Die Wolken ziehen so schnell, dass das Bild verschwommen wäre, würde man sie fotografieren.]
Das Zerplatzen der Kohlensäure-Bläschen an der Wasseroberfläche war das einzige Geräusch, das sie hörte. Die Küche war von kaltblauem Licht erfüllt. Sie hob das Glas und auf dem dunklen Holztisch blieb ein Wasserrand zurück. Mit ihren Fingern folgte sie den Konturen des Kreises bis sie sich verliefen und kein Kreis mehr zu erkennen war. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, die Arme. Sie fröstelte.
Es war so still in ihrer Wohnung, dass ihr davon kalt wurde.
Als sie aufstand, pendelte ihre Halskette ein bisschen, sodass sie spürte, wie kalt auch das Silber des Medaillons war, das daran hing. Sie schloss eine Hand um das Medaillon und spürte das Pochen ihres Herzens in den darum geschlungenen Fingern. Leben. Ha. Ein Lächeln huschte wie ein Schatten über ihr Gesicht.
Aufstehen. Arbeiten. Schlafen. Aufstehen. Arbeiten. Schlafen. Leben. Ha.
Seit Monaten schon beschränkte sie ihre zwischenmenschlichen Kontakte auf ein Telefonat pro Woche mit ihrer Mutter. Tom und Moritz kamen noch ab und zu vorbei. Jedoch nie gleichzeitig. Natürlich. Sie fühlte sich den beiden gegenüber zu nichts verpflichtet. Sie war selbst anfangs erstaunt gewesen über die Kälte, die sie plötzlich ausstrahlte. Ob die beiden eigentlich mit ihrer Rolle als relativ regelmäßiger Bettbesuch zufrieden waren? Sie hatte sich noch nie zuvor diese Frage gestellt.
Und sie wollte auch jetzt nicht darüber nachdenken. Was ging das sie an? Sie war ihnen nichts schuldig. Nichts.
Ihre nackten Schritte auf den abgewetzten Dielenbrettern waren kaum zu hören. Langsam ging sie um den Küchentisch herum und ließ in der Spüle heißes Wasser über ihre Hände laufen. Dieser Schmerz, der sich in jeden Finger brennt, wenn die Kälte plötzlich hinausgeschwemmt wird, faszinierte sie schon als kleines Kind. Damals hatte sie aus dem heißen Händewaschen ein Ritual gemacht. Immer nach dem Schneemannbauen oder Schlittenfahren oder Schneeburgerrichten hatte sie ihre tropfenden Winterstiefel von den Kinderfüßen geschüttelt und war ins Bad gelaufen, um die Kälte aus ihren Händen zu spülen.
Der Wasserhahn tropfte noch ein paar Mal trotzig, nachdem sie ihn zugedreht hatte. Die nassen, rot-heißen Hände ließ sie neben ihrem dünnen Körper baumeln. Tom oder Moritz, wer von beiden würde heute kommen? Es gab eine Abmachung, aber sie vergaß sie von Mal zu Mal. Es war egal, sie würde schon sehen, wer dann vor ihrer Tür stand.
Mittlerweile war das Blau aus ihrer Küche verschwunden. Sie auch. Der Spiegel im Badezimmer zeigte ihr ein Bild von einer Person, die wohl sie selbst sein sollte. Das dunkle Haar hing in gewellten Strähnen in ihr Gesicht. Die Augen: Dunkelgrüne Glasperlen ohne Glanz. Das weiße Kleid umgab ihren kantigen Körper wie Nebel. Nebel, den sie leid war. Sie streifte das Kleid ab, ging in ihr Schlafzimmer und zog den dunkelblauen Rock, den man so oft an ihr sah, und ein dunkelblaues Shirt an. Hinaus, sie würde hinaus gehen. Wohin war egal. Nur hinaus. Hinaus. Die zerschlissenen Stiefel an den Füßen, den Schlüssel für die schwere Haustür in der Hand, verließ sie ihre Wohnung.
Es war Abend geworden, endlich. Grelles Straßenlaternenweiß hatte das Sonnenlicht abgelöst, das den ganzen Tag ihre Wohnung erwärmt und gelb getüncht hatte. Sie hörte ihre gleichmäßigen Schritte, fast war es ihr, als würde sie jeden Schritt schon hören, bevor sie ihn machte. In ihrer Hand hielt sie den Schlüssel, die Finger darum geschlossen. Da spürte sie das Medaillon auf ihrem Dekolletee und wie sehr es in ihrem Herzen stach, wenn sie daran dachte, dass es keinen Menschen gab, dessen Bild sie in ihm bei sich tragen konnte.