Stille
Es war an einem kalten, verregneten Morgen, ein schwerer Nebel, der auf den Feldern ruhte, hinterließ einen melancholischen Nachgeschmack, als sie schon seit Stunden durch die modrige Landschaft wanderten. Wohin sie eigentlich wollte, hatte sie längst vergessen, ohne auf nur einen Gedanken an das Vergangene oder das Kommende zu verschwenden, setzt sie einen Fuß vor den anderen. Ihr Kopf war gesenkt, zerzauste Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und verdeckten ihre tiefschwarzen Augen. Ihre Silhouette schien schwach durch den nebligen Dunst. Ein paar letzte Sterne standen tief am Firmament. Nicht weit von ihr entfernt tat sich ein kleines Waldstück auf. Ein kalter Windhauch streifte sie, so dass sie ihre notdürftig übergeworfene Jacke enger um sich zog. Trotz ihrer eingeschränkten Sicht, wich sie den Bäumen, die ihr den Weg versperrten, geschickt aus, um mit strammen Schritten auf die Anhöhe zu gelangen. Wenn man mit den Augen an ihren zerbrechlich wirkenden Armen herunter wanderte, kamen sie, durch die hochgekrempelte Jacke aufgedeckten, Narben zum Vorschein, die ihren Unterarm verzierten. Bei genauen hinsehen konnte man Muster in den teils noch blutigen Narben erkennen. Nie war sie mit ihrem Schicksal zurecht gekommen, nie hatte sie mit jemanden über ihre Gedanken und Ängste reden können, alles hatte sie tief in sich begraben. Aus einer frisch geöffneten Narbe lief ein kleiner Rinnsal Blut ihren Finger entlang und tropfte geräuschlos auf den laubbedeckten Boden. Mittlerweilen war sie aus den Wald auf den Hügel gelangt und stand nun so hoch, dass sie über die gesamte Umgebung blicken konnte. Langsam verschwand der Neben und ein schwaches Morgengrauen tauchte alles in ein sanftes Rot. Dann breitete sie ihre Arme aus, ihr Sweatshirt hing ihr teilweise in Fetzen herunter. Ihre zarten Hände, die blasse Haut und der schwarze Stoff gaben sich starken Gegensätzen hin. Bedacht hob sie ihren Kopf und blickte nun mit glasigen Augen in die blutrote Sonne. Ein erneuter Windhauch strich ihr die letzten Haarstränen aus dem Gesicht und spielten mit ihnen in der Luft. Stille, nichts als Stille umgab sie. Dann durchbrach ein greller, schmerzverzerrter Schrei das Morgengrauen, er hallte über die Felder und schreckte einige Vögel, die zuvor noch in den Bäumen geruht hatten, auf, doch ihre panischen Flügelschläge waren kaum wahrzunehmen. Der Schrei stammte von dem jungen Mädchen. Ohne einen sichtlichen Grund hatte sie ihre Seele geöffnet und ihre Ängste, ihre Schmerzen hinaus in die Welt hinausgelassen. Ein Schrei so voller Inbrunst und Verzweiflung, dass es einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dann verstummte das Mädchen.
Es stand immer noch an der selben Stelle, auf dem kleinen Hügel, mit dem selben glasigen Ausdruck in den Augen. Doch nun ragten aus ihrem Rücken zwei engelsgleiche tiefschwarze Flügel. Einige Federn hatten sich gelöst und wurde vom Wind, schon fast tänzerisch wirkend, davon getragen. Als wären die Engelsflügel die sie nun schmückten, etwas ganz Alltägliches, senkte sie ihren Kopf wieder. Nun erhob sie sich, nichts zeugte mehr von den Schmerzen die sie noch vor Sekunden durchlebt hatte, sie erhob sie in die Luft, der blutroten Sonne entgegen.
Von weitem vernahm man noch eine Weile, das gleichmäßige Geräusch leiser Flügelschläge... dann war wieder Stille... nichts als Stille...